Gelesene Wirklichkeit
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Gelesene Wirklichkeit

Fakten und Fiktionen in der Literatur

  1. 222 Seiten
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Gelesene Wirklichkeit

Fakten und Fiktionen in der Literatur

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Über dieses Buch

Steht es dem Schriftsteller frei, einen historischen Stoff in einem literarischen Text nach eigenen Maßgaben zu verändern? Von Platon bis Philip Roth reicht das Spektrum der Texte, anhand derer Ruth Klüger dieser Fragestellung nachgeht. Was ist wahr? - Wie steht es um das Verhältnis des geschichtlichen Faktums zum Erzählen davon? - Ruth Klüger beschäftigen seit vielen Jahren die philosophischen, moralischen und nicht zuletzt ästhetischen Dimensionen dieses Problems. Warum hat der Dramatiker Schiller Jeanne d'Arc auf dem Schlachtfeld sterben lassen, wiewohl er es als Historiker besser wußte? Wieso können wir es leicht hinnehmen, daß er Maria Stuart so deutlich "verjüngt", fänden es aber unverzeihlich, hätte Tolstoi Napoleons Niederlage im Rußlandfeldzug unterschlagen? Warum wird ein und derselbe Text ganz neu gelesen, wenn man erfährt, daß sein Verfasser nicht eigene Erinnerungen aufgeschrieben hat, etwa als ein Überlebender der Lager, sondern eine Romanhandlung in Ich-Form erfunden hat? Warum findet man unter Umständen kitschig, wovon man vorher ergriffen war? "Die Autobiographie ist ein Werk, in dem Erzähler und Autor zusammenfallen, eins sind." Und so gewiß Ruth Klüger das Schreiben über die eigenen Erfahrungen in einem Grenzdorf zwischen Geschichte und Belletristik angesiedelt sieht, so sicher hält sie fest an der Identität eines Ich, das Zeugnis ablegen kann.

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Information

Verlag
Wallstein
Jahr
2012
ISBN
9783835323230

Wie wirklich ist das Mögliche?
Das Spiel mit Weltgeschichte in der Literatur

Drei Essays
zur literarischen Behandlung
von Geschichte

I.

Geschichten aus Geschichte machen:

