Das Lied ist aus
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Ein jüdisches Schicksal in Dresden

  1. 117 Seiten
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Ein jüdisches Schicksal in Dresden

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Inhaltsverzeichnis
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Über dieses Buch

Mit dem Deportationsbefehl in der Hand: eine jüdische Überlebensgeschichte aus dem zerbombten Dresden.Am 16. Februar 1945 sollte die damals 21-jährige Henny Brenner gemeinsam mit den anderen noch in Dresden lebenden Juden deportiert werden, doch die Luftangriffe auf Dresden vom 13. bis zum 15. Februar und das anschließende Chaos retteten ihr Leben.Als Tochter einer jüdischen Mutter und eines protestantischen Vaters hatte Henny Brenner bis dahin zwar im Vergleich zu ihren – im Sinne der Nürnberger Gesetze als »Volljuden« geltenden – Glaubensgenossen einen gewissen Schutz genossen. Doch Ausgrenzung, Schulverweis, Zwangsarbeitseinsatz und die permanente Angst vor Schlimmerem prägten das Leben des Mädchens bzw. der jungen Frau. Schließlich kam der Deportationsbefehl der Gestapo. Ausgerechnet das Bombeninferno auf Dresden rettete ihr Leben – wenn auch nicht unmittelbar, denn auch nach der völligen Zerstörung der Stadt versuchte die Gestapo, die letzten überlebenden Juden aufzuspüren.

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Mit Judenstern für die deutsche Rüstung

Im Juli 1941 wurde ich in Dresden zur Zwangsarbeit verpflichtet und kam zu Zeiss-Ikon ins Goehle-Werk. Wir wohnten sieben Kilometer von der Fabrik entfernt, und ich durfte anfangs noch mit der Straßenbahn fahren, allerdings nicht in der Bahn, sondern draußen, auf dem Perron stehend. Bei Zeiss-Ikon gab es eine sogenannte Judenabteilung mit ungefähr dreihundert Leuten. Außer mir waren dort viele weitere Jugendliche, man nannte uns den »Kindergarten«, eine Bezeichnung, die ich viel später in den Tagebüchern von Victor Klemperer wiederfand. Klemperer schrieb über uns am 3. Mai 1942: »Bei Zeiss-Ikon gibt es einen ›Kindergarten‹ in der Judenabteilung. Arbeiten, die von ganz jungen Augen mit der Lupe gemacht werden müssen. Dort arbeiten Mädchen von 15 und 16 Jahren. Der Jugendlichenschutz für Juden ist ausdrücklich aufgehoben. Man ließ diese Kinder in der letzten Woche derart in Tag- und Nachtschicht arbeiten, daß auf 48 Stunden 24 Arbeitsstunden kamen; man zahlt ihnen für die Stunde 27 Pfennige.«
Unser Meister war ein feiner Mensch, der überhaupt keine Notiz davon nahm, daß wir Juden waren. Wir arbeiteten im Akkord und stellten Zeitzünder und Uhrwerke für U-Boote her. Diese Arbeit erforderte hohe Konzentration, Fingerfertigkeit und gutes Augenmaß. Meine Augen haben unter dieser feinmechanischen Arbeit sehr gelitten, da wir täglich stundenlang ohne Pause bei künstlichem Licht mit Lupe und Pinzette arbeiten mußten. Zur gleichen Zeit wie wir kam auch eine Schicht von nichtjüdischen Arbeitern, mit denen wir aber keinen Kontakt haben durften. Schon auf der Treppe war ein Gitter angebracht, um jeglichen Kontakt zu unterbinden. Wir nannten das damals: Menschen hinter Gittern.
