Noch 172 Tage bis zum Sommer
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Noch 172 Tage bis zum Sommer

Eine istrische Reise

  1. 160 Seiten
  2. German
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  4. Über iOS und Android verfügbar
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Noch 172 Tage bis zum Sommer

Eine istrische Reise

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Über dieses Buch

Der Duft des Südens: Geschichten von reifen Früchten, frischer Meeresbrise und einem historisch getränkten Landstrich.Wo beginnt der Süden, wo Istrien? Beginnt der Süden nach Rijeka, bei der einzigartigen Brücke über den Fluss Rijecina, oder dort, wo man das erste Mal den Duft von Tomaten und Meer riecht? Klima, Landschaft, Geschichte haben die Menschen, die Kultur, die Küche Istriens geprägt. Lidija Klasic ist dem Zauber dieses Landstrichs erlegen und sie ist tief den Menschen hier verbunden: sei es der Schweizer Köchin in einem entlegenen Hotel oder der Freundin, die, dort wo die Eulen wohnen, zu anregenden Grillabenden lädt. Klasic erzählt von einem Brief, den Nora Joyce ihrem Mann von einem Kuraufenthalt in Karojba schickt, sie spürt den Wurzeln eines bedeutenden jüdischen Erfinders nach und berichtet von einer Berliner Straßenbahn in Rovinj.