historische Romane und Erzählungen

Geschichte – das ist das Leben, das wir gemeinsam führen, als Gruppe, als Gemeinde, als Nation oder übergreifend sogar als eine Gemeinschaft aus Nationen. Die Literatur darüber geht immer vom einzelnen aus, Massenbewegungen sind ihr, wenn nicht völlig fremd, so doch eine tour de force, die literarisch nur zu bewältigen ist, wenn die Kamera immer noch diesen oder jenen Menschen festhält und die anderen ausläßt. Das Schlachtfeld ja, aber unter all den Tausenden, die da fallen, immer noch das Augenmerk auf den guten Kameraden, der dem Freund die Hand geben will, während dieser gerade sein Gewehr laden muß, um nicht selbst erschossen zu werden.
Ich habe dieses Thema gewählt, weil es uns mehr als andere, mehr zum Beispiel als der Realismus im allgemeinen Sinne, mit der Frage konfrontiert, wie weit wir die Fiktion an der Wirklichkeit messen und darüber hinaus, inwiefern wir die Fiktionen an diesem Maßstab der Wirklichkeit bewerten, beurteilen, der ja kein ästhetischer ist. Und da stellt sich heraus, daß unser Urteil so sehr von unseren vorgegebenen historischen Erwartungen beeinflußt ist, daß die ästhetischen Auswirkungen nicht recht von diesen anderen zu trennen sind. Wenn Schillers Wilhelm Tell gelegentlich auf herablassenden Spott stößt, so nicht, weil die Verse schlecht sind – die sind gut, in ihrer Klasse sogar hervorragend, sonst wären ja nicht so viele davon als fliegende Worte griffbereit –, sondern weil uns der Patriotismus darin seicht vorkommt. Wir beurteilen das Stück also weitgehend nach seinem Inhalt, und das bedeutet hier, nach unserem eigenen Verhältnis zum eigenen Vaterland – vielleicht sogar noch stärker nach unserer Erfahrung mit Schweizer Banken und Uhrmachern. Wenn uns das einmal auffällt, so fällt der Spott eigentlich auf uns zurück, und wir sind mit der Frage konfrontiert, wie wir denn an so ein Werk herangehen und wie wir unsere ästhetische Sensibilität von allen anderen Sensibilitäten, die in unserem Kopf hausen (oder spuken), trennen sollen.
Der Autor einer historischen Erzählung rechnet damit, daß die Leser schon wissen, worum es sich handelt. Damit erlegt er/sie sich eine eigentümliche Beschränkung auf. Er darf Napoleon nicht Rußland erobern lassen. Einerseits: Wenn er das Geschehene kühn und nicht ganz belegbar ausdeutet, so ist das sein Privileg als Autor von Fiktionen. Trotzdem, wenn er Napoleons Feldzug in Rußland verwendet, so muß er sich daran halten, daß Napoleon geschlagen wurde. Ließe er ihn gewinnen und stellte somit das Schulwissen seiner Leser auf den Kopf, so täte er es im Bewußtsein, das Publikum aufzuschrekken oder zu erheitern, auf jeden Fall auch hier mit der Absicht, die wirkliche Historie als Folie im Bewußtsein der Leser zu erhalten. Die Autorin eines Romans über die Königin Victoria darf ihr keine Premierministerin aufhalsen, weil es damals noch keine Margaret Thatcher gab. Aber eine Verbindung von Queen Victoria und der Eisernen Lady könnte eine unterhaltsame Satire abgeben, gerade weil die Autorin dem Publikum nicht klarmachen muß, daß die Sache nicht stimmt. Der Vorteil für die Autoren ist, daß sie von Anfang an ihre Phantasie auf eine vorhandene Basis stellen können. Wenn der Feldherr Napoleon heißt, dann muß man nicht erst beweisen, daß er etwas vom Kriegshandwerk versteht.
