Krieg und Chaos in Nahost
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Krieg und Chaos in Nahost

Eine arabische Sicht

  1. 232 Seiten
  2. German
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  4. Über iOS und Android verfĂŒgbar
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Krieg und Chaos in Nahost

Eine arabische Sicht

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Inhaltsverzeichnis
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Über dieses Buch

Millionen Menschen auf der Flucht, auch zu uns nach Europa. Blinder Terror ĂŒberall, auch bei uns in Europa. Krieg und Chaos drohen ĂŒberhandzunehmen. Was ist nur im Nahen und Mittleren Osten passiert? Mit viel Sachverstand, GefĂŒhl und Ironie richtet der ehemalige al-Dschasira-Korrespondent einen speziellen, arabischen Blick auf die krisenhaften Entwicklungen der letzten 25 Jahre zwischen dem Westen und der Arabisch-Islamischen Welt.Der Autor zeichnet die unsichtbare Verbindungslinie zwischen dem Islamischen Staat, dem Arabischen FrĂŒhling, dem Irak-Krieg, den Angriffen vom 11. September und dem zweiten Golfkrieg. Er versucht das Muster hinter dem Chaos zu erkennen und nimmt dabei seine Leser mit auf eine spannende analytische, journalistische und biografische Reise.Das Buch ist ein Aufschrei gegen Erdöl-, Anti-Terror-, PrĂ€ventiv-, Demokratisierungs-, Schutzverantwortungs-, Regime-Change- und Wie-Auch-Immer-Kriege im Nahen und Mittleren Osten, mit besonderem Augenmerk auf Medien und Kriegspropaganda."Weder wĂŒstengelb, noch himmelblau: Blutrot war die eigentliche Farbe von Bagdad im Jahr 2003, denn das Zeitalter des gesichtslosen Todes war angebrochen." Aktham Suliman

