Als ob sie träumend gingen
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Als ob sie träumend gingen

Roman

  1. 208 Seiten
  2. German
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Als ob sie träumend gingen

Roman

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Über dieses Buch

Auf der Hotlist der besten Bücher aus unabhängigen Verlagen 2017!Ein sprachmächtiger Roman, der uns einen Menschen näherbringt, und zugleich ein Jahrhundert in seinen Wirrungen, Irrtümern und großen Sehnsüchten.Ein Tag im Leben, der länger dauert, als die Monate und Jahre, die ihm folgen. Ein Augenblick von Ewigkeit, an dem das Leben stillzustehen scheint. Etwas Großes, das sich der Erinnerung verschließt – war's ein Wintertag? Oder war's im Mai?Es war Krieg.Der Held des Romans tastet sich an seine Erinnerungen heran, indem er sie wie besessen auf Band spricht. Erst als er im Sterben liegt, dämmert ihm, was an jenem Tag wirklich geschah. Wie einen Traum bewahren, wie überhaupt fortbestehen in einer Trümmerwelt, in der die Abwesenden anwesender sind als die Greifbaren und in der die Lüge mehr Ordnung schafft als die Wahrheit? Und: Ist es wirklich seine Geschichte – oder die des Erzählers, der mit den ererbten Kassetten wenig anzufangen weiß und nichts vom Krieg wissen will, sondern vom Leben und Lieben?In eigenwilligen Bildern erzählt Anna Baar – vor der Kulisse einer versunkenen Welt – vom Irren zwischen der Sorge um sich selbst und der Rücksicht auf andere, von Mutproben, Heldentum und menschlichem Versagen, von Gehorsam und Widerstehen. Es ist die Geschichte einer verpassten Liebe – voller erfundener Wahrheiten, menschlicher Abgründe und eigenwilliger Bilder. Ein großer Gesang auf das Leben.