Leider kann ich mich nicht als die Autorin historischer Romane, Erzählungen oder Theaterstücke vorstellen, dergleichen habe ich nicht geschrieben, kann es auch gar nicht, aber Anfang der neunziger Jahre habe ich eine Autobiographie verfaßt, und seither gehen mir gewisse Überlegungen nicht aus dem Kopf, die mit dem Schreiben und der Aufnahme subjektiver Zeugnisse zu tun haben und mit der Literatur, die an solche Zeugnisse angrenzt, darunter auch historische Fiktionen. Da ist die Frage, wie Fiktion von Lüge zu unterscheiden sei. Von meinem Erinnerungsbuch habe ich nämlich immer behauptet, es sei, wie alle Autobiographien, ein Stück Geschichte und nicht zu verwechseln mit einem Roman. Beim Schreiben habe ich der Versuchung widerstanden, hier und da schönzufärben oder gar anschauliche Anekdoten zu erfinden. Trotzdem wird dieses Buch manchmal als ein Roman vorgestellt, und das von freundlichen Menschen, die es mit dieser Bezeichnung als literarisch hochwertig loben wollen. Aber »Roman« bezeichnet eine Gattung und ist kein Werturteil. Ich berichtige das dann gewöhnlich, indem ich sage: »Ich wollte, es wäre ein Roman«, im Sinne von: »Ich wollte, ich hätte das alles nur erfunden und es wäre mir als Kind nicht so ergangen.« Dabei gehe ich von folgendem Gedanken aus: Wenn eine Autobiographin etwas erzählt, was nicht stattgefunden hat, so lügt sie (oder, im besten Fall, irrt sie sich), während der Romancier erfinden darf, wie und wo er will, selbst wenn sein Roman eine autobiographische beziehungsweise eine historische Grundlage hat.
Nur wird meine Meinung erschwert durch die Feststellung, daß viele Autobiographen, darunter solche, die ich bewundere, anderer Ansicht sind, zum Beispiel der israelische Autor Amos Oz, der in seinem hervorragenden Buch Eine Geschichte von Liebe und Finsternis meint, die Leser sollten nicht fragen, ob dem Autor genau das zugestoßen sei, was er beschreibt, sondern ob die Leser sich selbst in das Gelesene hineinversetzen können. Damit bin ich unzufrieden. Gerade Amos Oz, der in seinem Buch die Anfänge des Staates Israel miterzählt, setzt einen hohen Wahrheitsanspruch. Ich meine, Autobiographie hat die Funktion einer Zeugenaussage, und von den Zeugen eines Unfalls erwartet die Polizei, daß sie Gesehenes und Imaginiertes auseinanderhalten können. Dasselbe trifft auf das Publikum von Büchern zu, die verbürgte Ereignisse beschreiben, also zum Beispiel historische Bücher. Nun wissen wir allerdings, daß Zeugen oft unverläßlich sind und daß dort, wo mehrere Zeugen aussagen, sich erhebliche Widersprüche einstellen können. Dann kommt noch eine geistesgeschichtliche Entwicklung erschwerend hinzu, nämlich daß sich heutzutage die Historiographie selbst als unverläßlich charakterisiert, schon deshalb, weil die Sprache im allgemeinen und die Sicht des einzelnen Historikers einer vollkommenen Objektivität der Aussage entgegenwirken. Historiker sind bescheiden geworden, aber nicht so bescheiden, daß sie die Lust am Fabulieren als gleichwertig mit ihrem Wissen erachten. Ich stelle mir die Literatur und die Historiographie als unabhängige Länder vor, Nachbarländer, gewiß, mit verschiedenen Sprachen, die zwar besonders im Grenzgebiet leicht zu erlernen, sogar leicht zu verwechseln sind, die aber doch ihren eigenen Regeln folgen. In diesem Bild sind Autobiographie und geschichtlicher Roman Grenzdörfer, zu Fuß zu erreichen für die jeweiligen nachbarlichen Bewohner (wenn nicht gerade Krieg herrscht, wie im Falle von gefälschten Biographien), aber immer noch mit verschiedenen Pässen. Die Frage wäre dann, ob sie einer Union angehören, die gewisse Verordnungen trifft, die in beiden Bereichen ihre Gültigkeit haben. Ich komme noch einmal auf meine Analogie von Autobiographie und Zeugenaussage zurück und damit auf Autobiographie als Geschichtsschreibung, wenn auch eine subjektive Variante derselben. Und ich sträube mich, wenn Fiktion und Lüge in einen Topf geworfen werden, ganz wie Platon es in seinem Staat tut. In vielen Theorien, die seit dem Zweiten Weltkrieg grassieren, kommt unser Bedürfnis zu kurz, die geschehene Wirklichkeit festzuhalten und sie nicht in einen Topf zu werfen mit dem, was es sonst noch an weithergeholter »Realität«, die sich im Kopf abspielt, geben kann. Beim Nachdenken über geschichtliche Fiktionen kann man das gut feststellen, denn da kommen unsere schon vorhandenen Kenntnisse, die wir nicht aufgeben wollen, ins Spiel, wenn auch in neuem Kleid, in imaginärer Fassung. Wie beurteilen wir also den historischen Inhalt von Fiktionen, die Geschichte als ihr Rohmaterial verwenden?
