Ein unversöhnlich sanftes Ende
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Ein unversöhnlich sanftes Ende

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  1. 148 Seiten
  2. German
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Ein unversöhnlich sanftes Ende

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Über dieses Buch

Piwitt hört sehr genau zu, sieht noch genauer hin und teilt seine präzisen Beobachtungen mit der überraschten, ertappten und amüsierten Leserschaft.Hermann Peter Piwitt hat in seinen Prosaminiaturen viel mehr verarbeitet als die Kürzemancher Texte vermuten lässt: Seine Begegnungen, Beobachtungen und Reflexionen ergeben ein Gesellschaftsbild, das den Einzelnen in den Blick nimmt und zugleich die großen Themen wie Heimat, Zusammenhalt und Verantwortung berücksichtigt. Dabei werden die Protagonisten in wenigen Strichen so lebendig, als wäre man mit Piwitt einen Abend lang durchs "Territorium" gezogen. Eine Berliner Therapeutin, ein Metzger in Harlem, Reisende und Nichtschwimmer erzählen in dieser literarischen Revue von ihren Träumen, Sorgen und Abenteuern. Piwitts Humor bleibt stets liebevoll, bei aller Schärfe nimmt er die Menschen ernst, von denen er virtuos erzählt. Noch in den kleinsten Szenen fängt der Autor ganze Lebensläufe ein, wobei genaue und empathische Beschreibungen und sein feiner Humor Wahrhaftiges wie Groteskes zum Vorschein bringen.

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Information

Jahr
2018
ISBN
9783835342866
DITSCHI. Als Kinder im Krieg spielten wir Schlagball auf einer der Haupt-Ausfallstraßen der Stadt. Ein paarmal am Tag kam ein Auto vorbei; und hin und wieder im Jahr eine Militärkolonne. An einem sonnigen Morgen im Frühjahr fuhr ein junger Mann mit dem Fahrrad durch unser Feld, gefolgt von einer Frau seines Alters. Eben, als einer von den Stockhusens, der sonst nie traf, aufschlug, beugte der Mann sich zurück und rief ihr zu: Ist das, Fräulein Schulz, nicht ein wunderbarer Frühlingsmorgen? In dem Moment traf ihn die harte Lederkugel am Kopf. Er fiel vom Rad. Wir liefen weg. Und sahen aus sicherer Entfernung, wie er sich aufrappelte, das Rad aufhob, anschob und, die herbeieilende Gefährtin mit den Worten besänftigend, dass nichts passiert sei, nicht der Rede wert …!, sich in den Sattel zurückschwang. Seitdem hieß der kleinste Stockhusen »Fräulein Schulz«, und immer wenn er aufschlug, rief alles: Achtung, der Frühlingsmorgen.
An einem Frühjahrsmorgen zwei Jahre später rückte der Feind ein, der Krieg war aus, und am Nachmittag spielten wir Fußball, nicht wie bisher auf der Straße, denn die war inzwischen gesperrt und voll von Panzern und Militärfahrzeugen, sondern auf einer Wiese nebenan. Eines Tages tauchte ein schlaksiger Junge mit einer brillantinegestärkten Schmachtlocke auf der Stirn am Rand des Spielfelds auf. Er stand eine Weile so da in weißen Turnschuhen, die er dann »Badeschuhe« nannte. Und wenn ein Ball ins Aus ging, schnappte er ihn sich mit der Spitze und gab, nein, ditschte ihn ins Feld zurück. So wie das eben einer macht, der einem sagen will: Ich will mitspielen. Wir ließen ihn. Er wirkte weich in seinen Bewegungen und hatte Übergewicht; und doch ging er locker, fast federnd. Und dabei paddelte er über den großen Zeh. Und so spielte er und zog ab. Mit dem Außenrist. In seinen Badeschuhen. Ditschi, wie er dann hieß, zeigte uns den Schalker Kreisel: den Ball nicht direkt zuspielen, sondern in den freien Raum, in den dann der Mitspieler lief. Hepp, rief Ditschi, und: Cheerio!
