VII. Erfahrungsräume im Alter
In den folgenden Kapiteln werden verschiedene Lebenssituationen und Erfahrungen, Chancen und Sorgen des Alters behandelt. Am Anfang stehen die Träume.
1. Morpheus und die Träume
Sie sind in uns und haben immer Leben.
Hugo von Hofmannsthal
In jeder Lebensphase sollten wir auf unsere Träume hören. Sie vermitteln uns Wünsche und Einsichten, die wir im taghellen Bewusstein kaum erfahren.
Träume sind Inszenierungen von Wünschen. Sie zeigen symbolisch ein verdrängtes Begehren. Literarische Träume als Fiktionen sind besonders aussagekräftige Exempel für die Traumdeutung.
Am Schluss von Franz Grillparzers dramatischem Märchen »Der Traum ein Leben« (1834) stehen die Verse, die das Verständnis von Träumen nachhaltig beeinflusst haben:
»Doch vergiss es nicht, die Träume,
Sie erschaffen nicht die Wünsche,
Die vorhandnen wecken sie;
Und was jetzt verscheucht der Morgen,
Lag als Keim in dir verborgen.«
Also nicht die Träume erwecken irgendwelche Wünsche, sondern die vorhandenen, aber verdrängten Wünsche lösen das Traumgeschehen aus. Damit hat der Dichter Franz Grillparzer dem großen Traumdeuter Sigmund Freud den Schlüssel für die Entzifferung der Traumwelt geliefert, von Freud auch stets einbekannt. In seinem epochalen Werk »Die Traumdeutung« (1899, mit dem Erscheinungsdatum 1900 – als symbolischem Zeichen einer neuen Zeit) hat Freud den Traum als eine imaginäre »Wunscherfüllung« definiert.
Wunscherfüllung
Ein Bedürfnis, eine Triebregung wird abgewehrt, verdrängt, und setzt sich dann im Traum wieder durch, allerdings verhüllt, verdichtet oder verschoben, kurz: zensiert. Die Traumzensur (sie arbeitet mit Auslassungen, Modifizierungen, Umgruppierungen der Trauminhalte) bewirkt die Entstellung des Traumes; sie ist Folge der »Traumarbeit«. Durch diese entsteht die Differenz von »latentem« und »manifestem« Trauminhalt. Der latente Trauminhalt bezeichnet das eigentliche Wunschobjekt und -ziel, der manifeste die symbolische Verkleidung dieser eigentlichen Bedeutung. Die Analyse hat die Aufgabe, hinter den Verschlüsselungen den eigentlichen, latenten Inhalt, den konkreten Wunsch zu entdecken, der nur ersatzweise und imaginär erfüllt wird. Träume sind also wie Übersetzungen von Wünschen in eine fremde Sprache, aus der die eigentliche Bedeutung durch Rück-Übersetzung gewonnen wird.
Machtträume
In Grillparzers Drama spielt ein Großteil der Handlung in einer Traumwelt. Rustan, der Anti-Held des Stücks, lebt in einer engen, in jeder Hinsicht bescheidenen Welt und möchte daraus ausbrechen, seinen Traum vom eigenen, grandiosen Ich, sein Größen-Selbst, verwirklichen. Dieser Ausbruch ist die eigentliche Traumhandlung des Dramas. Seine imaginäre Lebensbahn führt ihn steil nach oben: Er schwingt sich zum Eroberer eines Königreiches auf, was er aber nur durch Betrug und Gewalt erreicht. Am Ende ist er froh, aus dem Alptraum seiner Machtphantasien zu erwachen. Größe und Ruhm erscheinen ihm jetzt gefährlich und ein leeres Spiel, und er nimmt Vorlieb mit einer patriarchalischen Idylle der Biedermeierwelt:
»Eines nur ist Glück hienieden,
Eins, des Innern stiller Frieden,
Und die schuldbefreite Brust.