Fiktion ist keine Zeugenaussage, weder eine wahre noch eine falsche. Und doch will auch die Fiktion, besonders die historische, etwas Gültiges aussagen. Wie kann sie das, wenn sie doch immer wieder bei einem Einzelschicksal steckenbleibt? Das war schon das Problem meiner Autobiographie, die naturgemäß von einer großen Katastrophe handelte und von einer Überlebenden dieser Katastrophe, die als solche einen Ausnahmefall darstellt, was die Leser aber leicht vergessen können. Anders gesagt, der Gesichtspunkt selbst verfälscht die Tatsachen. Das war es wohl, was Hannah Arendt meinte, als sie in ihrem Buch über den Totalitarismus schrieb, gerade die überlebenden Opfer der KZs seien schlechte Zeugen. (Jahre später, beim Eichmann-Prozeß, war sie anderer Meinung.) Ich habe dann versucht, dieses Problem, wenn nicht zu lösen, so doch zu entschärfen, indem ich es in meinem Buch einfach direkt angesprochen habe. Daher wohl mein Widerstand gegen Theorien, die diese Grenzen zu durchbrechen suchen.
Es gibt zwei Möglichkeiten der historischen Fiktion: die eine ist, sich die Geschichte anders vorzustellen, als es die Fakten erlauben, also eine alternative Geschichte zu erfinden, von der die Leser sehr wohl wissen, daß sie nicht stattgefunden hat. Die andere ist, die überlieferten Tatsachen so hinzubiegen, daß sie unserer Interpretation des Geschehenen entsprechen, uns also erlauben, sie als unsere Steckenpferde zu benutzen. »Ewig jung bleibt nur die Phantasie,« schreibt Schiller, der bekanntlich sowohl Historiker wie Dichter war und in seinen Dramen historische Fiktionen verfaßt hat, und fügt hinzu: »Was sich nie und nirgends hat begeben, / Das allein veraltet nie.« Damit billigt er die poetische Freiheit in der Behandlung historischer Stoffe, wenn sie als Vorlage der historischen Fiktionen dienen.
In meinem Verständnis der deutschen Literaturgeschichte (der einzigen Geschichte, von der ich etwas zu verstehen meine) gehen mir seit Jahren zwei Stoffe für Novellen durch den Kopf, die ich schreiben würde, hätte ich das Talent zum Novellenschreiben. Sie verdeutlichen die beiden Möglichkeiten, von denen eben die Rede war, und darum will ich diese ungeschriebenen Fiktionen skizzieren. Die erste sucht etwas auszuarbeiten, das mir in der Natur der beschriebenen historischen Gestalt zu liegen scheint, wovon wir aber nicht genügend wissen. Mein Held ist kein Geringerer als Gotthold Ephraim Lessing, und mein Thema ist die dunkle Seite der Aufklärung. Es weiß ja jeder, der sich intensiv mit den Autoren der Aufklärung beschäftigt hat, daß ihr Optimismus, ihre Hoffnung auf den Sieg der Vernunft, ihr Fortschrittsglaube schwer belastet waren von der Anschauung der scheinbar unverbesserlichen Bosheit und dem unausrottbaren Aberglauben der Leute. Dazu kam noch das Elend, das von der Natur selbst verursacht wird und das den Zeitgenossen im Erdbeben zu Lissabon von 1755 veranschaulicht schien. Trotzdem sind die positiven, wenn nicht gar heiteren Aspekte der aufgeklärten Weltanschauung im achtzehnten Jahrhundert diejenigen, die uns zuerst zu dem Thema einfallen. Meine Novelle soll nun von Lessings Zweifeln oder gar Verzweiflung handeln. Sie hat einen vorzüglichen Titel und sonst leider nur die angedeutete Idee. Der Titel lautet Lessing verkauft seine Bücher, und damit soll auch der Ausverkauf der Aufklärung angesprochen sein. Tatsache ist: Lessing war ein großer Bücherfreund und hat immer wieder Bücher gekauft und gesammelt, aber er hat sie auch mehr als einmal haufenweise verkauft. Was mich interessiert, ist, was so einem Bücherliebhaber durch den Kopf geht, wenn er Gegenstände, die ihm viel wert sind, loswird oder loswerden muß. Denkt er sich Ähnliches, wie wenn er Lieblingsideen und -hoffnungen aufgeben muß, weil sie sich nicht bewährt haben?