Auch in diesen schrecklichen Jahren ging das Leben für uns weiter. Wie jedes sechzehn-, siebzehnjährige Mädchen begann ich mich für Jungen zu interessieren, und manche Jungen begannen mir nachzusehen. Da waren die Brüder Heinz und Walter Zonenstein. Heinz war mit meiner Freundin Eva Wechselmann befreundet, Walter war beschäftigt bei Gleisbauarbeiten, wo viele Männer von uns arbeiten mußten, vor allem die Akademiker. Man erzählte sich, daß die Arbeit dort besonders lange dauerte, weil einer den anderen fragte: »Darf ich die Schaufel nehmen, Herr Doktor?« – »Ja, bitte schön, Herr Professor.« Walter war damals vielleicht achtzehn Jahre alt, Pickel im Gesicht, feuchte Hände und sehr schüchtern. Ich wollte nichts von ihm wissen, aber er war hinter mir her. Ein gemeinsamer Bekannter erzählte mir dann später, daß er ihm Tips gab, wie er sich mir nähern sollte. Walter war aber zu schüchtern und hatte wohl noch nie in seinem Leben einem Mädchen einen Kuß gegeben. Dazu sollte er leider auch keine Gelegenheit mehr erhalten. Er kam bei einer der ersten Deportationen mit seinem Bruder weg. Der Vater war staatenlos und schon vorher nach Belgien geflüchtet. Die nichtjüdische Mutter blieb alleine zurück.
Wir wußten alle genau, daß unsere Überlebenschancen je nach Konstellation der Herkunft der Eltern gravierend unterschiedlich waren. Heinz und Walter waren nicht nur deshalb ungeschützt, weil »nur« ihre Mutter »arisch« war, sondern weil sie selbst keinen deutschen Paß hatten. Sie hatten sogar gar keinen Paß, waren staatenlos. Ich hatte dagegen das Glück, einen »arischen« Vater zu haben. Dagegen war ich gegenüber jenen »Mischlingen« benachteiligt, die zwar eine jüdische Mutter hatten, aber nichtjüdisch erzogen worden waren und daher keinen Stern tragen mußten. Meine Mutter begann, sich Schuldvorwürfe zu machen, denn es war ja ihr Wunsch gewesen, mich jüdisch erziehen zu lassen. »Vielleicht wäre es doch anders besser gewesen«, sagte sie mit Blick auf die Freundinnen, die keinen Stern tragen mußten. Jeder Fall in meinem Freundeskreis war anders. Eine Freundin, deren Vater jüdisch war, wurde von ihrer nichtjüdischen Mutter nach der Flucht des Vaters aus Deutschland von der jüdischen Gemeinde abgemeldet. Das hat gar nichts genützt, den Stern mußte sie trotzdem tragen und zusammen mit mir Zwangsarbeit verrichten.
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Das ehemalige Goehle-Werk, in dem ich Zwangs­arbeit leistete
Der entscheidende Einschnitt überhaupt in der Nazizeit war für uns der 19. September 1941. Seit diesem Tag waren wir öffentlich gebrandmarkt; wir durften nur noch mit Judenstern auf die Straße gehen. Was dies bedeutete, wird wohl keiner der Juden vergessen, die damals noch in Deutschland lebten. Wir konnten es nicht fassen, selbst nach all dem, was schon passiert war. Jeder bekam also diesen sechszackigen, gelben Stern, den man fest an das jeweilige Kleidungsstück annähen mußte, das man gerade trug. War es warm und man hatte ihn auf dem Mantel, konnte man den Mantel nicht ausziehen; war es kalt und man hatte ihn auf dem Kleid, konnte man den Mantel nicht mehr darüberziehen.
Es war wie ein Spießrutenlauf. Meine Mutter wollte zuerst gar nicht das Haus verlassen. Denn es war schlimm, mit dem Stern auf die Straße zu gehen. Bisher konnten wir uns ja sozusagen inkognito bewegen. Nun aber waren wir gezeichnet. Viele Leute wußten, zumindest anfänglich, gar nicht, was da wieder für ein neues Gesetz herausgekommen war. Sie schauten mich an und fragten, was das denn zu bedeuten habe. Die Leute in unserer Straße guckten blöd, selbst im Haus tuschelte man, da gar nicht alle wußten, daß wir Juden waren. Ab April konnte man dies aber nicht nur an unserer Kleidung sehen, sondern auch an der Wohnungstür: Auch hier prangte nun ein Judenstern. Wir waren meines Wissens die einzige Familie in Dresden, deren Haushaltungsvorstand kein Jude war, der dennoch sein Kind jüdisch erzog und somit auch einen Judenstern an der Tür anbringen mußte.