Wir wählten damals vor jedem Spiel die Mannschaft neu. So, dass jeder mal, auch der Kleinste und Schlechteste, zusammen mit den Besten gewinnen und verlieren konnte. Aber einmal passierte es, dass die einen unerwartet hoch verloren, und die anderen setzten einen Kopfball nach dem anderen ins Tor, das aus zwei Mützen bestand und dem Jüngsten, der es sauberzuhalten hatte, und das war ich. Wir hatten damals den Tick, jedes Wort mit »o« enden zu lassen. Das hörte sich dann so an: Hasto duo eino Knallo? Und so hießen die beiden Mannschaften schnell »Glatzomanno« und »Müdomanno«. Mit den »Müdomanno« blieb ich offenbar zusammen, auch als ich später im Verein spielte. Mit dem Kreisel traten wir gegen die Bauernjungen der umliegenden Dörfer an. Aber sie husteten uns was und droschen uns zusammen.
Aber da spielte Ditschi schon im ersten Club der Stadt. Und natürlich hatte er, wie jeder ordentliche Mensch, einen richtigen Nachnamen. Aber der tat nichts zur Sache und interessierte nur die Zeitungen, in denen er nun jeden Montag stand als der, der an allen vorbei, an dem niemand vorbei. Für das Territorium spielte er viele Male. Und noch immer, wenn die Wochenschau ihn zeigte, wirkte er dabei weich, schlaksig, fast pomadig. Aber machte er dann ernst, tanzte er die Gegner aus, glitt um sie herum, als hätte sich die Brillantine irgendwann wie ein auratischer Film um seinen Körper gelegt.
Tatsächlich war er am Ende der einzige mir bekannte Mensch, der die Redensart beglaubigte, dass jemand wie ein Fragezeichen aussah. Zum Glück hatte er es da schon nicht mehr nötig, nach überhaupt etwas auszusehen. Er war längst Ehrenbürger der Stadt, besaß Mietshäuser und ließ es sich nicht nehmen, hieß es, im Verzugsfall auch mal persönlich zu kassieren. Und die Betroffenen waren so geschmeichelt, dass sie lieber mal auf eine neue Kinderkarre, den dringend notwendigen Wintermantel verzichteten, als einem wie ihm was schuldig zu bleiben.
So war ich auch nicht überrascht, als ich, vor einigen Jahren, in einen Findling am Eingang zu einem kleinen Stück Grün mit Büschen und Bänken im Zentrum des Viertels seinen Namen eingemeißelt fand. Man hatte das Grün zum Park erklärt und, nachdem Ditschi einen Verkehrsunfall nicht überlebt hatte, nach ihm benannt. Seitdem sitze ich oft da. Nicht unbedingt wegen Ditschi, sondern weil es dort an den ersten sonnigen Frühlingstagen wärmer als woanders, weil windstill, ist. Auch sind große Läden gleich in der Nähe und ein Blumenstand mit einer Hutzel, von deren angegrauten Rosen meine Frau, die Blumen liebt, behauptet, schönere und billigere gebe es nirgendwo. Ich sitze da und sehe den Wolken zu, nicht weil sie mich interessierten, sondern weil sie hin und wieder die Sonne freigeben, die mir allein noch etwas sagt. Und hin und wieder lasse ich mir von den Leuten, die auch dort sitzen, von ihrem Leben erzählen, und von Rasse, Temperament und Schicksal ihrer Hunde. Und manchmal auch von Ditschi. Und wenn ich mir vorstelle, dass der »Park«, oder was da so heißt, der grüne Fussel, der Länge nach Ditschi darstellte, bloß in groß, und hinten, oben, wäre sein Kopf, dann sitze ich etwa in Höhe seiner Badeschuhe.
Kürzlich setzte sich eine ältere Frau dazu. Ich erinnere mich nicht an sie. Und nur schwach daran, dass ihr Hund, ein Yorkshire-Terrier, ihr ähnlich sah; er hätte ihr Sohn sein können. Woran ich mich aber genau erinnere, war unser Gespräch, nachdem sie mir erzählt hatte, sie gehe hin und wieder einem Senior zur Hand.