Um die irrationale Seite in Lessings Charakter aufzuarbeiten, würde ich ihn noch als den passionierten Spieler darstellen, der er war. Er setzte auf die Lotterie und hat oft schweißüberströmt Karten gespielt. Das sind Fakten. Die Zusammenhänge zum Bücherverkauf müßten erfunden werden. Sie sollten zu den tieftraurigen, lebensmüden Passagen in seinen Briefen passen, wie ja auch bei Dostojewski die Spielsucht etwas mit seinem Leiden am Leiden der Welt zu tun hatte. Das alles in einem Psychogramm aus- und aufzuarbeiten, mit der Freiheit der Fiktion, die Mutmaßungen zuläßt, wäre eine schöne Aufgabe. Allerdings: für mich steckt da mehr Geistesgeschichte als Lust am Fabulieren. Wo das der Fall ist, läßt man besser die Finger davon.
Die zweite Möglichkeit, mit Geschichte fiktional umzugehen, ist die einer alternativen Geschichtsbildung. Und meine zweite ungeschriebene Novelle würde sich an Goethe vergreifen und hat mit der Überlegung zu tun, daß die deutsche Literatur im neunzehnten Jahrhundert nur ungenügend teilhat an der Hauptströmung der europäischen Literatur, wie sie sich in Frankreich und England, etwas abseitiger in Amerika und später auch in Rußland entwickelte. Denn dieser »mainstream« war bürgerlich, und seine Hauptgattung war der Roman, der das Familienleben zum Mittelpunkt hatte. Die Deutschen hatten in Goethe einen hervorragenden Romancier, der uns drei Meisterwerke der Gattung hinterlassen hat und der mit seinem ersten Roman, dem Werther, gleich zum Erfolgsautor avancierte. Er hätte einen Werther nach dem anderen schreiben können, aber er war einer von den Großen, die sich nicht wiederholen. (Thomas Mann war ein anderer dieser Sorte; auch er hätte stillvergnügt mit einer Folge von Buddenbrooks Geld verdienen können, aber statt dessen kam der Zauberberg.) Bei Goethe kamen der Theaterroman Wilhelm Meister und schließlich die noch immer hochmodernen Wahlverwandtschaften, alle drei Romane grundverschieden voneinander. Aber Goethes Hauptanliegen und gewiß sein hauptsächlicher Einfluß (abgesehen von der Lyrik) ist nicht im Roman zu suchen, sondern viel eher in der Rückwendung und Wiederbelebung des klassischen Theaters, eine Richtung, in der ihm die späteren Dichtergenerationen dann auch folgten. Die Kunst des Goetheschen Dramas hingegen wird im Ausland kaum gewürdigt. Um zu verstehen, warum Goethes Iphigenie ein Meisterwerk ist, muß man sehr gut Deutsch können, wie ja auch Racines Dramen außerhalb Frankreichs einen schweren Stand haben, weil sie so abhängig von den Subtilitäten der französischen Sprache sind. Doch bei dem früheren Racine ist es viel selbstverständlicher, daß er Hofdramen schrieb, während Goethes Iphigenie ein Hofdrama ist zu einer Zeit, als die Höfe schon ihrem Untergang entgegensahen. Eigentlich verschwendetes Talent, denke ich mir, bei aller Liebe zu den großen Worten, die Iphigenie gelassen ausspricht und die bei meinen amerikanischen Studenten höfliches Gähnen verursachen, während sie Die Wahlverwandtschaften aufregend finden und diskussionsfreudig aufgreifen. Warum hat er nicht mehr erzählende Prosa geschrieben? Und sich mit dem bürgerlichen Leben abgegeben? Die Antwort ist, weil er, obwohl Bürgersohn aus geachteter Familie, nicht in Frankfurt geblieben ist, sondern sich zu der aristokratischen Gesellschaft schlug und sich noch dazu in einem Kleinstaat niederließ, wie er bald für die moderne Geschichte nicht mehr tragbar sein sollte. Was wäre geworden, wenn Lili Schönemann, seine Verlobte, der er davongelaufen ist, ihn fester im Griff gehabt hätte?
