Der Meister
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Der Meister

Roman

  1. 574 Seiten
  2. German
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Der Meister

Roman

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Über dieses Buch

Dass Max Brod auch ein religiöser Denker ganz eigener Art war, zeigt sein wohl bedeutendstes Buch, das er in Tel Aviv schrieb: Es ist ein historischer Roman über das Jerusalem zur Zeit Jesu, über das Judentum dieser Zeit und über die brutale Herrschaft der Römer. Brod erzählt hier eine spannende Geschichte mit Intrigen und Kämpfen, die uns auch die konkurrierenden Strömungen des Judentums vor Augen führt. Held des Romans ist der gebildete griechische Sklave Meleagros; mit den Augen dieses Fremden zeichnetBrod die historische Situation nach. Die Ziehschwester Jesu, Schoschana, zieht den Griechen in ihren Bann. Durch sie erfährt er - und der Leser - alles Wichtige über Jeshua, den »Meister", wie Jesus auch in den Evangelien genannt wird. Dieser tritt hier auf als ein Rabbiner wie andere vor ihm -, aber als ein außerordentlicher, ein herausgehobener, wie es nur wenige gab.

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Information

Verlag
Wallstein
Jahr
2015
ISBN
9783835327078
Der Meister
Roman
Ester Hoffe gewidmet
ERSTES KAPITEL