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Information

Jahr
2017
ISBN
9783939816416

„Arabischer FrĂŒhling“ mitten im Winter

Hinter dem Fenster im 17. Stock des BĂŒrohochhauses in Berlin Mitte erstreckte sich das Weiß, das die Straßen und DĂ€cher Berlins zu Beginn des Jahres 2012 bedeckte. Die weibliche Stimme am Telefon klang freundlich, konnte aber die EnttĂ€uschung kaum verbergen. „Schönen Tag noch!“, wĂŒnschte sie mir anschließend mit einem kĂ€lteren Ton als die Temperaturen draußen und beendete das kurze GesprĂ€ch. Es ging darum, ob ich die von mir bereits mehrfach öffentlich geĂ€ußerte Meinung gegen eine westliche militĂ€rische Intervention in Krisengebiete, zum Beispiel in Syrien, nach wie vor vertrete. „Ja“, antwortete ich knapp auf die Frage der Redaktionsassistentin einer bekannten deutschen politischen TV-Talkrunde. Gesucht war aber ein anderes „Ja“, ein syrisches „Ja zur Intervention“. Denn Betroffene aus Nahost, die nach rettenden Bomben aus dem Westen rufen, schmeicheln diesem, sind ein dramaturgischer Volltreffer und zwingen durch ihre vermeintliche AuthentizitĂ€t jeden Kriegsgegner in der Runde zum Schweigen.
Der BĂŒroleiter von Al-Dschasira in Deutschland wĂ€re eine ideale Besetzung fĂŒr diese Rolle gewesen. Denn der bekannteste arabische Nachrichtensender verfolgte seit 2011 eine Linie, die westliche militĂ€rische Interventionen nicht nur hinnimmt, sondern plakativ als humanitĂ€r ansieht, fordert und propagiert. Aus dieser Verwandlung ergab sich auch der mittlerweile schlechte Ruf des Senders zum Beispiel bei intellektuellen arabischen Kreisen, keinen kritischen Journalismus mehr in der Berichterstattung zur NATO zu vertreten, sondern stattdessen zu ihrem Sprachrohr zu degenerieren und Verrat an der ehemals eigenen rebellischen Haltung zu ĂŒben. Ausgerechnet der Alternativsender Al-Dschasira, dessen Berichterstattung ĂŒber den Irak noch 2004 von US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld als „bösartig, unprĂ€zise und nicht verzeihbar“ kritisiert worden war, wurde spĂ€testens im FrĂŒhjahr 2011 zum Mainstream-Medium auf internationaler Ebene. Er wurde sogar ausdrĂŒcklich von der damaligen US-Außenministerin Hillary Clinton (2009-2013) vor dem US-Kongress bei einer Debatte zur Medienpolitik gelobt. „Al-Dschasira macht echte Nachrichten“, sagte Clinton damals im Rahmen ihrer Kritik an US-Medien. Irgendetwas muss in der Zwischenzeit geschehen sein.
Irgendetwas geschieht immer in Zwischenzeiten. Auch unter der Erde: Anfang 2012 war von Atwar Bahjat auf dem Friedhof in Bagdad, Mazen al-Tmaizi nahe Hebron und Rasheed Hameed Waali in Nadschaf wahrscheinlich nicht viel ĂŒbriggeblieben. Der Tod ist gewissermaßen materiell recherchierbar: Innerhalb von Sekunden nimmt die HirnaktivitĂ€t bis zum totalen Versagen ab. Innerhalb von Minuten sterben die Zellen an Sauerstoffmangel. Die Körpertemperatur sinkt um 1 bis 2° Celsius stĂŒndlich bis auf Raumtemperatur. Die Haut weist Totenflecken auf, wird trocken, schrumpft zusammen und wirkt blass. Ein bis zwei Stunden darauf tritt die Totenstarre ein und hĂ€lt dann bis zu zwei oder drei Tagen an. Dann setzen FĂ€ulnis und Verwesung ein, wobei Maden binnen einer Woche mehr als die HĂ€lfte des Körpers zersetzen. Die Bakterien vollenden schließlich die Arbeit, so dass nach ungefĂ€hr vier Monaten nur noch Knochen vorhanden sind. Das gilt allerdings nur ĂŒber der Erde. Unter der Erde dauert die Zersetzung, je nachdem, wie viel Sauerstoff, Wasser und andere Stoffe vorhanden sind, unterschiedlich lange. Normalerweise ist alles Gewebe nach zwölf Jahren, sind die meisten Knochen nach dreißig Jahren zersetzt. Auf nichtmaterieller Ebene der Erinnerung an Atwar Bahjat, Mazen al-Tmaizi, Rasheed Hameed Waali und viele andere Getötete war Anfang 2012 jedoch noch so viel ĂŒbrig, dass nicht nur fĂŒr mich die Frage einer Intervention von außen in den Nahen Osten geklĂ€rt war und zwar mit der endgĂŒltigen Antwort: Nein!