Solche Gedanken haben natürlich literaturwissenschaftlich und auch literaturkritisch keinen festen Boden unter den Füßen. Andererseits: als Fiktion? Die Erzählung, die ich mir vorstelle, zieht einen Faden aus dem Ende von Goethes Autobiographie Dichtung und Wahrheit und beginnt mit einem eher ungebildeten jungen Prinzen, dessen hochintelligente und gebildete Frau Mama in ihrer winzigen sächsischen Hauptstadt, in diesem herausgeputzten Dorf Weimar, eine Sammlung der besten Intellektuellen ansiedelt, derer sie habhaft werden kann, eine Art Wissenschaftskolleg, aber auf Dauer. Der Sohn will da nicht zurückstehen, versucht auch sein Glück mit der Jagd auf Geistesgrößen, fällt auf einen attraktiven Bestsellerautor herein und zieht damit, wie wir wissen, aber wie er noch lange nicht wissen wird, gleich den größten Fisch im Teich an Land.
Anfängerglück. Nur in meiner Novelle gelingt’s ihm nicht. Der junge Dichter überlegt sich’s, ziert sich, die Liebe zu seiner Verlobten Lili Schönemann kommt ihm in die Quere, außerdem will er unbedingt Italien sehen, und zwar sofort. Hin und her, Zweifel und Versuchung, schließlich hat Frankfurt mehr zu bieten, und wer will schon nach Sachsen-Weimar? Das wäre der erste Teil der Novelle. Goethe geht auf Italienreise, kommt zurück und heiratet die resolute Lili Schönemann, der er ja später in Wirklichkeit ein Denkmal in Hermann und Dorothea gesetzt hat, wo sie gleich ein paar marodierende Franzosen mit der Waffe in der Hand umlegt. In meiner Novelle wird aus Hermann und Dorothea statt des Epos in Hexametern, das nur die Kenner mögen, ein Prosaroman und Bestseller. Denn Hexameter als Reaktion auf die Französische Revolution, das fällt dem angesehenen Bürger der freien Reichsstadt gar nicht ein, er begründet statt dessen in meiner Phantasie die deutsche bürgerliche Literatur, schreibt Romane und Erzählungen, natürlich auch weiterhin seine unvergleichliche Lyrik und betätigt sich in städtischen Affären vielleicht etwas weniger konservativ als er es in Weimar tat. Hermann und Dorothea, der Prosaroman, sofort ein europäischer Bestseller, wie dazumal der Werther, ist ein Familienroman, in dem die Frau, wie im real existierenden Epos, die Stärkere ist (ganz ohne Feminismus geht’s bei mir nicht ab), und der Bezug auf die Französische Revolution ist ausführlicher und analytischer als im Gedicht. Mein Goethe entzieht sich dem Weltgeschehen nicht, sondern begleitet es vom Standpunkt des deutschen Bürgers, der nicht immer einen Schlafrock tragen muß wie Hermanns Vater, der den seinen so ungern an die Flüchtlinge verschenkt.
Wie es enden soll, weiß ich nicht. Irgendwie müßte es einen klaren, aber nicht didaktischen Hinweis darauf geben, daß sich eine andere, verwandte, aber engagiertere Literatur hätte entwickeln können als die, die wir kennen. Und das wäre an der überragenden historischen Gestalt Goethes festzumachen, der allerdings zu einer recht unhistorischen Gestalt wird. Der Witz an der Sache wäre, daß sich die Leser immer bewußt sind, daß sie eine falsche Geschichte lesen, eine, die dem eigentlichen Verlauf seines Lebens zuwiderläuft. Und auch dem Verlauf der Literaturgeschichte zuwiderläuft, denn in Wirklichkeit ging es ja weiter mit Schriftstellern aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert, gute Lyriker, der...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Title
  3. Inhalt
  4. Vorwort
  5. Lanzmanns Shoah in New York
  6. Von hoher und niedriger Literatur
  7. Fakten und Fiktionen
  8. Wien als Fluchtpunkt
  9. Erlesenes Wien: wie seine Dichter es sahen und sehen
  10. Der Dichter als Dieb?
  11. Wie wirklich ist das Mögliche? Das Spiel mit Weltgeschichte in der Literatur
  12. Impressum