Ein Mensch wird verschenkt

Sehr sehnsuchtsvoll denkt Meleagros an die Zeit zurück, die er zu Alexandria in der »Kleinen Halle« der berühmten Bibliothek, des Museions, verbringen durfte. Diese Zeit ist ein großstrahlendes Licht. Und mitten in dem Licht sieht Meleagros sich selbst, den schönen jungen Griechen, den blonden Lockenkopf vom schwarzblauen Band längs der weißen Stirne umwunden, – kein schlechter Anblick übrigens, das darf er sich gern und gut eingestehen. Und damals – damals war er zudem auch noch glücklich zu nennen!
Reine Seeluft strich über den mosaikgepflasterten Estrich des Saales. Sie war es, die diesen Fußboden schimmern ließ wie einen Metallspiegel. Und über dem bunten Grund schwebten fast sichtbar die Gottheiten der Freude, der Stille. In der Ecke hinter der dunklen Erzbüste des Kallimachos sitzen, des hochzuverehrenden Schulhauptes und Urdichters, in dieser Ecke alte Texte miteinander vergleichen, seltene Lesarten auffinden, hie und da selbst einen Vers, ein Erotikon niederschreiben – an die prachtvolle Heliodora etwa, die Flötenspielerin: was konnte es Besseres geben! Wenn ihn diese Heliodora nicht gerade durch Untreue quälte, wenn sie ihm letztens vertraut zugelächelt hatte, dann genoß er in den Räumen der Bibliothek einen Zustand, der jener Seligkeit zumindest benachbart war, wie sie dem Weisen ansteht.
Man atmete förmlich die Ruhe der vielen tausend Papyrosrollen ein, die in roten und blauen Lederkapseln auf den sauber gebeizten, funkelnden Holzregalen lagen oder bündelweise in Tongefäßen standen wie Blumen in geräumigen Vasen. Kühler Schatten weht hinter grünen Vorhängen, in mehr als hundert Sälen. Hundert Nester des Schweigens, des Friedens. Nur aus der »Mittleren Halle« machen sich zuweilen die Gelehrten vernehmbar, die mit leisen Stimmen ihre Streitfragen besprechen oder einander ihre letzten Gedichte vorlesen.
Er selbst ist »Gehilfe der gelehrten Dichter« – dies sein offizieller Titel – und er trägt überdies einen nicht unbedeutenden Plan im Herzen, dessen Ausführung ihn gewiß einst berühmt machen wird; er nimmt ihn immer wieder auf, nach wohligen Unterbrechungen, ohne Hast, langsam und sanft, diesen süßen Plan; in völliger Ausgewogenheit des Gemüts, wie es dem Weisen geziemt, der die Lehren Epikurs befolgt, arbeitet er gelegentlich an dem, was er im stillen sein »bestes Geheimnis« nennt.
Vorbei.
Damals und heute – ein Unterschied wie ein Dolchstoß.
Der Blick damals vom vornehmen Brucheionhügel, auf dem die Bibliothek lag, die größte des Erdrunds, – der Blick öffnete sich aus einem Fächer von Regierungs-Prachtgebäuden hervor auf das blaue Meer hin, zum Hafen der »guten Heimkehr«, dem Eunostos. Dort sah man den langen Damm bis zur Pharosinsel, die den Leuchtturm riesenhaft, grau, drohend, wie einen die Wellen abschüttelnden Meergott gegen den Himmel ansteigen ließ. Auf dreihundert Stadien ist sein Licht den Schiffen auf See sichtbar.
Hier dagegen und heute –, wenn Meleagros heute den Blick von den Akten aufschlägt und zum Fenster hinausschickt, findet er eine wilde, immer unruhige, immer lärmende Barbarenstadt, deren Lehmhütten und rohe niedrige Steinhäuser, deren Mauern, Höfe, Stiegen, übervölkert, stark riechend, an steilen Kalkbergen aufwärtsdrängen, – ein Chaos in Gelb und Schmutzigweiß. Ja, und da ist dann noch dieser ungefüge Block oder Pylon aus weißem Marmor mit dem goldenen Dach – sie nennen ihn den »Tempel des Höchsten Gottes« und treiben viel Wesens mit der Unform, die ihrem mißgebildeten Sinn gefällt. – Des »Höchsten Gottes«? Also haben sie doch mehrere Götter? Ein absurder Einfall überdies, der an die Träumereien unseres guten, törichten Platon erinnert: daß es nur einen einzigen Gott geben soll. Wogegen der Meister gesagt hat, unser Herr, Epikuros selbst: »Wie die Menschen sind auch die Götter gesellig.« – Und in der Tat, ein einziger Gott könnte nie glückselig sein. Er würde sich ja zu Tode langweilen. Da sich die Götter bekanntlich um uns Menschen nicht kümmern (wie könnten sie sonst frei von Sorgen und glücklich sein?), hätte solch eine seltsame Rarität von einem Solo-Gott niemand als sich selbst zur Gesellschaft. Auch wäre die größte Lust, die der Freundschaft, ihm unbekannt. – Dem sei wie immer, schließt Meleagros ab, – jedenfalls erfreut als architektonisches Gebilde die plumpe Masse drüben das an Proportion und Gliederung gewöhnte hellenische Auge nur sehr mäßig. Und so bleibt es dabei: das Land, in das ihn ein Machtspruch verbannt hat, ist pestilenzialisch häßlich und verflucht.