Und die Größe ist gefährlich,
Und der Ruhm ein leeres Spiel;
Was er gibt, sind nicht’ge Schatten,
Was er nimmt, es ist so viel.«
Funktionen des Traums
Der Traum hat in Grillparzers Besserungsstück verschiedene Funktionen: Er schildert den Prozess einer Individuation anhand von Symbolbildungen im Traum (im Sinne C. G. Jungs); er ist die Modellsituation eines verdeckten, lange Zeit verdrängten und dann imaginär erfüllten Wunsches (Freud) und sein Dementi; er ist die Vorführung eines Minderwertigkeitskomplexes und seiner versuchten Bewältigung (im Sinne Alfred Adlers), und er ist die psychopathologische Inspektion einer ganzen Epoche: Die Harmlosigkeit des Biedermeiers ist nur eine erträumte. Ödipale Konstellationen, Selbstbestrafungen, narzisstische Exzesse, suizidverdächtige Autoaggressionen, Kastrationskomplexe werden in Rustans Traum ausagiert.
Das Drama Grillparzers hat seinerseits einen wichtigen literarischen Vorgänger: »Das Leben ein Traum« (1634) von Calderón de la Barca. Bei Calderón steht die Traumhandlung im Kontext barocker Staatsphilosophie: Die Hauptfigur muss sich für die Herrschaft bewähren. Das Stück ist ein Bewährungsdrama, in dem der Traum die Probe auf eine gerechte Herrschaft darstellt. Hugo von Hofmannsthal hat im »Turm« (1927) die Konstellation des spanischen Autors aufgegriffen und mit Blick auf den Zusammenbruch der Donaumonarchie und die damalige Kultursituation gestaltet.
Der Schmetterlingstraum
Traumdichtungen und Traumdeutungen gab es zu allen Zeiten und in allen Kulturen. Für die Antike ist beispielsweise das »Traumbuch« von Artemidor von Daldis eine wichtige Quelle. Die wohl bekannteste asiatische Traumfabel (»Der Schmetterlingstraum«) stammt von Tschuang Tse (4. Jhd. v. Chr.):
»Einst träumte mir, Tschuang Tschou, ich sei ein Schmetterling. Ein schwebender Schmetterling, der sich wohl und wunschlos fühlte und nichts wußte von Tschuang Tschou. Plötzlich erwachte ich und merkte, dass ich wieder Tschuang Tschou war. Nun weiss ich nicht, bin ich Tschuang Tschou, dem träumte, ein Schmetterling zu sein, oder bin ich ein Schmetterling, dem träumt, er sei Tschuang Tschou. Und doch ist sicherlich zwischen Tschuang Tschou und dem Schmetterling ein Unterschied, denn gerade diesen nennen wir ja Wandlung der Substanz zu Einzelwesen.«
In diesem Traum geht es um Identität und Identitätsgewissheit: Träume ich oder werde ich geträumt?
Interessanterweise gibt es dazu direkte Anknüpfungsmöglichkeiten an die Philosophie des Rationalismus eines Descartes. Dieser stellte im Rahmen seiner Metaphysik (»Meditationes«) die Frage: Könnte es nicht sein, dass wir alle nur in einem Traum existieren? Weil wir alle den gleichen Traum haben, wird es uns nicht bewusst, dass unser Dasein eine Schimäre ist. Descartes kommt zu dem Schluss, dass der Zweifel und schließlich das Bewusstsein des Zweifels (wenn ich zweifle, kann ich nicht daran zweifeln, dass ich zweifle) die Instanzen sind, die uns Gewissheit verschaffen. Das bekannte »Cogito ergo sum«, ich denke, also bin ich, ist das Resultat der Reflexionen, die bei der Traumvermutung ihren Ausgang genommen haben.