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Information

Jahr
2017
ISBN
9783835341685
IV
Maliks Traum

Als wär’s ein Fest

Einmal, an einem Sonntag, blieb Klee vor der Kirche stehen, um den Leuten ins Gewissen zu reden. Kein guter Christ sehe tatenlos zu, wie man den lieben Boden tritt, an dem sich die Mütter und Väter rastlos geschunden haben. Das Land, rief er, gehöre nur Gott und dem, der es bestellt. Da ging ein Murmeln durchs Gewühl, und es schnatterten die Frauen, und es brummten die Männer, und keiner, der gleichgültig blieb. Da trat der Pfaffe auf einmal hinzu und mahnte Klee zur Besinnung. Doch gab es für den kein Bedenken mehr, nicht immer wählt, wer sich lange besinnt, letzten Endes das Beste. Ein paar Junge zögerten nicht und stellten sich gleich zu ihm. Und einer heizte den anderen an, und alle fühlten sich eins.
Bald luden die Jungen zu einem Fest und luden auch die Besatzer ein, wie um sich zu versöhnen. Sie tischten auf, was aufzutreiben war, und gossen verschwenderisch ein und klopften dem Feind auf die Schulter und gaben sich freundlich und gut.
Der Tag war sorgfältig gewählt. Von weitem sah man auf den umliegenden Schären die Maifeuer brennen. Die Landbesetzer taten, als bemerkten sie es nicht. Erst als von der Kirchturmspitze jenes rote Fähnlein hing und die Mädchen an den langen Tischen flüsterten und die Burschen einander schnelle Blicke zuwarfen, wurden sie blass und nervös. Zwei von ihnen sprangen auf und jagten gleich zur Kirche. Mit Mühe, unter dem Gekicher der Mädchen, bargen sie die Fahne. Dann kehrten sie mit einem wieder, der es nicht gewesen sein konnte. Frater Leo, das wussten alle, war nicht schwindelfrei. Weil sich aber kein anderer fand, dem man auf die Schnelle die Schuld in die Schuhe schieben konnte, musste er zur Abschreckung büßen. Die Hände auf dem Rücken banden sie ihn an einem Poller fest und steckten das rote Tuch in Brand, und die Funken schnellten in den Nachthimmel, und die Ausgelassenheit stockte zur Betretenheit. Klee wollte aufspringen, doch hielt ihn Malik am Ärmel, den Plan nicht zu durchkreuzen. Da bezwang sich Klee und machte gute Miene, auch als die Besatzer die Mädchen mit ihren Blicken verzehrten, sie tätschelten und umschlangen, und da, im Augenwinkel, der Ring aus Mittelfinger und Daumen, darin der Finger der anderen Hand, die unverhohlene Ankündigung, alle Döschen und Schmuckkästchen zu brechen, früher oder später sie zu knacken, sie mit ihrem Schmutz zu füllen, dass sie Schmutz gebären. Manches Mädchen, vom Wein berauscht, schäkerte, poussierte oder schmiegte sich an. Doch eine saß aufrecht und nippte am Glas und ließ sich durch nichts beirren. Nie hatte Klee sie bisher bemerkt, sie, die leibhafte Madonna. Über die, so dachte er, habe der Teufel keine Gewalt, und lange sah er zu ihr hin, und auf einmal jenes Wort, das ihm zwar geläufig war, aber nicht Erkenntnis. Frau ging es ihm jetzt durch den Kopf, und so zum ersten Mal, Frau! Laut wollte er es rufen, stattdessen wurde er still. Die Tischnachbarn bemerkten es. Wie die lachten und ihn neckten, stand auf einmal Lily vor ihm und kippte ihm wortlos den Wein übers Hemd, und schnell war er wieder bei sich. Kurz war es still. Dann aber ein Mordsgelächter, die Rache der Verschmähten, denn mancher, der sich um Lilys Gunst beworben hatte, machte längst einen Bogen um sie, Schwächlinge, denen das Knacken einer besonders harten Nuss nicht gelingen wollte. Sie grölten und lachten immer noch, als Lily in der Menge verschwand, und plötzlich löste sich ein Schuss, und die Straße leerte sich jäh.
Klee und Malik blieben zurück und lösten den Frater vom Poller. Gemeinsam warteten sie, bis Angst und Finsternis auch den letzten Landbesetzer von der Straße vertrieben hatten. Dann, auf ein stummes Zeichen, liefen sie zum Schulhaus, wo sie die Waffen der Landbesetzer wussten. Halb trunken vom Wein, halb trunken vor Wut brachen sie die Tür auf. Im Innern standen zwei große Truhen, darin, was sie erhofften. Klee gab Malik ein Gewehr, Nimm, jetzt sind wir Helden! Jeder nahm die Arme voll, dann schlichen sie zur Kirche. Frater Leo öffnete das Schloss. Knieweich stiegen sie die wackeligen Holzstufen zur Sakristei empor. Dort, in einer Kiste, versteckten sie die Gewehre. Fremd war es Klee, ein Dieb zu sein, so blieb er fest im Glauben, kein Unrecht getan zu haben. Also trat er nun vor Gott: Wir haben’s auch nicht leicht.