Wer den Stern nicht trug oder ihn verdeckte, kam ins KZ oder wurde sofort umgebracht. Es gab viele, die ihn nicht tragen wollten oder es zumindest versuchten. Ich weiß das von einem Dresdner Arbeitskollegen. Er ging mit dem Stern zur Arbeit, hielt aber die Aktentasche darüber. Eine schwarze Limousine fuhr vorbei, der bekannte Gestapowagen, und er wurde hineingezerrt. Gesehen hat man ihn danach nie wieder. Die haben ihn nicht einmal ins KZ gebracht, sondern gleich ermordet. Für das Verdecken des Sterns. Ein paar Tage später haben sie seine Frau auf die Gestapo bestellt und gefragt: »Was, du trägst noch nicht Witwenkleidung?« Sie hatte gedacht, ihr Mann sei nur arretiert. Das waren die Methoden der Gestapo.
Ich habe den Stern niemals verdeckt. Ganz im Gegenteil – ich habe ihn immer mit Stolz getragen. Dabei hatte ich auch einige Erlebnisse. Viele Leute haben gefragt: »Wie kommt denn die dazu, mit ihren blonden Haaren und blauen Augen?« Besonders schlimm wurde es, als wir nicht mehr mit der Straßenbahn fahren durften. Zuerst stellte man uns noch eine gelb angestrichene Straßenbahn zur Verfügung, die die jüdischen Zwangsarbeiter von einem zentral gelegenen Platz ins Goehle-Werk brachte. Sie fuhr frühmorgens um halb sechs los. An der gleichen Haltestelle warteten auch andere Arbeiter auf ihre Straßenbahn, manche waren noch ganz verschlafen und wollten in unsere Bahn einsteigen. Da rief der Fahrer: »Raus, das ist die Judenbahn!« Darüber haben sie sich aufgeregt: »Was, eine eigene Bahn haben die Juden auch noch und unsere kommt nicht.« Während wir einstiegen, beschimpften und bedrohten sie uns, als ob wir uns eine eigene Bahn bestellt hätten.
Es gab jeden Morgen ähnliche Szenen: »Heute haben sie den oder jenen abgeholt« oder »heute hat sich das Ehepaar soundso mit Tabletten vergiftet« oder »einen haben sie geschnappt, wie er über die Grenze wollte«. Jeden Tag hörten wir also neue Hiobsbotschaften auf dem Weg zur Arbeit.
Im März 1942 kam ein neues Gesetz heraus: Juden durften überhaupt nicht mehr mit der Bahn fahren, sofern sie nicht mehr als sieben Kilometer von der Arbeit entfernt lebten. Wir wohnten genau sieben Kilometer weg und durften daher die Straßenbahn nicht mehr benutzen. Ich fuhr also mit dem Rad zur Arbeit. Allerdings hatte ich ein altes klappriges Rad, bei dem die Bremsen nicht mehr richtig funktionierten und die Räder schon angeschlagen waren. Ich war immer froh, wenn ich heil am Ziel ankam. Einmal jedoch geriet ich auf der Carolabrücke in die Straßenbahnschienen, konnte das wackelige Fahrrad nicht halten und stürzte. Ganz benommen lag ich auf dem Boden.
Neben mir stand ein junger Offizier, der mir aufstehen half. Als er den Judenstern sah, hat er nur den Kopf geschüttelt. Ich merkte, daß es ihm sehr leid tat, was mit uns geschah. Er riet mir, mein Knie zu verbinden. Wenn jemand gesehen hätte, daß er mir behilflich war, wäre es ihm sicherlich schlecht ergangen. Am nächsten Tag mußte ich mich krankschreiben lassen. Das tat ich nicht gern, denn wer längere Zeit krank war, kam ins KZ. Zwei Tage später habe ich das Rad ausgebessert und bin wieder in die Fabrik gefahren. Daß dieses Erlebnis keineswegs die Regel war, erfuhr ich wenig später, als ich nochmals mit dem Rad verunglückte und mir ein junger Mann half. Nun hatte ich genau das umgekehrte Erlebnis. Er sah mich blutend neben meinem Fahrrad, half mir anfänglich auf, als er jedoch den Stern sah, ließ er mich fallen wie eine heiße Kartoffel und machte sich davon wie vor einer Aussätzigen.