Und das ging so:
Sie: Da habe ich ihm Essen gekocht, und was tut er? Nimmt sich die Zähne raus und legt sie neben den Teller. Hab ich keinen Bissen mehr runtergekriegt. Und ein paar Tage drauf, wie ich komme, sitzt er auf dem Klo und hat die Tür auf.
Ich: Wie alt ist er denn?
Sie: Siebenundachtzig.
Ich: Aber dann ist er vielleicht schon nicht mehr ganz bei sich?
Sie: Von wegen »nicht mehr bei sich« … Mir in den Hintern kneifen kann er immer noch ganz gut!
Danach sprachen wir nichts mehr. Und ich dachte daran, ob ich wohl mit ihr schlafen könnte, mit einer (wo ich sechzig bin) schätzungsweise fünfzehn Jahre Älteren. Daran, ob ich mich wohl mit dem Hund vertragen würde, der offenbar nichts konnte, als mit dem Schwanz zu wedeln, der gleich hinterm Kopf begann; und daran, dass manchmal junge Frauen mit noch ganz anderen Ruinen rumrappelten. Und dann dachte ich, was wohl Ditschi zu all dem sagen würde. Wahrscheinlich Hepp und Cheerio.
GESCHLOSSENE GESELLSCHAFT. In dem großräumigen Etablissement im westlichen Teil der neuen Hauptstadt des erweiterten Territoriums verabschiedet die Leitung der Konzerntochter des Medienweltkonzerns den verdienten leitenden Mitarbeiter B. als erfolgreichen Herausgeber eines der wenigen großen, mit Fortune übernommenen Blätter der einverleibten Region. Das Lokal, früher einmal Unterhaltungsbühne mit Gastronomie, danach Kino, ist inzwischen im Geschmack der Zeit als Varieté alten Stils wiederhergestellt. Als hätte man Samt dafür verwendet, sind Wände und Bühnenvorhang rot; und rot auch die Bestuhlung der oberen Ränge, die an diesem Abend vor allem den Übernommenen des Blattes überlassen sind. Im Parkett dagegen, an gedeckten Tischen, die siegreichen Führungskräfte: direkt vor der Bühne die der Wirtschaft und der territorialen Politik; in den Reihen dahinter die Leitenden der mittleren Ebene und Politiker der Stadt. Studenten und Hospitanten in weißen Schürzen eilen dazwischen hin und her und reichen Essen und Getränke bis hoch zu den niederen Rängen.
Die Preisreden auf B., eingebettet in das allabendliche Programm aus Kabarettsketches, Schlangentänzen und akrobatischen Einlagen, beginnen. Dass B., aufgefallen auch als beliebter Koordinator von Gesprächsrunden im Bildschirmbetrieb, durch behutsamen Umgang mit Redakteuren und Abonnenten diesen wie der Konzerntochter das Schicksal der meisten anderen hinzugewonnenen Projekte, die Schließung nämlich, habe ersparen können, erfahren wir. Und der »Olymp« spendet Beifall. Ein Narr im Narrenkostüm tritt auf und nimmt sich Narrenfreiheit. Und der »Olymp«, über die essenden und trinkenden Damen und Herren unten hinweg, johlt. Und als ein Komiker den Kanzler des erweiterten Territoriums in seiner regionalen Mundart nachahmt, johlen gemeinsam Ränge und Parkett. Dann zeigt ein Turner der ehemaligen Olympiamannschaft des unterlegenen Territoriums, als römischer Lustknabe geschminkt, Kunststücke mit Fesseln und Seilen.
Wir sind nicht bei Hofe. Aber wir sind uns einig. Ein Herz und eine Seele, als der Gefeierte, B., endlich selbst erscheint. Rundum bonhomme, ein großer verschmitzter Engerling, spricht er von den Niederlagen seines Lebens, in denen begründet gewesen sei und geradezu unvermeidlich, wie er sagt, unaufhörlicher Erfolg. Vier Frauen, Bürokräfte erster Klasse, in knappen Badekostümen, führen ihn unter Küssen in den Bühnenhintergrund ab.