*
In den folgenden Tagen taten die Landbesetzer, als wäre nichts geschehen. Als der Jahrestag der Landnahme bevorstand, trugen sie den Dörflern auf, alle Häuser festlich zu schmücken, und verteilten ihre Fahnen. Da ging ein Gerede von einem zum anderen, an jenem Tag nicht auszugehen und die Fenster statt mit den fremden Fahnen mit roten Tüchern zu behängen. Klee gab der Mutter den Auftrag, ihn früher als sonst zu wecken, damit er, während alles schlief, die Häuserwände beschreibe. Die Mutter aber brachte es nicht übers Herz, den Schlafenden zu stören. So machte sie sich selbst zurecht, nahm Pinsel und Farbe und ging los, schrieb Freiheit dem Volk! auf manche Wand, schrieb es mit zitternder Hand. Als die Landbesetzer Stunden später in festlicher Montur durch die Straßen zogen, war kein Dorfbewohner anzutreffen, und nur die roten Zünglein zuckten fröhlich im Wind.
Am nächsten Morgen holten sie sechzehn Dörfler zum Verhör. Der einäugigen Manda drückte einer die Zigarette an der Stirn aus, weil sie nichts andres zu sagen wusste als Manda, schönes Kind. Dabei soll sie sich wie vom Teufel besessen bewegt und immer wieder ihr Kleid hochgerafft haben. Den alten Darovan schlugen sie, dass ihm der letzte Zahn ausfiel, denn er war aus Rebholz geschnitzt, längst so stumm wie ein Scheit. Lily sah man mit blutenden Händen aus dem Wachposten treten. Nur die Fischersfrau ließen sie unversehrt, mancher ahnte den Grund.
Von da an roch es nach Leichen. Die Landbesetzer schwangen Reden, drohten, die Aufmüpfigen hinzurichten und den Ort zu vernichten. Mit der Verzweiflung wuchs der Mut. Immer mehr junge Männer zerrissen die Einberufungsbefehle der mit den Besatzern kollaborierenden Armee und schlossen sich Klee und den Seinen an. Andere wussten sich keinen Ausweg, erhängten sich oder gingen ins Meer, und einer saß vor dem Kirchentor und schoss und sank vornüber.
Der Pfaffe rief von der Kanzel, Klee wiegle die Jungen und Dummen auf, treibe jede Woche eine neue Sau durchs Dorf, mache alles nur schlimmer. Einige stimmten dem Pfaffen zu. Zwar lag der Trotz einem jeden im Blut, doch schien der Gehorsam eine Tugend, die man sich in Zeiten der Ohnmacht tröstlich überziehen konnte. So mahnten sie die Jungen zur Beherrschung. Wollt ihr schuldig werden? Die Glut eures Herzens zu unseren Lasten stillen? Gebt endlich die Waffen zurück! Auch der Pfaffe forderte, das Schicksal mit Demut zu tragen und die Ausschreitungen des rachsüchtigen Geistes zu meiden, denn niemals sei ein Übel mit einem noch größeren Übel vergolten und einzig habe ein Mann die Pflicht, das Haus zu erhalten, das Feld zu besorgen, das Geschäft der Väter fortzuführen. Was aber wusste der alte Pfaff von den Träumen der Jungen, denen das Unrecht ans Innerste rührte und die noch biegsamen Knochen krümmte. Das Gute siegte nicht von allein.
An einem dieser Tage sah Klee die unbekannte Frau am Marktstand des Turek um einen Kohlkopf feilschen. Als er sich zu ihr stellte und prüfend den Kohl beschaute, fragte sie, wie es denn komme, dass ein Bauernsohn wie er Grünfutter zukaufen müsse. Der Turek aber knurrte Mach, dass du fortkommst, Klee! Die kriegen euch noch alle.
Klee?, wiederholte die Frau. Und du? Er war jetzt der Mann.
Es folgte die übliche Fragerei, wie sie an jedem Anfang steht. Klee hätte die Frau mit allen Namen gern gehabt. So hieß sie eben Ida. Ida, die aus Daleko kam, die Dorfkinder zu unterrichten. Erheblich war: Sie war die Frau. Und er schämte sich dafür, und Ida sah ihm lange nach und verwunderte sich vielleicht, dass einer ohne Abschiedswort sich mir nichts, dir nichts entfernte.
Als Klee zum Haus des Doktors kam, erwog er, wie gewöhnlich auszuspucken, tat es aber diesmal nicht. Lily würde ihn nicht erhören, das schien auf einmal besiegelt. Die andere aber wär ein Versehen, allenfalls ein Ersatz! Er wollte nur noch schnell dahin, wohin die Verzweiflung ihn trieb. Und keine würde um ihn trauern als die arme Mutter.