Dann aber hieß es: Alle Fahrräder von Juden müssen abgegeben werden. Nun mußte ich die sieben Kilometer lange Strecke zu Fuß zurücklegen. Die Schicht begann um sechs Uhr, ich mußte um vier Uhr aufstehen und um halb fünf von zu Hause losgehen. Wir hatten weder richtige Kleidung noch richtige Schuhe, oft kamen wir völlig durchnäßt in der Fabrik an. Manchmal hatte ich regelrecht vereiste Wimpern nach sieben Kilometern Fußmarsch in der Früh um fünf. Aber das alles war nicht so schlimm, solange es finster war. Schlimmer war der Rückweg. Es war hell, und alle, die den Stern trugen, haben das gefürchtet. Manche Leute haben uns angepöbelt oder angespuckt. Oft liefen mir Kinder hinterher und riefen: »Judenschwein, Judenschwein, runter vom Gehsteig!« Ich habe aber auch erlebt, daß Menschen gesagt haben: »Kopf hoch, durchhalten!« Ich nehme an, das waren selbst Widerständler. Es waren nicht viele, die uns aufmunterten, aber es waren auch nicht viele, die uns anpöbelten. Die Allermeisten haben einfach weggesehen, haben sich überhaupt nicht um uns gekümmert. Sie waren nicht so gemein, wie die, die uns angepöbelt haben, sondern einfach feige. Vielleicht haben sie sich im stillen gedacht, »ach, wie schrecklich«, haben aber nicht den Mut gehabt, es zu sagen. Geholfen haben sie uns nicht.
Ich bin immer hinten herum gegangen, durch kleinere Gassen. In einer solchen Straße schaute oft eine junge Frau aus dem Fenster. Ich hatte mich schon daran gewöhnt, als sie eines Tages nicht mehr am Fenster zu sehen war, sondern auf der Straße scharf an mir vorbeiging. Ich bekam Angst, denn das bedeutete oft nichts Gutes. Auf einmal steckte sie mir einen Zettel in die Manteltasche, ohne sich umzudrehen oder ein Wort zu sagen. Wir gingen beide weiter, als ob nichts geschehen wäre. Als ich um die Ecke war, sah ich nach und entdeckte, daß es Lebensmittelkarten für Wurst und Fleisch waren. In Zukunft bin ich immer einen anderen Weg zur Arbeit gelaufen, um die junge Frau nicht in Gefahr zu bringen. Es hätte nämlich böse Folgen für uns beide gehabt, wenn es herausgekommen wäre. Das Gesicht habe ich mir jedoch gemerkt und sie nach Kriegsende gesucht. Ihr Haus war ausgebombt. Ich fand sie zufällig wieder als Sekretärin im Vorzimmer des damaligen Ministerpräsidenten von Sachsen, Dr. Friedrich.