Der Tod hat sich, was das Nichtmaterielle angeht, ohnehin im Zeitalter des Internets radikal verĂ€ndert. Die Toten leben im Netz weiter oder werden durch neue Informationen, Bilder und Töne immer wieder zum Leben erweckt. Zwei Monate nach dem Tod von Atwar Bahjat verbreitete die britische Sunday Times die Meldung, ein Video von Atwars Ermordung erhalten zu haben. Es stellte sich jedoch nach genauer Recherche heraus, dass es sich um eine andere Geisel handelte. Drei Jahre nach ihrem Tod meldeten die irakischen Behörden 2009 erneut die Verhaftung und spĂ€ter die Exekution des vermeintlichen Mörders von Atwar Bahjat, eines Mitgliedes der dschihadistischen Gruppe „Mohammed-Armee“. Sein GestĂ€ndnis wurde im irakischen Fernsehen gezeigt und kursierte spĂ€ter im Netz. Doch nicht nur bei Atwars Familie herrschte große Skepsis gegenĂŒber den offiziellen Verlautbarungen der Behörden in einem chaotischen Staat wie dem Irak nach der „Befreiung“, zumal die gleichen Behörden bereits 2006 eine andere Person, ein Al-Qaida-Mitglied, als Mörder beschuldigt hatten.
Auch Mazen al-Tmaizi tauchte einige Jahre nach seinem Tod durch ein eindringliches Video im Netz auf. Es war die Aufnahme der Kamera, in die er 2004 sprach, als er getroffen wurde. Man sah ihn vor einer Menschenmenge im Hintergrund, die um das angegriffene amerikanische Panzerfahrzeug versammelt war, wĂ€hrend er sagte: „Die rosa TrĂ€ume, welche die Amerikaner dem irakischen Volk ausmalten, werden jeden Tag von der Wirklichkeit im Irak eingeholt, dessen StĂ€dte und Straßen zum Schlachtfeld wurden.“ Danach ein lauter Knall und das ziellose Wackeln einer Kamera in der Hand eines unter Schock umherirrenden Kameramannes. Diese lief weiter und nahm die schreiende Stimme des schwerverletzten Mazen auf: „Ich werde sterben! Ich werde sterben! Ich werde sterben!“ Recht wird er behalten in beiden seiner Aussagen: zur Lage im Irak und zum eigenen Schicksal – ein guter Journalist eben.
Der Irak-Krieg von 2003, seine Erfahrungen und Folgen waren im FrĂŒhjahr 2012 in den Augen westlicher Medienmacher fast gĂ€nzlich verblasst. Das erklĂ€rt wahrscheinlich das lautstarke Auftreten der BefĂŒrworter von MilitĂ€reinsĂ€tzen in den Medien und die Suche nach einem syrischen BefĂŒrworter einer westlichen Intervention in Syrien fĂŒr die oben erwĂ€hnte Talkrunde. Zwischen 2003 und 2012 Ă€nderte sich atmosphĂ€risch zwischen dem Westen und der Arabisch-Islamischen Welt tatsĂ€chlich einiges, oft auf turbulente Art und Weise.
In einer ersten Phase unmittelbar nach dem Irak-Krieg brachen Konflikt- und Spannungsherde mit der Arabisch-Islamischen Welt ĂŒberproportional schnell, oft und stark auf. Dazu gehörten unter anderem die Mohammed-Karikaturen der dĂ€nischen Tageszeitung Jyllands-Posten im September 2005 und der Vortrag von Papst Benedikt XVI. ein Jahr spĂ€ter an der UniversitĂ€t Regensburg, in dem er eine Aussage aus dem Mittelalter zur vermeintlichen Verbreitung des Islam mit dem Schwert zitierte. Solche Themen waren bezeichnend fĂŒr diese Phase, wurden aber kurzerhand als fĂŒr sich stehende Kultur- und Islam-Themen abgetan. Dabei wĂ€ren aus arabischer Sicht die Proteste und Demonstrationen in den HauptstĂ€dten Nordafrikas sowie des Nahen und Mittleren Ostens gegen die Karikaturen und den Vortrag des deutschen Papstes Benedikt XVI. (Joseph Ratzinger, 2005-2013) ohne den Irak-Krieg wesentlich moderater ausgefallen. Denn viele reagierten dort spontan aus dem GefĂŒhl heraus: Zuerst besetzt der Westen den Irak, und nun beleidigt er durch seine Medien und Geistlichen auch noch unseren Propheten und unsere Religion. Im Westen wollte aber in jenen Jahren kaum jemand solche feinen ZusammenhĂ€nge sehen und begreifen. Es war einfacher, all diese VorgĂ€nge nur auf ein angebliches Bilderverbot im Islam oder fehlenden Humor bzw. fehlende Toleranz der Muslime zurĂŒckzufĂŒhren.