Descartes’ Traum
Ein viel behandeltes Beispiel eines überlieferten Traumes, den auch Freud interpretiert hat, ist der Traum des Philosophen Descartes (nachzulesen in: Sigmund Freud, »Schriften über Träume und Traumdeutungen«, Frankfurt a. M. 1994, S. 183-190). Es handelt sich dabei um ein Traumgeschehen, bei dem Descartes am Scheideweg seines Lebens steht und er sich entscheiden muss für die Zukunft. Im Traum werden ihm durch symbolisch wirkende Bücher die Wege zur Philosophie gewiesen. Der ganze Traum ist in gleicher Weise eine Rekapitulation wie eine Antizipation seiner Biographie. Schuld- und Versagensgefühle überfallen den Träumenden, Erinnerungen an die Schulzeit werden wach, Affekte und Körperreaktionen werden festgehalten, bis die geheimnisvolle Wegweisung durch die Bücher erfolgt. Der Wunsch Descartes’, den Pfad der Philosophie zu nehmen, ist hier zweifelsohne der Vater des (Traum-)Gedankens.
Standardträume
In der »Traumdeutung« hat Freud drei typische Träume, die häufig vorkommen, beschrieben und dazu die literarischen Beispiele herangezogen: den Verlegenheitstraum der Nacktheit, den Traum vom Tod geliebter Personen und den Prüfungstraum.
Die unterschiedlichsten Menschen träumen, dass sie nur halb angezogen oder nackt in einem öffentlichen Raum, meist auf der Straße, stehen, jedoch von den Anderen nicht beachtet werden. Diese Nichtbeachtung verhindert eine Aufregung oder den Skandal. Dieser Exhibitionstraum ist eine Aktualisierung und Reproduktion der Lust, die als Kind bei natürlicher, untabuisierter und ungezwungener Nacktheit erfahren wurde. Da dies bei Erwachsenen mit Sanktionen bedacht wird, werden diesbezügliche Wünsche nur im Traum zugelassen. Dass in diesen Traumszenen die Anderen wie völlig unbeteiligte Dritte und ganz interesselos erscheinen, ist eine listige Entschärfung der Situation durch die Traumzensur.
Das Märchen von des Kaisers neuen Kleidern oder besonders die Szene bei Homer, in der Odysseus nackt und nur mit Schlamm bedeckt vor Nausikaa und ihre Gespielinnen tritt (auch von Gottfried Keller im »Grünen Heinrich« thematisiert), sind literarische Beispiele des Verlegenheitstraums der Nacktheit.
Der Tötungstraum ist Ausdruck der verdrängten, unbewussten Hoffnung, ein Anderer, oft der Bruder oder die Schwester, möge sterben, damit der Träumende wieder im Zentrum steht und alle Liebe auf sich ziehen kann. Tötungsphantasien von Kindern gegenüber Geschwistern spielen nicht mit der Vorstellung einer realen Tötung, sondern mit der Entfernung des Anderen für eine gewisse Zeit. Der Ödipus-Stoff ist hier zu erwähnen, erzählt er doch von der unbewussten Tötung des Vaters als Nebenbuhler und von der Vermählung mit der eigenen Mutter. Eine ähnliche Traumhandlung kann sich auch bei einem Elternteil abspielen, wenn das gemeinsame Kind zum ausschließlichen Liebesobjekt von Mutter oder Vater wird.
Der Prüfungstraum drückt Versagensängste aus, insbesondere auch die Angst vor sexuellem Ungenügen. In Grillparzers Erzählung »Der arme Spielmann« übernehmen beide Formen eine wichtige Rolle: Die Hauptfigur Jakob versagt bei einer Schulprüfung, wobei ihm das lateinische Wort für »Hohngelächter« nicht einfällt. Unter diesem wird er später als Straßenmusikant zu leiden haben. Gegenüber Frauen dominieren bei ihm Insuffizienzgefühle.
Ein klassischer Konflikttraum ist der einer Bewegungshemmung: Man will vor etwas fliehen und kommt nicht von der Stelle – der Konflikt ist noch nicht ausgetragen und macht deshalb bewegungslos. Anders der Traum vom Fliegen und vom Sturz (Ikaros-Mythos): Der eine ist ein Befreiungs- oder orgiastischer Traum, der andere ein Angsttraum vom Verlust oder der Abnahme von Lebens- und sexueller Energie.