Auf!

An einem Frühlingsmorgen machte sich Klee mit den Seinen auf, und keiner sonst wusste, wohin. Lily aber blieb nicht still, ihm auf die Spur zu kommen. Zufällig hatte sie von ihrem Fenster aus beobachtet, wie er sich vorm Haus besann, nicht wie gewöhnlich auszuspucken und sie zu verbittern. Als Versöhnungszeichen nahm sie es, nach den Zeiten des Zwists. Weil der Kurier nicht redete, verfolgte sie ihn heimlich. Wild entschlossen war sie, ihr wacher Geist voll Übermut, nur das Bein dem Eifer hinderlich. Wie sie strauchelte und stürzte und am Ende liegen blieb! Und wie Klee sie huckepack forttrug, so schnell, dass die anderen Läufer im Nu eingeholt waren. Und wie sie aus dem Traum schrak und endlich einsah, dass sie dem Freund nicht beistehen konnte, ihn durch ihre Gegenwart nur gefährden würde! Traurig trat sie den Heimweg an, machte immer wieder Halt und richtete die niedergetrampelten Gräser auf, dass keine Spur sie verrate.
Fünf Wochen zogen ins Land, ohne dass neben Gewohntem irgendwas Großes geschah. Dann aber, am Fronleichnamstag, sah Klee vom hohen Versteckplatz aus zwei Lastwagen, riesige Staubwolken aufwirbelnd, auf das Dorf zu fahren. Durch den Feldstecher konnte er Menschen auf den Ladeflächen erkennen. Mindestens vierzig mussten es sein. Er hörte ihr Singen und Grölen, leise vermengt mit dem Rauschen des Winds, dem Zirpen, Summen, Rascheln der von winzigen Wesen belebten Wildnis. Ein Tönen in kräftigen Farben war das! Und da, irgendwo in der Tiefe, das Blöken von Schafen, abgelauscht von den Felsen ringsum, die sich die Stimmen der Lebenden borgten, wie Spötter ihre Stummheit zu durchbrechen. Ein wenig schwindlig war ihm da, und wieder dachte er Frau, mit Leib und Seele dachte er es und wie es den Männern natürlich war. Er dachte auch an die Mittagsfrau, die, nicht dass er es selbst gesehen hätte, an den heißen Tagen auf dem Feld erschien und jedem, den sie antraf, den Geist verwirrte und die Glieder lähmte. Ihre Plätze waren an den geknickten Gräsern zu erkennen, die zu betreten als gefährlich galt. Wie gut aber jetzt die Erzählung, die früher furchteinflößende, und gut mit einem Mal auch das Land, das seine darbenden Kinder Hoffnung und Tapferkeit lehrte. Und welcher Unterschied in der Heranbildung der Eigenschaften, ob einer in Dürre und Mangel reifte oder an einem Fleck von fetter Erde und üppiger Frucht, besoffen von der Milch des Lebens, am Ende aber verweichlicht und ohne Widerstandskraft. Nur wer