»Diese Provinz« – so hat er seinem Herzensfreund Jason nach Alexandrien geschrieben, bald nachdem er hier eingelangt war – »diese Provinz bietet als einzige Sehenswürdigkeit Erdbeben.«
Im Winter außerdem noch furchtbare Wolkenbrüche und Überschwemmungen, da die Einwohner des in jeder Hinsicht zurückgebliebenen Landes nichts von dem uralten geistreichen System der Kanalanlagen Ägyptens gelernt haben. Den Winter hofft er allerdings nicht mehr in dieser Einöde zu verbringen. Irgendwie ausbrechen – das ist sein einziger Wunsch und Vorsatz. Möge er gelingen!
Ausbrechen! So wie er hier im Hochsommer ausgebrochen ist, als man ihn an irgendeinen galiläischen See geschickt hatte. Unmöglich dort auszuhalten, in einer Höllenlandschaft, einem glühenden Kessel zwischen kahlen Bergen, versengten Abhängen, die nichts als Sonne, Staub, Mist, übelkeiterregende Schwefeldämpfe ausstrahlen. Nun, das war damals gelungen. Den amtlichen Auftrag hatte er rasch einem Unterbeamten, dem Marktaufseher Metilius, weitergegeben und war in die Hauptstadt zurückgekehrt, die zwar auch unwohnlich, aber immerhin eine Stadt ist. So wie er glücklich aus dem Glutkessel ausgebrochen ist, wird er vielleicht einmal auch dem ganzen Land entrinnen.
Er überdenkt es nochmals und erschrickt. Den Römern ausbrechen? Vergebliche Anstrengung. Er weiß es: Wen die eiserne Faust des Imperiums gepackt hat – und sei es auch nur, weil sie zufällig einmal, wie im Traum danebengepackt hat –, der entrinnt ihr nie wieder. Und sei er der mächtigste König des noch uneroberten Teils der Welt: gegen den Willen Roms gibt es keine Auflehnung. Wer sich auflehnt, wird zerdrückt. »Rom hat gesprochen« – damit ist die Entscheidung gefallen.
Wäre es eines Weisen nicht unwürdig, zu hassen oder sonst einem überflutenden Affekt nachzugeben: Meleagros könnte die unmenschlichen Römer mit glühender Wut verdammen, bis in den tiefsten Abgrund hinein, – die Römer, die seine Heimatstadt Antikyra in Phokis vernichtet haben. Ein spät aufflackernder, örtlich geringer Aufstand des längst in die Knie gezwungenen Griechenland war es. Die ganze Einwohnerschaft Antikyras wurde in die Sklaverei verkauft. Die Stadt verfiel der Zerstörung. In Ephesus, auf Kreta, auf allen Sklavenmärkten des Mittelmeeres konnte man damals Phokier sehr billig erwerben. Die Familien wurden selbstverständlich auseinandergerissen. Lebt die Mutter noch? Aristobulos, des Meleagros Bruder, war gefangen worden und aus der Sklavenschaft entwichen, tags darauf wurde er ans Kreuz geschlagen. Die Schwester verschwand in einem Bordell. Meleagros selbst konnte sich retten, indem er nachts von dem Sklavenschiff, das im Hafen von Delos lag, auf einen Kornfrachter hinüberschwamm. Der kam aus Ägypten, ging nach Athen. Hier hatte der Flüchtling Bekannte, fand zunächst Unterschlupf. In der Philosophenschule des Philodemos, der nach den Vorschriften des göttlichen Epikur lehrte, konnte er sich ausbilden, im schattigen Garten – denn das gebot die Lehre des Gründers: der Unterricht finde in schönen Gärten statt. An diesem anmutsvollen Ort erfuhr er, daß man sich nicht zu benehmen habe wie die Anhänger der kynischen Verirrung, jene absurden Rüpel, die es für angezeigt halten, sowohl die Angelegenheiten der Demeter wie die der Aphrodite auf offenem Markt zu verrichten. Aber auch überheblich, heuchlermäßig-statuenhaft und immer gefaßt wie die Stoiker habe man nicht im Leben dazustehen wie sein eigenes Grabmal. Den Stimmen der Natur folgen, das hieß ihn Philodemos, der gern lächelnd, spitznasig, kalkweiß, mit glattgestrichenem Grauhaar überraschend hinter einer Säule hervortrat und mit einem Scherz seinen Lehrvortrag begann, – aber man gehorche einer geläuterten und sozusagen stubenreinen Natur, einer sanften Bewegung der Lust. Schmerzlosigkeit ist noch wichtiger als Lust. Und vor allem keine Angst! Angstlos sieht der Weise auch dem Tode entgegen. Denn der Tod geht uns nichts an. Wo wir sind, ist der Tod nicht; und wo der Tod ist, sind wir nicht.