Hier hat keiner einen Haken als Hand. Keiner trägt den abgeschnittenen Finger einer algerischen Prinzessin um den Hals. Und niemand ist, kraft prächtiger Orden und Schärpen auf der Brust, Eingeweihten immer schon als Schlächter kenntlich. Von Balzac oder Dumas könnte erfunden sein und von Daumier gemalt allenfalls der Herausgeber des neuesten erfolgreichen Magazins, »Brennpunkt«; so wie sein immer lachendes Speckgesicht zu verstehen gibt, wie er passioniert und stets gutgelaunt auf Konten wie in Backen hamstert. So gilt er als Weltkind. Die anderen unterscheiden sich nicht. Niemand scheint einer besonderen Tat fähig, einer guten ebensowenig wie einer nachweisbar bösen. Jeder ist beschreibbar nur nach seiner Funktion im einzigen Prozess, der noch Geschichte macht: dem Kapitalfluss.
FREIBAD. Aber ich habe mit Ketchup bestellt, sagt die Frau am Kiosk des Freibads, als sie den Pappteller mit den Pommes frites rausgereicht bekommt. Es sind dreißig Grad im Schatten, und die Ladenpächterin hat rote Augen von den Fettdämpfen aus der Friteuse.
- Tut mir leid, ich habe mit Mayo aufgeschrieben.
- Aber ich habe laut und deutlich Ketchup gesagt.
- Aber ich habe Mayo verstanden.
- Ja, und nun?
- Nun? Nun is nun.
- Höflich sind Sie gar nicht.
- Immer so viel wie nötig, sagt die Pächterin und streicht sich die von Schweiß und Fett verklebten Haare aus dem Gesicht, während sie mit der Zange die Würstchen auf der Bratplatte wendet.
- Also, Ihr Kunde bin ich die längste Zeit gewesen.
- Kann ich mit leben.
Die Kundin ist am Ende ihrer Kräfte, und noch immer steht der Teller mit den Pommes frites und der Mayonnaise unerhört in der Durchreiche. Es ist ja nicht wegen mir, wendet sie sich an den in der Schlange hinter ihr Wartenden. Es ist wegen der Kinder. Sie essen kein Mayo. Sie essen nur Ketchup. – Kommen Sie, sagt der Angesprochene, nehmen Sie meins, mit Ketchup. Ist gerade in Arbeit. Und ich nehm Ihrs mit Mayo.
Das Aufspießen der Schnitze mit der kleinen farbigen Plastikgabel. Das Eindringen der Zähne in die braune heiße Kruste. Ihr Einsinken in das weiße Innere. Die Sonne geht nun, zum Nachmittag, schräg und weich herein, und nichts kann mehr die Andacht des vom Schwimmen hungrigen Leibes stören.
Obschon, lieber hätte ich es schon auch mit Ketchup gehabt, statt mit Mayo.
SÜDLICH DES TERRITORIUMS. Die typischen Herbstbilder wieder. Wieder das Himmels-W, die Kassiopeia, fast senkrecht über unseren Köpfen. Wie an einen Marktkorb gekettet die äthiopische Königin; hat sie doch kraft Hochmuts und Verrats das Unglück der Tochter heraufbeschworen. Und derem Erretter auch noch einen falschen Bräutigam mit seinen Schlägern auf den Hals geschickt. Breit, hilflos und empfänglich, ganz Tochter entfalteter Mutter, Andromeda. Spitz und ganz assalto Perseus. So am Himmelshorizont auftauchend und über den Kopf weg jetzt der alte schöne Dreck, im Kopf, schön und beachtlich.