den Durst kennt, atmet frei. Da, auf den Feldern des Vaters, in den Weingärten und Ölwäldern, hat er das Alleinsein gelernt, das mehr ein Gespräch war mit sich selbst, ein schwärmerischer Monolog, nie eine Einsamkeit. Komm, Langeweile – hohes Gut! Substanz und Traum zur gleichen Zeit. Und wo war die Hitze geräuschvoll wie hier? Der Glutgesang der Insekten, schon den Ahnen fest ins Trommelfell gewachsen, hatte die Wirkung, den Verstand zu lichten und einen zur selben Zeit in einen traumhaften Dämmer zu versetzen, ganz an den Saum des Bewusstseins zu rücken, dass man sich manches einbilden konnte ohne jeden Verdacht. Bald hatte eine Knospe ein Mädchengesicht, bald war der Ölbaumast ein Frauenbein, und der Boden dampfte den Schweiß der Faune und Druden, und der Feind stahl den Schatten aus dem schönen Hain, in den die Hirten hochmittags die Schafe und Ziegen entließen. Groß sind die Bäume gewachsen und groß ist ihr Ertrag! Von seiner Warte aus konnte Klee das ganze Dorf sehen, friedlich vor ihm ausgestreut. Und friedlich auch der Hof. Er blickte hinunter auf das anmutige, aus rohem Stein gemauerte Anwesen, und dann ein Anflug von Übermut, die Seinigen endlich wiederzusehen, und wieder Frau, und Ungeduld, und nichts mehr, das ihn hielt. Gut so, dachte Klee, als er den Hügel hinabstieg. Gut so, rief er schließlich aus, mit der Welt vereinigt wie nie.
Malik und Leo, die ihm gefolgt waren, holten ihn beim Hoftor ein. Als sie in die Küche traten, wies der Vater ihnen die Tür. Verschwindet, schnell, sie kommen euch holen! Sie kommen uns alle holen! Die Mutter aber, weinend, drückte Klee einen Laib Brot in die Hand und drängte ihn zu Besinnung. Er riss sich aus ihrer Umarmung und ging, die Freunde im Geleit.
Rasch fanden sie ein Versteck. Da warteten sie eine Weile, um zu prüfen, ob die Luft rein sei. Kinder kamen vorbei. Auch drei Landbesetzer. Einer von ihnen trat vor ein Kind, pflückte einen unreifen Apfel, biss hinein, spuckte gleich aus und warf die angebissene Frucht grinsend vor die Füße des Kinds, dass es den Apfel nehme, doch wie es ihn schnell an sich nahm, sah der Besatzer es drohend an, und es warf ihn weit von sich, hungrig und beschämt. Klee, der alles mitangesehen hatte, vergaß sich und stürmte aus dem Versteck. Zwei Kugeln pfiffen – Schreie unbekannter Vögel. Klee lag leicht verletzt, der Apfeldieb im Sterben. Die feindlichen Kämpfer nahmen Reißaus. Leo sah Malik ehrfürchtig an, warm war der Lauf des Gewehrs.