Dem jungen, munteren Meleagros gefielen solche Sätze nicht übel. Bald war er ein eifriger Jünger. Es ergab sich ja alles so einfach, man brauchte nur die Sätze, die Kernsprüche auswendig zu lernen, die schon vor Jahrhunderten der gefällige Meister, ein wahrer Freund seiner Schüler, in die knappste Form gebracht hatte, so daß man sich sie leicht merken konnte. In jeder Lebenslage steht einem dann sofort der rechte Spruch zur Hand, wie Arznei in einem Fläschchen. Philosophie soll ja auch nichts anderes sein als eine Arznei der Seele, – sogenannte Wahrheit, Erkenntnis, was geht sie einen an! Vor allem eins: Fühle dich wohl, seelenbehaglich, mein Freund, kümmere dich um all das nicht, womit die Unweisen, die keine Philosophie studieren, in nichtiger Art ihre Tage verbringen. Kümmere dich nicht um Sonnenfinsternisse, um die Mondphasen, Planeten, um die Entstehung der Wolken oder des Hagels und anderer Himmelserscheinungen. Man kann diesen oder jenen Grund für sie finden, und alle Gründe sind gleich richtig oder auch unrichtig, ganz wie du willst. Die Sonne ist ungefähr so groß, wie sie dir erscheint. Also etwa zwei Fuß breit, oder etwas mehr. Nimm das nach Belieben an, es ist gänzlich einerlei. Was gehen diese Dinge dich an! Sie haben keinen Bezug auf dich. Es gibt weder böse noch gute Vorzeichen. Sei aufgeklärt, Liebster. Die Götter schlafen. Oder sie befassen sich nur mit sich selbst, haben Besseres zu tun, als nur zu warnen oder den Kosmos zu bauen. Sind sie denn Handwerker? Nein, selige Nichtstuer sind sie. Was aber nicht ausschließt, daß man sie als uns überlegene Wesen anbeten soll, dem landesüblichen und hergebrachten Kult gemäß. Nicht als ob etwa die Götter zürnten, wenn wir diese Gebete und Opfer unterlassen. Aber warum soll man sich bei den Menschen unbeliebt machen, ihnen ihre Freude an den Festen und Prozessionen verderben? Der Weise wird sich fügen, im Verborgenen leben, nicht durch Widerspruch überflüssiges Aufsehen erregen.
»Ihr macht es euch etwas zu bequem,« sagte Philodemos, plötzlich hinter einer Säule auftauchend, einige Schüler bei ihrem Gespräch überraschend. »Du, mein Meleagros, bist von leichtbeweglicher Natur, du nimmst das Leben ohnehin nicht schwer. Nun kommt dir eine Lehre sehr gelegen, die scheinbar dasselbe empfiehlt, was dir eingeboren ist. Prüfe dich aber doch etwas genauer. Der Meister, so sagt man, soll sehr eigensinnig gewesen sein, und nicht immer war es leicht, seinen Worten zu folgen. Aber man erzählt Wunder von seiner Freundlichkeit, seinem höflichen und bescheidenen Wesen. Es ist uns das Wort eines seiner unmittelbaren Schüler überliefert: ›Wenn man das Leben Epikurs mit demjenigen der andern Philosophen vergleicht, so könnte man es um seiner Milde und Selbstgenügsamkeit willen einen Mythos nennen.‹ – Das klingt doch ein wenig anders als euer schallender Leichtsinn, ihr Knaben. Mit Recht heißt es daher bei uns: Handle immer so, als ob Epikuros dir zusähe.«
Und mit noch längerer Nase als sonst wandelte der schwächlich-schlanke, alte Erzieher durch die schattige Allee davon. Die Erstaunten sahen ihm lange nach.
Meleagros war ein guter Junge, an seiner Seele hatten Gewissenhaftigkeit, redliche Bemühung immer einen mindestens ebenso starken Anteil gehabt wie das heitere, unbekümmerte Blut. Er lernte gern. Er vertiefte sich von neuem in die weniger gangbaren Folgerungen und Ausläufer der Lehre, die ihm freilich bei all ihrer menschenfreundlichen Sorge um die Ruhe des Gemüts schon ein wenig spitzfindig vorkamen. Was da vom stillen, wellenlosen Hafen der Schmerzlosigkeit geschrieben stand, der besser sei als brausende Freude: darauf schwor er willig. Schmerzlosigkeit, das höchste Gut, zu dem der Weise gelangt! Wenn man Wasser und Brot hat, darf man sogar mit Zeus an Glückseligkeit wetteifern! Leider fehlte es dem Meleagros, den auf die Dauer zu unterstützen seine Bekannten durchaus abgeneigt waren, bald öfters sogar an Brot zu dem immerhin von den Göttern bereitgestellten Wasser. Unbesorgt! auch für derartige Fälle hatte der Meister Sprüche weislich vorbereitet. Und der Jünger wurde dahin belehrt, daß dem Weisen das Leben unter allen, auch den ungünstigsten Umständen lebenswert erscheine; denn in jedem Falle enthalte es mehr von dem, was wir wollen, als von dem, was wir nicht wollen. Daher sei der von den Stoikern gelegentlich empfohlene Selbstmord durchaus nur als logischer Schnitzer oder als eine Art von grammatikalischem Schreibfehler