VOM REISENDEN; RETTUNGSWESEN. Wer viel unterwegs ist, auf Vortragsreisen wie ich, kennt das: Man betritt gegen Mitternacht ein viel zu enges oder für einen einzigen einsamen Mann ganz unbrauchbar großes Hotelzimmer, das entweder zu kalt ist oder gnadenlos vorgeheizt. Man hat noch Glück gehabt: Man hat vom Bahnhof noch ein Bier mit hochgenommen. Aber dann findet sich kein Flaschenöffner. Du willst es mit einer Schere versuchen. Aber die Schere ist zuhaus im Bad liegen geblieben oder bricht am Verschluss ab. Oder rutscht ab und fährt dir in die Hand, in den Daumen womöglich. Und es blutet, blutet, wie es zuletzt als Junge geblutet hat. Und auf einmal willst du es wissen; denn so jung bist du vielleicht zum letzten Mal, so blutjung. Du öffnest die Zimmertür und hakst, wie früher, den Kronenkorken in das Schließblech der Türwandung. Und wirklich fliegt er davon wie früher. Aber mit ihm – ein schier unstillbares Schaumgeschmurgel – das Bier hinterher. Du legst ein Handtuch über den Fleck aus Bier und Blut auf den Teppich. So wird es das Zimmermädchen am Morgen vorfinden – wie zufällig dort fallengelassen –, wenn du schon abgereist bist; oder sie dich finden im Bett, nach der soundsovielten Nacht ohne Schlaf, tot.
Ich bin Beamter. Wenigstens behauptete meine Frau das; zeitlebens. Ein richtiger Beamter, sagte sie. Und so, wie sie es sagte, klang es nie gut. Tatsächlich war ich ein Leben lang auf irgendwelchen Sozialämtern tätig. Irgend etwas war an mir, das dort geschätzt wurde. Irgendwann hatte jemand entschieden: Ein unordentlicher Mensch braucht seine Ordnung. Vielleicht war es meine Frau. Oder meine Mutter.
Sie sind nun beide tot. Sie starben fast auf einen Schlag: Es war die Nacht, als das mit dem Kronenkorken passierte. Und plötzlich überall das Bier, das Blut. Ich erinnere mich. Genau. Die Frau, plötzlich im Zimmer, so um die sechzig, eine Frau D. oder G., ich bearbeitete gerade die Buchstaben F bis N; sie trug einen rotgefärbten Haarmob mit gut einem halben Pfund von drei Jahre altem Polyester um den Kopf, so filzig, als hätte sie damit schon alle Hafenbars zwischen Rio und Macao gebohnert. Und während sie mir das Leben dazu erzählte, dass ich ihre Notlage erkennen möge, ihre besondere, außerordentliche, wurde sie nicht müde, Daumen und Zeigefinger zu einem rechten Winkel gespreizt, meine Akten vor ihr auf dem Schreibtisch auf Kante zu schieben. Und ich dachte: eine schöne Geschichte.
Ich hätte auch gern einmal eine solche Geschichte gehabt; eine richtige, ordentliche. So mit dreimal um die Welt und trotzdem immer wieder auf die Beine und so; »nur, dass eben jetzt ein Engpass, ein womöglich endgültiger, bitte …« Aber schlief ich überhaupt einmal, reichte es kaum zum Träumen. Einmal träumte ich von Jesus, wie er eine Tomate aß und mit einem Bier nachspülte. Ich versuchte es damit bei einem Mädchen. Aber sie unterbrach mich schon bei der Tomate. Von einem Mann auf den Azoren stattdessen plötzlich von ihr aus die Rede; oder Komoren. Ohne, dass es deshalb, auch diesmal nicht, zu einer engeren Bindung gekommen sei. Und seitdem sind Jahrzehnte ins Land gegangen; und alles ist wie immer: die Frau, wie sie mit dem Fingerwinkelmaß meine Akten durcheinanderbringt. Ich, wie ich sie frage: Und was war nun mit Bali? Und sie: Wieso Bali? Und dabei sieht sie mich an, als habe das Amt einen Wahnsinnigen mit ihrem Fall betraut.
Später, etwas später, auf einem verlassenen Campingplatz eine Kette aus Plastik-Sektkorken, die einen leeren Stellplatz umfriedete, weiße Korken auf ein Kabel gezogen mit einem gelben Schild »Achtung, Hochspannung!« daran. So, mit dem die Fahrrinne hinausschwimmenden Schemen der Schiffe im Nebel draußen, ihren Hornlauten ins Jenseits hinaus bis dahin, wo die Bucht noch nicht zugefroren war.