Das VerhĂ€ltnis des Westens zum Islam sollte sich allerdings in einer zweiten Phase spĂ€testens mit der Wahl des neuen amerikanischen PrĂ€sidenten Barack Hussein Obama Ende 2008 merklich Ă€ndern. Auch wenn lokale Versuche der Entspannung, wie die Islamkonferenz in Deutschland ab 2006, vielerorts im Gange waren; nur der sympathische, relativ junge Schwarzamerikaner konnte dem Ganzen eine internationale Dimension geben. Bereits im Wahlkampf hatte er versprochen, die amerikanischen Soldaten zurĂŒck nach Hause zu bringen; eine gute Nachricht fĂŒr die Arabisch-Islamische Welt. Keiner konnte damals ahnen, dass der Abzug von US-Soldaten vielerorts durch den Einsatz von Drohnen kompensiert werden wĂŒrde, dass Blut weiter fließen wĂŒrde, nur eben anders.
Im Juni 2009 prĂ€sentierte sich Barack Obama sogar einem breiten muslimischen Publikum an der UniversitĂ€t Kairo bei einer Grundsatzrede zum VerhĂ€ltnis USA-Islam, zur Demokratie und zu seinen Ansichten in Bezug auf den arabisch-israelischen Konflikt. Die USA befĂ€nden sich nicht im Krieg mit dem Islam, versicherte er in der Rede und stellte fest, dass der Islam „nicht Teil des Problems im Kampf gegen den gewaltsamen Extremismus“ sei, sondern „ein wichtiger Teil, den Frieden voranzubringen“. Obama bekannte sich zur Demokratie und zur UniversalitĂ€t der Menschenrechte, bemerkte aber zugleich relativierend: „Kein Regierungssystem kann oder sollte einem Land von irgendeinem anderen Land aufgezwungen werden.“ Das war eine fĂŒr die Araber besonders beruhigend klingende Aussage des neuen US-PrĂ€sidenten in Anbetracht der Erfahrung mit seinem VorgĂ€nger George W. Bush. Nicht nur die Arabisch-Islamische Welt atmete vorerst auf und dachte: Alhamdulillah (Gott sei Dank)! Yes, he can!; endlich ein amerikanischer PrĂ€sident, der SensibilitĂ€t fĂŒr die Probleme, Sorgen und Ängste der Arabischen Welt aufbringt. Keiner konnte damals ahnen, dass die neue Rolle des Islam als Teil der Lösung beim Kampf gegen den „gewaltsamen Extremismus“ eher einen neuen regionalen Entwurf fĂŒr den Nahen Osten verbarg als einen tatsĂ€chlichen Gesinnungswandel der USA und des Westens.
Das fast völlige Verschwinden des Irak-Krieges aus dem westlichen GedĂ€chtnis war allerdings mit dem PhĂ€nomen des „Yes-we-can“-PrĂ€sidenten alleine nicht zu erklĂ€ren, auch wenn „Yes, we can“ auf Platz 10 der Wörter des Jahres 2008 stand. Zur weiteren ErklĂ€rung dieses Erinnerungsverlustes fehlte ein entscheidender Baustein, der erst in Nordafrika ins Rollen kam. Zum Jahreswechsel 2010/2011 brach eine Serie von Protesten, AufstĂ€nden und Unruhen in der Arabischen Welt aus, die sehr schnell auf den Namen „Arabischer FrĂŒhling“ getauft wurden. Wie bei dem Begriff „MĂ€dchenschulen“ in Afghanistan ist der Urheber auch hier unbekannt. Dieser „Arabische FrĂŒhling“ begann in Tunesien bereits Ende Dezember 2010 und setzte sich im Januar in Ägypten fort. Im Februar folgten Jemen, Libyen und Bahrain und schließlich Syrien im MĂ€rz 2011. Hinzu kamen noch kleinere Bewegungen in anderen arabischen Staaten. All das waren aus westlicher Sicht Aufsehen erregende Prozesse. Eine positive Folge war in der Tat, dass sich das Bild der Araber und Muslime kurzzeitig zum Positiven wandelte. WĂ€hrend bei den Wörtern des Jahres 2006 der „Karikaturenstreit“ auf Platz drei kam, besetzte bei den Wörtern des Jahres 2011 „Arabellion“ den gleichen Platz. Vor allem diese „Arabellion“ (Arabien + Rebellion) – wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung die AufstĂ€nde zu bezeichnen pflegte – ließ die Erinnerung an den Irak-Krieg 2003 verblassen.

