Woche 1
Fluchterfahrungen
1.1 Auf der Flucht
Es gibt keine weltweite »Flüchtlingskrise«, sondern eine Weltkrise, die Fluchtbewegungen erzeugt.
—Klaus Jürgen Bade
■ Noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg waren so viele Menschen auf der Flucht wie heute: 2014 waren es weltweit 59,5 Millionen Menschen, 16 Prozent mehr als im Jahr zuvor. Sie entfliehen politischer oder religiöser Verfolgung, Krieg, Folgen von Naturkatastrophen und zerfallenen Staaten. Die meisten Flüchtlinge bleiben als Binnenvertriebene im eigenen Land oder retten sich in Nachbarländer. Etwa 53 Prozent aller Flüchtlinge weltweit kommen derzeit aus Afghanistan, Syrien und Somalia. Die Länder, die am meisten Flüchtlinge aufnehmen, sind Pakistan, Iran, Libanon, Jordanien und die Türkei. So genannte Entwicklungsländer nehmen ungefähr 86 Prozent der Flüchtlinge auf. Fluchtwege unterscheiden sich sehr. Es gibt einen geringen Teil Kontingentflüchtlinge. Das heißt, eine bestimmte Zahl von Flüchtlingen wird auf Kosten der Regierung in das jeweilige Land eingeladen. Der andere Weg nach Europa ist die selbst organisierte Flucht – oft mit Hilfe von Schleusern. Die lebensgefährlichen Fluchtrouten führen durch Wüste, Kriegsgebiete und über das Mittelmeer nach Griechenland oder Italien. In manchen europäischen Ländern erleben Geflüchtete oft menschenunwürdige Behandlung und ziehen weiter. Flucht verlangt enorme Kraft, deshalb werden vor allem gesunde junge Männer auf den Weg geschickt. Die Familien verkaufen oft allen Besitz, um die Flucht zu bezahlen. Das Risiko ist hoch, doch es scheint alternativlos zu sein. Die Hoffnung der ganzen Familie liegt auf diesen Männern.
■ Denk mal
Stell dir vor, dein Heimatland wäre Somalia oder Syrien. Was würdest du tun?
■ Mach mal
Informiere dich über die weltweiten Flüchtlingsströme.
1.2 Verlust von Heimat
Gibt’s kein höheres Übel doch als den Verlust der Heimat.
—Euripides
■ Flucht ist immer unfreiwillig, egal ob der Grund Krieg und Vertreibung, politische, ethnische oder religiöse Verfolgung, Naturkatastrophen oder Armut ist. Flucht bedeutet Verlust von Heimat und die Trennung von geliebten Menschen. Man verliert kulturelle und emotionale Sicherheit und die Unterstützung durch das Beziehungsnetz. Die meisten Flüchtlinge möchten gern bald wieder zurückkehren. Manche erlernen bewusst Berufe, mit denen sie später beim Wiederauf bau in ihrer Heimat helfen können. Sie sind auch Hoffnungsträger. Im Durchschnitt erfolgt die Rückkehr erst nach 18 Jahren – wenn sie überhaupt möglich oder dann noch gewollt ist. Viele Flüchtlinge wurden misshandelt und mussten Gräuel mitansehen, die nahen Menschen angetan wurden. Die Angst um das eigene Leben und das Leben der Familie begleitet sie Tag und Nacht. Die Flucht dauert oft monatelang, häufig ohne Zugang zu Nahrungsmitteln und sauberem Wasser. Tausende sterben auf der Flucht.
Wenn sie die Strapazen überleben, kommen Flüchtlinge meist traumatisiert und in schlechtem Gesundheitszustand an. Im Gegensatz zu physischen Verletzungen, die medizinisch behandelbar sind, bleiben die posttraumatischen Belastungsstörungen oft lange bestehen. Emotionaler Rückzug, Schlafstörungen, Angst und Depression können Folge von traumatischen Erlebnissen sein. Traumabewältigung ist möglich, doch der Verlust der Heimat bleibt.
■ Denk mal
Was bedeutet Heimat für dich? Welche Gefühle verbindest du damit?
■ Mach mal
Notiere dir 20 Dinge, was für dich Heimat bedeutet. Überlege dir, wie und mit wem du ein Stück Heimat teilen kannst.
1.3 Ankunft in Deutschland
Unterdrückt die Fremden nicht, die bei euch leben.
—Die Bibel, 3. Mose 19,33
■ Flüchtlinge kommen einerseits froh über das Ende der Flucht, andererseits oft emotional gestresst im Zielland an. Die Erinnerung an ihre zerstörte Heimat, Albträume aufgrund der Erlebnisse, die Trauer um verstorbene Familienmitglieder und eine ungewisse Zukunft in einem fremden Land prägen ihren Alltag.
Die Lebensumstände von Menschen im Asylverfahren sind nicht einfach. Meist leben Flüchtlinge in Gemeinschaftsunterkünften mit mehreren fremden Menschen in einem Zimmer. Die Bürokratie des Verfahrens ist für viele nur schwer verständlich, die Sprachbarriere kommt außerdem noch hinzu.
Der rasante Anstieg der Flüchtlingszahlen überfordert viele Kommunen. Es fehlen ausreichend Mitarbeiter und passende Unterkünfte. In den eingerichteten Notunterkünften in Turnhallen und Messehallen gibt es praktisch keine Privatsphäre mehr. Gelegentlich kommt es in den Unterkünften auch zu Auseinandersetzungen. Die Residenzpflicht – die Auflage, sich während des Asylverfahrens in einem bestimmten Bundesland aufzuhalten – erschwert den Besuch vertrauter Menschen. Schlimmer noch sind die Brandanschläge auf Unterkünfte, Übergriffe und Kundgebungen gegen Flüchtlinge.
Im ersten Halbjahr 2015 wurden laut Bundesinnenministerium bundesweit über 200 Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte gezählt. Krieg und Verfolgung entronnen, sind die Flüchtlinge auch in scheinbar sicheren Ländern nicht immer sicher.
■ Denk mal
Wann hast du mit vielen Leuten über mehrere Tage in einem Zimmer geschlafen? Wie hast du das erlebt?
■ Mach mal
Beteilige dich an Aktionen gegen Rassismus, zum Schutz von Flüchtlingen und für eine Willkommenskultur.
1.4 Suche nach Sicherheit
Jeder hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person.
—Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (UN), Artikel 3
■ Die meisten Flüchtlinge, die aktuell Deutschland erreichen, kommen aus Syrien und den Balkanstaaten – vor allem aus dem Kosovo. Sie beantragen hier Asyl. Und doch unterscheidet sich ihre Aussicht auf einen Neuanfang drastisch.
In Syrien hat eine fünf Jahre anhaltende Dürre die Existenz von Millionen zerstört, dann kam der Bürgerkrieg. Die Hälfte der Einwohner sind auf der F...