Andere Geschichten könnten heißen: Die unruhige Nacht, oder: Das rosarote Biertragerl. Es stand auf dem verschneiten Balkon gegenüber, als ich gegen Morgen, die Hand mit einem durchgebluteten Handtuch umwickelt, die Gardinen zurückzog. Aber davon erzählt es besser mal selbst. Denn nun, wir sind schon beim Frühstück, fährt der Großvater vorbei, und keiner im Dorf versteht es wie er, Trompete zu blasen. Der Fischkutter, an dessen Ruder er steht, ist, wie es sich gehört, groß und teuer; aber größer, am Ende, ist die See. Es ist die Geschichte meiner Mutter, die einzige in ihrem Leben, in der sie nicht von irgend jemandem tief gekränkt wird. Und während sie erzählt, erzählt mit dieser plötzlich weichen, um nicht zu sagen, neckischen Stimme wie immer, wenn sie mich zum Komplizen von etwas aus ihrer Sicht Herzerwärmendem machen will, während sie von den alten braunen Pappen die farbigen Bänder, die mürben, beim Aufziehen reißenden Schießgummis löst, mit denen sie zusammengebunden sind, und den auf den Pappen fotografisch abgebildeten Personen Namen gibt, Ernst sagt zu einem ernsten Mann in Uniform, Fritz zu einem anderen ernsten in einem ernsten schwarzen Rock, entgeht mir nicht, wie sie, wie immer, eins der Fotos vor mir verbirgt, es einfach wie eine Spielkarte vor mir verschwinden lässt unter den anderen.
Eine dunkle Geschichte, sagt sie. Eine Geschichte, denke ich, von Betrug und Verrat, in der ein Schiffsknecht, einen entzündeten Daumen vorschützend, den Großvater allein ins Verderben hinausfahren lässt, um sich zuhaus dessen Frau nähern zu können; schließlich, als dessen Tod seeamtlich, sogar sie zu ehelichen sich erdreistet. Stiefvater, sagt meine Mutter. Sie hat zurückgeräumt in die Schublade, was sie daraus hervorgeholt hatte, die Briefe, Dokumente, Bilder. Kränkungen, sagt sie; seit dem Tod des Vaters nichts als Kränkungen. Sie steht auf, und ein Buch fällt ihr vom Schoß. Ein schwimmender Gegenstand ist darauf abgebildet, ein Gestell aus zwei offenbar metallenen, ovalen Hohlkörpern, die durch eine waagerechte Stange miteinander verbunden sind, deren Mitte eine senkrechte Stange kreuzt mit einer kleinen Schale oben, kurz: eine Nachtrettungsboje Cookscher Bauart ohne Zweifel, mit dem charakteristischen, auch im Wasser nicht verlöschenden Phosphor-Calcium-Brennsatz am Top. Das Gerät ist unbemannt. Eine Matrosenmütze auf den Wellen daneben. Eine Möwe drüber: »A Sailor’s Grave« am Rand die Inschrift. Ich greife danach. Auch das noch, ruft meine Mutter und überlässt mir das Buch. Und nun ließe sich eigentlich anfangen, anfangen, sagen wir: mit einem Jungen, der an ein Buch gerät. Ein Buch voller Abbildungen von Männern, an deren Gürteln aus Kork aufgeblasene Tierdärme und Häute, Blasen, Binsen, lederne Schläuche und ausgehöhlte Kürbisse angebracht sind, um sie am Sinken zu hindern. Sie sind in Gummianzüge bis über den Kopf eingezwängt. Sie tragen Korkwesten darunter und an den Füßen kleine Gewichte, die ihnen gestatten, aufrecht im tiefen Wasser zu gehen, ohne kopfüber zu stürzen. Luftkissen wulsten sich Ring um Ring vom Hals bis zu den Knöcheln um ihre Körper. Sie entfernen mitten im Sund vor Helsingborg das Mundstück an den Überflutungsschutzkappen um ihre Köpfe und rauchen eine Zigarre. Sie rufen über kleine Megaphone Hilfe herbei oder schießen, nun schon vor H...

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