anzusehen, kurz als ein häßlicher Unsinn. Arme, unbelehrte Stoa! Der Weise wird glückselig sein, auch wenn er gefoltert wird. Allerdings wird er dann stöhnen und jammern, sich also nicht zurückhalten, wie es gewisse Leute wollen, wieder diese Leisetreter, die Herren von der Stoa! – Eigenwillig und mit nachsichtiger Milde schnaufte die Philodemische Spitznase im kalkweißen Gesicht, und die Schüler gestanden sich ganz im stillen, mit ehrfurchtsvollem Schauder ein, daß es in der Tat schwer sei, ihm zu folgen; aber dazu gehe man ja schließlich an die Hochschule, auf das Leichtverständliche wäre man vermutlich auch allein, ganz von selbst gekommen. – Der Weise wird sich immer freuen – so bemerkte Philodemos rätselhaft verschlossen, aber mit gütigem Kopfnicken zur Gemeinschaft einladend, sei es nun, daß dies obenhin geschah, der Schulkonvenienz gemäß, oder aus wirklich hilfreichem Herzen, oder gar ein wenig müde und boshaft, wer konnte das wissen – der Weise wird, selbst wenn er im Stier des Phalaris geröstet wird, zum Schlusse kommen: Das Leben ist eine Wollust und der Schmerz geht mich nichts an.
Mit solchen und mancherlei ähnlichen Kenntnissen ausgerüstet, hätte Meleagros als ein bereits höheres Semester an Philodems erbaulichem Gedanken- und Weisheitsinstitut leicht einen Posten als Sekretär oder stilistischer Hausgeist bei einem der vielen vornehmen jungen römischen Herren und reichen Rittersöhnchen finden können, die in Athens Säulenhallen herumlungerten, um nach ein oder zwei recht vergnüglich zugebrachten Jahren daheim sagen zu können, sie hätten sich jenseits des Jonischen Meeres den letzten Schliff geholt, in Griechenland – oder vielmehr in der »Provinz Achäa«, denn ein freies Griechenland gab es ja seit bald zweihundert Jahren nicht mehr. Aber solch ein Dienst widerstrebte dem jungen Meleagros aufs peinlichste, obwohl er ihm vermutlich Ruhm und jedenfalls einen vollen Beutel eingetragen hätte. Alle diese nichtsnutzigen Wolfsrömer, die nach Athen kamen, um sich mehr oder weniger oberflächlich das Handwerkszeug der Weltbildung zu kaufen, oder, noch praktischer, um als angehende Staatsmänner und Heerführer nur etwas Grammatik, Deklamieren, Geschichte oder Rhetorik, gute Aussprache sowie die üblichen Tricks der Beredsamkeit zu lernen, – alle pflegten sich einen literarischen Hausgriechen, einen Graeculus, oder ein paar von dieser Sorte mit nach Hause zu bringen. So wie man griechische Friseure, griechische Steinschneider, Maler, Vorleser, Tänzer nach Rom importierte, so hatte man als Kavalier von Rang auch eine Zunft von »Griechlein« in seiner Villa unter dem Gesinde sitzen, die einem Briefe und öffentliche Reden korrigierten, womöglich auch noch die »Denkwürdigkeiten« des Herrn, sofern es solche gab, aufzeichneten und ihm zu verfasserschaftlichen Ehren verhalfen. Man sah auf solche Hilfspersonen von oben herab, aber man brauchte sie und bezahlte sie reichlich. – Natürlich gab es unter dem Wolfsgeschlecht der Römer auch einige, die ihre Epistel, Gesetzesanträge, Amtsberichte und Gedichte allein schrieben. Doch die Hauptmasse der Romulusenkel begnügte sich jedenfalls damit, den edlen Honigseim der griechischen Bienen bereits zubereitet aus Attika zu beziehen, nicht selbst aus den Blüten des Hymettos zu saugen. Die Protzen aus den großen römischen Familien rühmten sich, die besten griechischen Ratgeber und Seelentröster zu besitzen, – so wie sie zu ihren Gastereien den besten Wein aus Chios, die geschicktesten Nymphen Thraziens und für ihre Pasteten die teuersten Pfauen aus Tyrus bezogen. Die Kastanien mußten vom Ufer des Tagus, die Datteln aus Ägypten, das Haselhuhn aus Phrygien, das Hammelfleisch aus Ambrakia, die Austern aus Tarent, die Nüsse aus Thasos sein – und der Lehrer weltweiser und künstlerischer Eleganzen aus Athen. Solch ein Lehrertum wäre des jungen Meleagros natürliche Laufbahn gewesen. Er zog es vor, arm und frei zu bleiben.
Es ging, solang es ging. Schließlich duckte ihn das Schicksal, das ihn heimatlos gemacht hatte, ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Umschlag
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Vorwort (Schalom Ben-Chorin)
  6. Der Meister. Roman
  7. Nachwort (Karl-Josef Kuschel)
  8. Editorische Notiz
  9. Über den Autor
  10. Max Brod. Ausgewählte Werke im Wallstein Verlag