Der Nahe Osten und der zu nahe Westen

Am frĂŒhen Morgen des 2. Mai 2011 wurde ein 54-jĂ€hriger Mann von US-Spezialeinheiten im Rahmen einer komplizierten MilitĂ€roperation in einem Haus in der pakistanischen Stadt Abbottabad erschossen. Sein Name war Osama bin Laden. An jenem Tag wurde zwar die Nachricht vom Tod des Chefs von Al-Qaida auf arabischen Bildschirmen wie dem von Al-Dschasira ausgiebig diskutiert. Das Thema verschwand jedoch bereits am nĂ€chsten Tag endgĂŒltig hinter den vielen Meldungen ĂŒber die minimalsten Entwicklungen des Arabischen FrĂŒhlings in Libyen, Syrien und dem Jemen. Kurzum: Mit dem Ausbruch des Arabischen FrĂŒhlings verblassten nach und nach nicht nur der Irak-Krieg, sondern auch der 11. September 2001 und seine vermeintlichen Hauptfiguren, die zuvor jahrelang mit dieser oder jener Video-Botschaft der Welt medial, politisch oder gar militĂ€risch schlaflose NĂ€chte bereitet hatten.
Interessant waren bei Al-Dschasira zudem die versöhnlichen Töne einiger Mitglieder der Muslimbruderschaft, der Osama bin Laden und sein Vize und Nachfolger Ayman al-Zawahiri in ihren AnfĂ€ngen angehörten. Die Studio- und Live-GĂ€ste aus der Ecke der MuslimbrĂŒder betonten auffĂ€llig einheitlich in den Interviews, dass Bin Laden bereits mit dem Ausbruch der „friedlichen“ Proteste in der Arabischen Welt einige Monate vor seinem Tod keinen Einfluss mehr gehabt habe. Das könne nun zur AnnĂ€herung zwischen den USA und der Islamischen Welt beitragen. Gemeint war, dass nach dem Arabischen FrĂŒhling die Bedeutung gewalttĂ€tiger „Protestler“ Ă  la Al-Qaida im islamistischen Lager verloren ginge. Des Weiteren wĂ€ren die MuslimbrĂŒder, nebenbei gesagt, als die grĂ¶ĂŸte, Ă€lteste und erfahrenste Kraft in jenem Lager inzwischen bereit zum das Regieren. Denn erstens hĂ€tten alle anderen Ideologien in der Region, außer der islamistischen, ausgedient und zweitens könne nur eine in vielen muslimischen LĂ€ndern verbreitete, sozusagen eine soft-islamistische Gruppe die Hardcore-Islamisten des Dschihad beruhigen bzw. in Schach halten. Man wolle, um den Worten von Obama in Kairo knapp zwei Jahre spĂ€ter freundlich zu begegnen, Teil der Lösung, nicht des Problems sein. Die USA anzusprechen schien deswegen politisch sinnvoll und taktisch notwendig, weil das Regieren in LĂ€ndern wie Tunesien oder Ägypten zu Beginn des neuen Jahrzehnts im „Amerikanischen Jahrhundert“ ein sehr entspanntes VerhĂ€ltnis zum HĂ€uptling des Westens erforderte. Ansonsten könnte man wirtschaftlich sowie politisch boykottiert, sabotiert und gelĂ€hmt werden, wie es der Hamas, dem palĂ€stinensischen Zweig der Muslimbruderschaft, nach dem Wahlsieg in den palĂ€stinensischen Gebieten im Jahr 2006 erging.
Alles in allem deutete sich im VerhĂ€ltnis zwischen den MuslimbrĂŒdern und dem Westen nach dem Arabischen FrĂŒhling eine Übereinkunft an. Der Slogan der Islamisten lautete seit ihrer Entstehung: „Der Islam ist die Lösung“. Der des Westens: „Die Demokratie ist die Lösung“. Mathematisch und opportunistisch ergibt sich folgende Formel hieraus: (Islam + Demokratie) ist die Lösung. Opportunistisch waren beide Parteien insofern, als jede von ihnen eigentlich die Ideologie des anderen verachtete, bekĂ€mpfte und sie nun nur als Mittel zum Zweck schlucken musste. Die Islamisten erhofften sich durch die Demokratie eine MachtĂŒbernahme mittels Wahlen in den jeweiligen LĂ€ndern, der Westen durch den Islamismus ein neues ordnendes Regional-instrument, das den westlichen sicherheitspolitischen und strategischen BedĂŒrfnissen dienen könnte.