Schlaf- und Wachtraum
Träume und das Erwachen, der allmähliche Übergang vom Schlaf in den Wachzustand, weniger das Einschlafen, sind Themen der Weltliteratur: von Shakespeare (»Sommernachtstraum«) bis Strindberg (»Traumspiel«). Das Erwachen ist ein Motiv, das seit Marcel Proust immer wieder Autoren (oft stereotyp) als Romananfang dient.
Hugo von Hofmannsthal (»Terzinen III«) hat das Traumleben in folgenden Bildern ausgedrückt:
Wir sind aus solchem Zeug wie das zu Träumen,
Und Träume schlagen so die Augen auf
Wie kleine Kinder unter Kirschenbäumen,
Aus deren Krone den blaßgoldnen Lauf
Der Vollmond anhebt durch die große Nacht.
… Nicht anders tauchen unsre Träume auf,
Sind da und leben wie ein Kind, das lacht,
Nicht minder groß im Auf- und Niederschweben
Als Vollmond, aus Baumkronen aufgewacht.
Das Innerste ist offen ihrem Weben;
Wie Geisterhände in versperrtem Raum
Sind sie in uns und haben immer Leben.
Und drei sind Eins: ein Mensch, ein Ding, ein Traum.
Hier ist noch besonders an Arthur Schnitzlers »Traumnovelle« (1925) zu erinnern, in der die psychische Funktion des Traumlebens durchaus im Sinne Freuds behandelt wird. Außerdem ist diese Novelle über einen Schlaf- und einen Wachtraum ein Meisterwerk der Seelenanalyse. Neuerdings liegt auch das Traumtagebuch von Schnitzler vor, das er bis ins Todesjahr 1931 geführt hat: eine subtile Einführung in die Traumwelt eines Schriftstellers und zugleich eine starke Anregung, sich mit den eigenen Träumen zu befassen.
Träume gleichen Ahnungen, sind Warnungen, Vorboten, sind wie Orakel, sie lösen Wandlungen aus oder sind geheime Wunschbilder. Sie zu verstehen ist ein Weg zu einem vertieften Selbstverständnis. Dies ist oft ein lebenslanges Ziel.
Die gegenwärtige Traumforschung befasst sich mit den Oneironauten, mit den Traumreisenden, genauer: mit den luziden Träumern, die ihre Träume steuern können und in den nächtlichen Szenen kreative Lösungen für den Alltag vorbereiten. Auch die Frage nach dem Konnex von subjektiven (vorausgegangene Erfahrungen und Erlebnisse) und objektiven (neuronale Prozesse) Momenten wird diskutiert. Im Grunde geht es darum, ob die Freudsche Traumdeutung neuerer Forschung standhält.
Zwei exemplarische Altersträume
Ein Geschäftsmann hat sich bei jedem Karrieresprung ein neues Auto zugelegt; sie stehen alle gesammelt in einer Tiefgarage. Sein bedrängender Traum: Er kommt jetzt im Alter in diese Tiefgarage – und sie ist leer. Für ihn führte der Traum zu der Einsicht, dass seine – durchaus sehr erfolgreiche – Laufbahn vielleicht doch ein Weg in die Irre war und er sich ein anderes Lebensziel stecken sollte. Der Traum wirkt wie eine innere Selbstbelehrung: Es ist der Wunsch nach einem anderen Lebensweg. Dieser Träumer hat seine spätere Lebenszeit dafür verwendet, seine Kompetenzen sozialen Projekten zur Verfügung zu stellen.
Eine Ärztin mit hoher Kompetenz in Altersmedizin spielte bis in die späten Jahre gerne Tennis. Nachts träumte sie, dass sie die Bälle verfehlt, junge Menschen um sie herumstehen und sie auslachen. Zwar kannte sie Alterserscheinungen sehr gut, abe...