Epilog: Die Flugzeugentführung als wahrscheinlicher Unfall
Die Moderne als Epoche hat eine Reihe von irreversiblen Veränderungen mit sich gebracht. Die Produktion von Waren wurde zur Massenproduktion, der Konsum lokal produzierter Güter wich einem auch im globalen Maßstab homogenisierten Massenkonsum, neben der individuellen Kommunikation expandierte die Massenkommunikation über verschiedene Medien, und Mobilität wurde gleich in zweierlei Hinsicht zum qualifizierenden Moment, nämlich im sozialen wie auch im geographischen Sinn. Anders als politische Umbrüche – von der Demokratie zur Diktatur oder von der Oligarchie zur Demokratie, wie sie schon die alten Griechen kannten – sind diese Entwicklungen nicht mehr hintergehbar. Unabhängig von den jeweiligen politischen Verhältnissen zeichnen sie das Bild der Moderne als einer Zeit der Mobilität, Media lität und Massengesellschaft.
Wie auch die anderen Elemente von Modernität ist Mobilität, als Anspruch und als Faktum, nicht mehr verhandelbar. Eine Einstellung des Auto- oder Flugverkehrs mit dem Argument, dass die Zahl der Verkehrstoten in einem Unverhältnis zum Nutzen des Autos stehe oder der Flugbetrieb zu stark zur Erwärmung der Erdatmosphäre beitrage, liegt weit jenseits des politisch Vorstell- oder Durchsetzbaren. Zwar gibt es zahlreiche Maßnahmen, die geeignet sind, die negativen Folgen der Mobilität zu minimieren, doch sind diese Maßnahmen häufig paradoxer Natur: So ist die aktuelle Umstellung der amerikanischen Autoindustrie auf die Produktion verbrauchsärmerer Motoren keine Reaktion auf den Klimawandel, sondern auf die 2008 einsetzende Finanzkrise, und die Verbesserung der Unfallsicherheit von PKWs ist vor allem der Verschärfung des Produkthaftungsrechts geschuldet.1 Noch im 21. Jahrhundert sieht sich die Menschheit mit der Herausforderung konfrontiert, auf die von der Moderne aufgeworfenen Spannungen zwischen sozialem, technischem, wissenschaftlichem und kommunikativem Fortschritt einerseits und der Schaffung neuer Risiken, die durch eben diesen Fortschritt generiert werden, adäquat zu reagieren. Der technische Fortschritt, so der Berufspilot und Romanautor Rudolf Braunburg, »erweitert nicht nur die technischen Möglichkeiten, sondern auch die menschlichen – im negativen Sinne.«2
Flugzeugentführungen, ebenso wie Flugzeugabstürze, sind Teil eines Aushandlungsprozesses, in dem es nicht mehr um das ob des Reisens geht, sondern nur noch um das wie der Schadensbegrenzung. Der französische Medientheoretiker Paul Virilio geht gar so weit zu behaupten, dass der Unterschied zwischen Unfall und Anschlag, zwischen Absturz und Entführung aus der Perspektive der Medienberichterstattung gar keine Rolle spielt. Im Rahmen einer generellen Zivilisationskritik argumentiert er, beide seien quasi vorprogrammierte Unfälle in einer Geschichte der Geschwindigkeit, die sich fortschreitend in der Bahn, im Flugzeug und schließlich im Satelliten materialisiere.3 Wo neue Risiken eingegangen werden, treten neue Katastrophen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auf; die angemessene Reaktion wäre nicht oder nicht nur, für mehr Sicherheit im Transport zu sorgen, sondern im kollektiven Gedächtnis einen Raum zu schaffen, in dem die systemimmanenten und deshalb nicht verhinderbaren Katastrophen verarbeitet werden können. Virilio plant deshalb die Einrichtung eines Unfallmuseums, in dem die großen Katastrophen von Lakehurst bis Tschernobyl, vom Untergang der Titanic bis zum 11. September, dokumentiert werden sollen. Ein solches Museum werde der Rückschau dienen und der Erinnerung einen Ort geben; darüber hinaus solle es aber auch eine Art Wunderkammer der Zukunft sein: »[It] demonstrates the urgent need to follow up the famous ›cabinets of curiosities‹ of the Renaissance with a twentyfirst-century museum of the accident of the future«.4 Virilio fordert der Menschheit ab, auf Katastrophen nicht erst dann zu reagieren, wenn sie vorbei sind, sondern alle denkbaren Katastrophen zu antizipieren, um sich vor dem Hintergrund dieses Zukunftswissens über den Preis des Fortschritts verständigen zu können.
Virilios Konzept orientiert sich an dem Spannungsverhältnis von Vergangenheit und Zukunft, und es orientiert sich semantisch daran, dass der französische Begriff ›accident‹ (identisch mit dem englischen ›accident‹) sowohl den Zufall als auch den Unfall bezeichnet; daran, dass der Unfall sowohl das Unvorhersehbare und Unwahrscheinliche als auch die notwendige Ausnahme von der Regel darstellt. Entgegen dem aristotelischen Diktum, dass es keine Wissenschaft vom Zufall geben könne, behauptet Virilio, die Erfindung des Schiffs schließe bereits die ungeplante und deshalb zufällige Havarie ein, die Erfindung des Autos die Massenkarambolage und die Erfindung des Flugzeugs den Absturz.5 Müßig zu fragen, so Virilio, ob die Hindenburg infolge technischen Versagens oder infolge von Sabotage explodierte: »the fact of wishing to have thousands of passengers fly at the same moment in one and the same aircraft is already an accident, or more exactly a sabotaging, of futurological intelligence«.6
Zu folgen sei deshalb einem anderen aristotelischen Diktum, demnach – epistemologisch betrachtet – die Akzidenzien erst die Substanz der Dinge enthüllen: »[I]f the accident reveals the substance, it is indeed the »accidens« – what happens – which is a kind of analysis, technoana-lysis of what »substat« – lies beneath – all knowledge« .7 In dieser Logik zeige Tschernobyl das wahre Wesen des Atomkraftwerks, die Entgleisung das wahre Wesen der Eisenbahn, der Untergang das wahre Wesen der Titanic, jede Flugzeugentführung und jeder Absturz das wahre Gesicht der Fliegerei.
In hermeneutischer Perspektive, die von weiten Teilen der historischen Zunft eingenommen wird, liegt der Unterschied zwischen einem Anschlag und einem Unfall unmittelbar auf der Hand: Während der erstere die Folge vorsätzlichen Handelns ist, ist der letztere der ungewollte Zwischenfall, der in den allermeisten Fällen das Ergebnis einer Verkettung von Unwahrscheinlichkeiten ist. So verbrannte am 25. Juli 2000 kurz nach dem Start in Paris eine Concorde, weil ein Mechaniker an einem anderen Flugzeug eine Titanlamelle statt einer Lamelle aus Stahl oder Aluminium montiert hatte; diese fiel auf die Startbahn, wurde von der kurz danach startenden Concorde erfasst und hoch geschleudert, so dass sie ein Leck in den Tank schlug. Unwahrscheinlich ist, dass ein solches Metallteil auf einer Startbahn liegt, unwahrscheinlich, dass die Concorde genau darüber fährt, unwahrscheinlich auch, dass die Lamelle gegen den Kerosintank fliegt und diesen so schwer beschädigt, dass er explodie...