Ab 2011 verbreitete sich im Westen flĂ€chendeckend der Begriff „gemĂ€ĂŸigte Islamisten“, der zuvor nur selten im westlichen Sprachgebrauch ErwĂ€hnung fand. Er wurde bis heute nicht definiert, beschreibt aber im Allgemeinen Gruppen, die westlichen Sicherheits-, Wirtschafts- und Politikinteressen nicht unbedingt feindlich gegenĂŒberstehen. Die negativ besetzte, radikale Al-Qaida wurde zumindest medial zum Auslaufmodell. Das neue Modell des Jahres 2011 hieß, ausgehend von Tunesien und Ägypten: die „gemĂ€ĂŸigte“ Muslimbruderschaft. Ein Jahr und drei gestĂŒrzte PrĂ€sidenten nach dem Arabischen FrĂŒhling war der Schmusekurs zwischen den USA und den Islamisten bei der – wo denn sonst? – MĂŒnchner Sicherheitskonferenz im Februar 2012 kaum zu ĂŒbersehen. In der Schlussveranstaltung der Konferenz sagte der damalige demokratische US-Senator Joseph Lieberman (1989-2013) in Anwesenheit des neuen islamistischen tunesischen MinisterprĂ€sidenten Hamadi Jebali (2011-2013): „Wir mĂŒssen unterscheiden zwischen radikalen gewalttĂ€tigen Islamisten wie Al-Qaida und dem iranischen Regime in Teheran einerseits und jenen gemĂ€ĂŸigten gewaltablehnenden Bewegungen, die etwa Herr Jebali vertritt, andererseits.“ Wer hĂ€tte gedacht, dass ungefĂ€hr 10 Jahre nach dem 11. September diese versöhnlichen, ja lobenden Worte ĂŒber die traditionsreichste Bewegung des politischen Islam ausgerechnet aus amerikanischem Munde zu hören sein wĂŒrden?
Diese neuen US-Ansichten fanden – wie so oft – wenig spĂ€ter auch in Europa Widerhall. In den Jahren unmittelbar nach dem 11. September 2001 sah der westliche Blick in fast jedem Terroranschlag einen islamistischen und in fast jedem Muslim einen Islamisten. SpĂ€testens jedoch mit dem Arabischen FrĂŒhling 2010/2011 hieß die Devise: Man mĂŒsse differenzieren, Terror gehöre keiner Religion an und die ersten Opfer des Terrorismus seien Muslime. Nicht, dass das grundsĂ€tzlich nicht stimmte und diese lang ersehnte und nun endlich seitens des Westens erfolgte Erkenntnis einen selbst nicht freuen wĂŒrde. Araber und Muslime haben schließlich ĂŒber Jahre versucht, just diese einfachen Punkte hervorzuheben und blieben ungehört. Dennoch enthielten die Äußerungen Joseph Liebermans einen komischen, nicht definierbaren Beigeschmack: Warum wurde das, was gewöhnliche Muslime seit langem ĂŒber ihre Religion predigen, erst im Zusammenhang mit bestimmten Islamisten salonfĂ€hig, gar erklĂ€rte Staatspolitik westlicher LĂ€nder? Warum wurden einerseits die MuslimbrĂŒder gelobt, andererseits der Iran und Al-Qaida in einem Atemzug erwĂ€hnt? Ging es dem Westen um Deeskalation oder um einen neuen regionalen Frontverlauf? Denselben unangenehmen Beigeschmack hatten auch das Bild und die Worte der damaligen US-Außenministerin Hillary Clinton Mitte MĂ€rz 2012 bei ihrem Besuch auf dem Tahrir-Platz in Kairo, dem Hauptschauplatz des Arabischen FrĂŒhlings: „Den Platz zu erleben, auf dem die Revolution stattfand, die so viel fĂŒr die Welt bedeutet, ist ein außerordentliches GlĂŒck fĂŒr mich.“ Dabei standen die USA dem alten „Regime“ in Ägypten unter Muhammad Husni Mubarak mitnichten fern, sondern galten als seine ersten und besten politischen, militĂ€rischen und wirtschaftlichen UnterstĂŒtzer. Was war zwischenzeitlich geschehen?
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Der im Mai 2011 getötete Al-Qaida-Chef und erklĂ€rte US-Feind Osama bin Laden sowie der im Februar 2011 gestĂŒrzte Ă€gyptische Staatschef und erklĂ€rte US-Freund Muhammad Husni Mubarak gehörten mit dem bereits im Januar 2011 vor Unruhen geflĂŒchteten tunesischen PrĂ€sidenten...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Statt einer Einleitung: Eine Gebrauchsanweisung
  6. Mit dem Zweiten (Golfkrieg) sieht man besser
  7. Der 11. September: Der Tag nach dem 10. September
  8. Der Irak-Krieg: „Schrecken und Furcht“ ohne Ende
  9. „Arabischer FrĂŒhling“ mitten im Winter
  10. Statt eines Schlussworts: Des RÀtsels Lösung?
  11. Personenregister
  12. Karte Nordafrikas und des vorderen Orients