Tage des Zorns

Bald jährte sich der Tag, an dem vorzeiten der Hügel über dem Dorf im höchsten Sommer schneebedeckt lag. Am Vorabend des Wunders soll die Heilige Jungfrau einem Kaufmann erschienen sein, um ihm die Geburt eines Sohnes zu versprechen, wenn er da, wo anderntags Schnee liege, eine Kapelle errichten lasse.
Wie jedes Jahr wurde die kindsgroße hölzerne Madonna mit Blumen und Muscheln geschmückt auf einer Sänfte durchs Dorf getragen. Die Vorhut des Festzugs trug mannshohe Kreuze, und die Träger keuchten und schwitzten, während die Frauen, Kinder und Alten aus Leibeskräften beteten. Später, in der Kirche, ging ein Murmeln durch die Reihen, Herr, wir haben Durst. Wir haben nichts. Und Herr, ich habe gesündigt in Gedanken, Worten und Taten, und die Gottesfürchtigen schlugen sich dreimal die Faust an die Brust, und Ich habe den Nachbarn verdächtigt, ein Verräter zu sein, und meinem Nächsten etwas in die Schuhe geschoben, Härteres als Erbsen, und manche sahen einander aus den Augenwinkeln an, ob nicht einer unter ihnen sei, der Hagel, Blitz und Sturm auslösen könnte oder wieder die Dürre.
Die einäugige Manda aber, die am Ende der Kirchenbank saß, änderte plötzlich ihren Blick. Stumpf begann sie zu starren, warf ihr liebes Püppchen zu Boden, warf sich auf alle viere. So lief sie dann auf Händen und Knien miauend zwischen den Reihen herum und wirbelte und kratzte an Röcken und Hosenbeinen. Herrschte sie einer deswegen an, knurrte sie und fauchte. Und als ihr eines der Kinder ein geknülltes Papier zuwarf, spielt sie damit nach Katzenart, rollt es hin und her. Ratlos sah man das Treiben, und die Beter beeilten sich, ihr Amen zu hauchen, und reichten sich die Hände und setzten ihr freundlichstes Gesicht auf, um selbst dem bösen Blick zu entgehen, und lächelten auch zur Empore hin, wo Lily an der Orgel saß. Gott, mach uns nicht länger dürsten! Wir bitten dich, erhöre uns! Und mancher mochte schon zweifeln, ob Gott überhaupt ein Gehör besaß, und rief nur umso lauter Wir bitten dich, erhöre uns!
Lily glaubte längst nicht mehr, nicht dem Gekreuzigten, nicht Eloah, mochten die anderen ihren geheiligten Krempel unter Baldachin, Gebet und Gesang durch die Gassen tragen und das bekreuzigte Wasser, das doch kein Kräutlein mehr tränkte, in alle Windrichtungen versprengen. Mach die Felder fruchtbar und halte die Rebstöcke gesund! Wir bitten dich, erhöre uns! Sie konnte keinen verehren, der es zugelassen hatte, dass man ihr die Fingernägel ausriss, einen nach dem anderen. Gib uns die Kraft, die Knechtschaft durchzustehen und unseren Feinden zu vergeben! Wir bitten dich, erhöre uns! Nicht allmächtig noch gut konnte einer sein, der tatenlos zusah, wo nicht einmal der grausamste Mensch tatenlos geblieben wäre. Mach uns nicht länger hungern, nicht Tiere noch Kinder sterben! Wir bitten dich, erhöre uns! Lily sah, wie das Blut aus ihren Nagelbetten trat und zwischen die Tasten der Orgel sickerte. Vielleicht war Gott nur ein Stümper. So könnte sie ihm immerhin verzeihen. Gib den Männern Kraft, die Nöte zu bezwingen, dass sie nicht wieder von uns gehen, nach Tasmanien, Australien und dahin, wo der Pfeffer wächst … Denn die Männer fehlen uns, fehlen uns wie Seife.
Wie die Frommen so beteten, lautstark und entrückt, flog auf einmal die Kirchentür auf, und eilig trat ein Besatzer ein und flüsterte einem der Seinen was zu. Die Nachricht ging von Mund zu Mund, die Flüsterpost, das Kinderspiel. Der Letzte in der Reihe sprach es laut: Wieder sind Waffen gestohlen! Die Dörfler senkten sofort den Blick und beteten störrisch weiter. Die Landbesetzer aber brachen aus den Reihen und liefen auf den Dorfplatz hinaus, und bald vernahm man ein Feuergefecht, dann, plötzlich, war es still. Die Tiere im Stall, die Hunde in den Höfen, die Raben auf dem Feld, die Fliegen an den Wänden waren augenblicks erstarrt, selbst der Wind legte sich, und alle Wellen standen wie gefroren, und Manda, zwischen den Bänken, hielt im Spiel endlich ein.
Nur Malik rührte sich noch. Zitternd lag er im Staub. Klee, der neben ihm kniete, zerriss ihm das blutige Hemd. Zwei Landbesetzer kamen dazu. Den Blick abwechselnd auf den Verwundeten und himmelwärts gerichtet, fest im Glauben, dass die Seele aus dem Körper eines Sterbenden in Gestalt eines Schattenvogels entweicht. Mamma mia!, rief einer aus, und bat Klee um Vergebung. Der aber hob den Bruder auf, um ihn zum Hof zu bringen.
Leicht war Malik, fas...

Inhaltsverzeichnis

  1. Umschlag
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Klee war ein Freund
  6. I Südlicher Fisch
  7. II Lilys großer Tag
  8. III Schattenspieler, nachts
  9. IV Maliks Traum
  10. V Ein Augenblick von Ewigkeit
  11. VI Die Abwesenden
  12. VII Neue Kinder
  13. VIII Gesternschnee