Wir bekamen zwar auch Lebensmittelkarten, aber die waren entwertet. Schräg über den Karten stand in roten Buchstaben über den meisten Lebensmitteln der Vermerk: Jude. Hierfür gab es eine spezielle Maschine, die in Leipzig stand und nur Lebensmittelkarten von Juden in Sachsen entwertete. Den Nazis waren keine Mühen und kein Verwaltungsaufwand zu viel. Mit den entwerteten Lebensmittelkarten bekamen wir nur sehr wenige Lebensmittel, wie zum Beispiel dunkles Mehl. Als einziger von uns erhielt mein Vater normale Lebensmittelkarten, aber die reichten natürlich nicht für drei. Er gab dann manchmal alle drei Karten zusammen ab, mit seiner obenauf, und der Bäcker oder die Fleischersfrau, die natürlich genau wußten, daß die anderen entwertet waren, schnitten sie so ab, als handelte es sich um ganz normale Karten. Das durfte natürlich niemand bemerken. Auch mir ist es manchmal passiert, daß ich der Bäckerin meine Lebensmittelkarten für schwarzes Mehl gab, und ich zu Hause entdeckte, daß sie mir hinter dem Ladentisch herrliches weißes Mehl und Brötchen eingepackt hatte. Solche Dinge konnte ja niemand beobachten. Dies war die Hilfe, oder wenn man will, der Widerstand im alltäglichen Leben, der niemanden etwas kostete und der für uns so wichtig war. Leider haben wir diese Solidarität nur sehr selten erfahren. Die Bäckersfrau habe ich übrigens nach dem Krieg noch gesucht, konnte sie aber nicht finden, da auch ihr Geschäft ausgebombt war.
Über Bekannte, die auf dem Lande, in der Nähe von Graupa, einen großen Bauernhof hatten, konnte mein Vater uns mit dem Nötigsten versorgen. Von ihnen kaufte er Eier und Butter. Manchmal wurden die Eier auf dem holprigen Weg über Hosterwitz und Pillnitz im Fahrrad zu Rühreiern. Oder die Erdbeeren zu Marmelade. Sehr beliebt waren Maiskörner, was ja eigentlich Schweinefutter war. Meine Mutter hat sie gemahlen und Brötchen daraus gebacken. Große Freude herrschte, als er eines Tages Kaffeebohnen ergatterte. Die waren jedoch noch grün und mußten erst geröstet werden. Wir nahmen dafür einen einfachen Tiegel. Nun roch es aber im ganzen Haus nach Kaffee, und unsere Nachbarn hätten uns dafür anzeigen können. Sie waren aber anständig und ließen uns in Ruhe. Sie taten nichts Gutes und nichts Böses, ließen uns einfach in Ruhe, wofür wir schon sehr dankbar waren. Natürlich konnte mein Vater nicht oft solche Lebensmitteleinkäufe machen, denn es war ja Krieg und auf »Hamstern« stand die Todesstrafe. Hätten sie meinen Vater erwischt, wären wir sofort deportiert worden. Wir wußten, daß wir nur am Leben blieben, wenn meinem Vater nichts passierte. Und die Gestapo tat alles, um uns zu trennen. Starb der nichtjüdische Ehepartner oder ließ er sich scheiden, so waren eben auch der jüdische Partner und die Kinder verloren. Ab 1940 wurden meine Eltern immer öfter zur Gestapo bestellt. Die Gestapomänner beschimpften und beleidigten meinen Vater, weil er ein jüdisches Mädchen geheiratet hatte, obwohl es doch genug »arische« gäbe. Meine Mutter pöbelten sie an und warfen ihr Betrug vor; das Kino, das uns früher gehört hatte, sei ergaunert gewesen. Sie mußte sich für zwei Stunden in eine Ecke stellen und bespucken lassen. Einige der Nazis dort waren stadtbekannt: der Weser, das war der »Spucker«, und der Clemens, das war der »Schläger«. Das Schlimme war, daß man vorher nie wußte, ob man wieder herauskam.
Auch ich wurde einmal zur Gestapo bestellt, das war im Januar 1945. Die Aufforderung hatte ich bereits vor den Weihnachtsfeiertagen bekommen. Die Fabrik war geschlossen, wir wollten die Tage zu Hause ausruhen. Mein Vater hatte von seinen ländlichen Freunden eine Gans bekommen. Wie dieser schreckliche Brief zu mir gelangte, weiß ich heute nicht mehr. Ich weiß nur, daß meine Mutter zusammenbrach und schrie, sie werden sie dort behalten. Mein Vater packte die Gans und warf sie auf den Balkon, wo sie in der Kälte zu einem Stein gefror. Als es soweit war, begleitete mich mein Vater auf dem Fußweg frühmorgens durch die Kälte und verabschiedete sich mit den Worten: »Wenn du in einer halben Stunde nicht wieder draußen bist, komme ich rein und drehe denen den Hals um.« Natürlich wußten wir beide, daß das nur eine Phrase war. Aber er wollte uns ein bißchen Mut machen. Der Pförtner brüllte mich gleich an: »SARA Wolf, dort hinauf!« Ich öffnete zuerst eine falsche Zimmertüre – und erschrak. Darin war ein Eisenbett, und ich malte mir schon aus, daß sie mich auf so einem Gestell die Nacht über behalten würden. Die eigentliche Befragung war dann weniger schlimm als die Angst davor. Es waren vier oder fünf Männer im Zimmer, zigarrerauchend, in Clubsesseln. Sie fragten mich Dinge, die sie ohnehin schon wußten, ob die Ehe meiner Eltern eine Mischehe sei oder nicht, warum ich den Stern trüge und ähnliche Fragen. Alles reine Schikane. Ich werde nie vergessen, wie ich aus dem Gebäude kam und meinen Vater draußen stehen sah. Er war in der Stunde, die ich bei der Gestapo verbracht hatte, um Jahre gealtert, überzeugt, sie würden mich gleich dort behalten.
Wir liefen den weiten Weg zurück, so schnell wir konnten. Mein Vater, der ja im Gegensatz zu mir mit der Straßenbahn fahren durfte, stieg unterwegs ein, um schneller bei meiner Mutter zu sein. Sie stand weinend am Fenster und schaute sich die Augen aus. Das Glück, als wir wieder vereint waren, kann ich nicht beschreiben. Als erster kam unser Freund Werner Lang, der ja von der Bestellung zur Gestapo erfahren hatte. Zweimal habe ich ihn weinen gesehen. Damals und nach dem überlebten Bombenangriff. Viele Juden, die eine solche Aufforderung von der Gestapo bekommen hatten, zogen den Freitod vor. Aber eine innere Stimme hatte mir gesagt, ich würde herauskommen.
Nachdem man vergeblich versucht hatte, meine Eltern zu überreden, sich scheiden zu lassen, dachten sich die Nazis etwas anderes Teuflisches aus: Die nichtjüdischen Männer aus Mischehen sollten in die Organisation Todt (OT) eingezogen werden. In dieser Fronteinheit hatte man in der Regel nicht lange zu leben. Die jüdischen Ehefrauen und Kinder wären dann vogelfrei und könnten in ein KZ eingeliefert werden. Denn das Gesetz, wonach Mischehen privilegiert waren, konnten die Nazis nicht ganz beseitigen und versuchten auf diese Weise, ihre Arbeit zu erledigen. Mein Vater wurde allerdings von einem bekannten Dresdner Antifaschisten, seinem alten Freund Dr. Fetscher, vor der OT beschützt. Dr. Fetscher hatte viele jüdische Freunde und mein Vater besuchte ihn oft am Abend in seiner Praxis. Einmal begleitete ich ihn und deckte bei diesem Besuch auf der Straße den Stern zu. Das war gefährlich, aber noch gefährlicher wäre es gewesen, wenn man Juden einen nichtjüdischen Arzt hätte besuchen sehen. Er versorgte uns mit Medikamenten und machte uns, was viel wichtiger war, Mut zum Durchhalten. Bei der Übergabe Dresdens an die...

Inhaltsverzeichnis

  1. Umschlag
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Erinnerungen – ein Vorwort
  6. Vorspiel in der Hölle
  7. Die Mischpoche
  8. Kindheitsimpressionen
  9. Waschtag
  10. Theaterbesuch
  11. Schulwechsel
  12. Ausgegrenzt
  13. Mit Judenstern für die deutsche Rüstung
  14. Zwangsarbeit in der Kartonagenfabrik
  15. Nur ein Angriff kann uns retten
  16. Warten auf das Ende
  17. Befreit – und trotzdem voller Angst
  18. Erneut bedroht
  19. Abermals alles verloren
  20. Ankunft im Westen
  21. Nachwort
  22. Abbildungsnachweise