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Information

Jahr
2017
ISBN
9783990370674

Ein Vorort von Venedig

„Rovinj ist nicht Venedig, aber doch“, sagt B., während wir langsam hinauf in Richtung der alles überragenden Kirche der heiligen Euphemia steigen. Auf den ersten Blick ist das alte, auf einer Insel gebaute Fischerdorf, das Rovinj einst war, das krasse Gegenteil von Venedig. Hohe Steinhäuser, die Gassen der Altstadt gepflastert und steil. Aber in der Sonne funkeln die Steine wie Wasser, durch Millionen von Schritten über Hunderte von Jahren blankpoliert. Auch der Kirchturm hoch oben ist eine vollkommene Kopie des Campanile auf der Piazza San Marco.
Mehr als fünf Jahrhunderte war Rovinj eng mit der Republik in der Lagune verbunden, fast wie ein Vorort von Venedig. Dazwischen liegt zwar ein Meer, und um dieses zu überwinden, mussten sich die Galeerensklaven eine ganze Woche ins Ruder legen. Heute braucht das Tragflügelboot, das jeden Morgen Touristen „rüber“ und abends zurückbringt, für die ungefähr dreißig Seemeilen weniger als zwei Stunden. Ich glaube sogar, bei klarem Wetter, nach Regen, von unserem Dachfenster aus die Umrisse von Venedig mit freiem Auge gesehen zu haben. Auch der Nebel, der sich auf dem Nachthimmel über dem Meer erhob, könnte eine luftige Widerspiegelung der Lagunenstadt gewesen sein.
Was ich an Rovinj am meisten mag, ist der Ausblick vom Fenster. Von der Loggia sehen wir die Dächer, das Meer, den Hafen Valdibora und den Berg, bis hin zum Glockenturm des Franziskanerklosters, das, von Zypressen umgeben, toskanisch aussieht. Aber am schönsten ist es, die Möwen von oben zu beobachten. Geschickt zwischen der Kirche, dem Meer und den Häusern steuernd, segeln sie in weiten Kreisen ohne Anstrengung im Wind.
In venezianischen Zeiten konnte nur derjenige zum Bürger der damaligen, von Mauern mit sieben Toren umfriedeten, übervölkerten Stadt mit den höchsten Häusern in Istrien werden, der einen Platz zum Wohnen hatte. Das Vorhandensein einer Feuerstelle wurde mit einem Schornstein bewiesen. Deshalb sind die Dächer der Altstadt von Rovinj eine richtige kleine Stadt auf der Stadt, jeder Schornstein sieht anders aus, geschmückt mit kleinen Dächern, ein Höhenflug der Maurerfantasie. Heute sind diese Schornsteine denkmalgeschützt, aber eigentlich gehören sie den Möwen. In ihrem Schutz füttern sie ihre Jungen, unterweisen sie in ersten Flugversuchen. Von den Spitzen der Schornsteine aus bewachen sie alles. Wenn sie auf dem Wasser nur ein Stück Brot erblicken, werfen sie sich im Sturzflug darauf. Vor einem Unwetter werden sie nervös, heben ab, landen, krächzen, stieben an den Köpfen der Passanten vorbei und prallen ineinander. Während es regnet, verschwinden sie, nach dem Sturm sind sie am zahlreichsten, sie ziehen Kreise, scheinbar ohne Grund, ich glaube, dass sie sich einfach vergnügen, lachend in der sauberen Luft, wie Kinder in einem Vergnügungspark. Wenn sie ganz nah am Fenster vorbeifliegen, scheinen sie mir wie große, in Gedanken versunkene Fische mit Flügeln. Jemandem zu sagen, dass er ein Vogelhirn hat, ist eine Beleidigung, obwohl ich nicht weiß, warum – sie fliegen für uns, anstatt um uns herum wie unsere Gedanken, Wünsche und unser Trost, sagt der Dichter. In vielerlei Hinsicht übertreffen sie uns Menschen: Sie sind frei, bescheiden, leben im Einklang mit der Natur und haben keine Vorurteile. Vielleicht gibt es auch eine Erinnerung der Vögel an Vergangenes. Ich weiß nicht, wie lange eine Durchschnittsmöwe lebt, aber die Generationen von Möwen in Rovinj haben einiges gesehen.
Nachdem in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Enge zwischen der Insel und dem Festland zugeschüttet worden war, wurde Rovinj zur Halbinsel und entwickelte sich rasant. Es ist kaum zu glauben, dass Rovinj am Ende des 18. Jahrhunderts mit tausend Häusern und zehntausend Einwohnern neben Dubrovnik die größte Stadt an der Küste war. Pula zählte zu dieser Zeit 590 Bürger und neun Soldaten. Unter der österreichischen Verwaltung begann für Rovinj das industrielle Zeitalter. Neben einer Kalk- und Zementfabrik auf St. Andrea, heute Crveni Otok, wurden eine Tabakwaren-, eine Wachs-, eine Glas- und gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine Sardinenfabrik, eine Seifenfabrik, eine Tuchfabrik, eine Teigwarenfabrik und eine Essigfabrik gebaut. Auf der Felsenklippe Arno Longo, unterhalb des Leuchtturms, wurden zuerst Wachs und dann Liköre produziert. Heute schaut der niedrige, längliche Bau durch große Fenster mit zerschlagenen Scheiben aufs Meer; viele Touristen wundern sich, warum ein so schönes Gebäude verkommt. Der dort produzierte „Amaro Istria“ bekam 1907 auf der Lebensmittelausstellung in Paris eine Goldmedaille. Zu dieser Zeit hatte Rovinj sechs Schiffswerften – in der Stadt lebten 700 Fischer mit 204 Booten und mehr als zehntausend Fischernetzen –, einen Fracht- und einen Passagierhafen mit einer langen Mole sowie mehrere Bordelle, von denen das bekannteste „Betlehem“ hieß. 1865 bekam Rovinj ein Theater, 1888 wurde das Krankenhaus im Borik gebaut, das heute noch in Betrieb ist.
Im Jahre 1906 wurde ein Telefonnetz angelegt, nachdem im Jahr zuvor eine Gas-Straßenbeleuchtung eingerichtet worden war sowie fließendes Wasser und eine Kanalisation von Valdibora bis zum Krankenhaus, allerdings nicht in die Altstadt ging. Noch in den Sechzigerjahren, als in die verlassenen Häuser Künstler aus ganz Jugoslawien zogen, traf B. morgens alte Rovigneserinnen, die ihre Nachttöpfe austrugen, um sie ins Meer zu leeren. Wasser musste man von der öffentlichen Pumpe, die noch immer auf dem Marktplatz, gegenüber dem Theater, steht, bis zur Kirche hinauftragen. Die einen gingen, um Wasser zu holen, die anderen, um eine Theatervorstellung zu sehen.
Heute ist die Wasserpumpe von Verkaufsständen des pittoresken Marktplatzes umkreist, auf dem man außer den gewohnten Händlern auch Menschen aus der Umgebung finden kann, die ihre Karotten, ungespritzten Äpfel, unregelmäßig geformten Kartoffeln und andere unscheinbare Gemüsesorten von wunderbarem Geschmack aus dem eigenen Garten verkaufen. Der Marktplatz hat seine Geheimnisse, seine Hackordnung und seine Gesetze, die Touristen meist verborgen bleiben. Am ersten Stand rechts, direkt neben dem Fischmarkt, regierte jahrelang Frau Pepa, „gospa Pepa“, eine zierliche Rovigneserin, die alles über ihre Kunden wusste. Wenn jemand einen Sommer lang nicht vorbeischaute, fragte sie nach seiner Gesundheit, verschickte Grußkarten an Geburts- und Jahrestagen. Auch als ihr Schwiegersohn zum Eigentümer der Tabakwarenfabrik und damit zum reichsten und mächtigsten Mann der Region wurde, kam sie auf den Markt und hielt es für eine Ehrensache, die beste Ware anzubieten. Erst als ihr Mann krank wurde, zog sie sich zurück. Unsere Fikreta, eine Bosnierin aus der Gegend von Brčko, die der Krieg nach Rovinj verschlagen hat, hat ein bemerkenswertes Handelstalent. Immer verschenkt sie etwas – zu Pilzen etwas Knoblauch und Petersilie, zu Tomaten etwas frisches Basilikum. Wir senden ihr Neujahrskarten an die Adresse „Fikreta, Marktplatz Rovinj, Verkaufsstand Mitte rechts“. Am Ende der nächsten Bank Frau Kate aus der Umgebung von Žminj, die als Einzige Zucchiniblüten anbietet. Beim rotbackigen, immer gut gelaunten Bauern aus Gračišće, der gute Kartoffeln hat, kann man das beste Mehl Istriens aus der Mühle in Roč bestellen – unabdingbar für eine perfekte Focaccia. Auch für gute Gnocchi, sagt Femi, die für sich und ihre Schwester Delija jeden Tag auf dem Markt das Beste aussucht.
Dass am Ufer der Valdibora, wo heute Luxusjachten anlegen, vor weniger als einem halben Jahrhundert Berge von rotem Bauxit lagen, genau gegenüber von jenem Haus, in dem unsere Freundin Ljuba ihre Kindheit verbracht hat, kann man sich schwer vorstellen. Ljubas Familie wohnte in einer roten Villa mit Stuck und einem Garten mit Palmen, Lorbeersträuchern und Oleander, direkt am Meer über den Räumen des meeresbiologischen Instituts, das ihr Vater leitete. Die „Zoologische Station des Berliner Aquariums“ in Rovinj wurde im Jahre 1891 eröffnet. Nach den bahnbrechenden Weltumsegelungen der Briten wollte keine der großen Nationen in der ozeanografischen Forschung zurückbleiben, und so gründeten die Deutschen mit einem Etat von jährlich 30 000 Reichsmark eine meeresbiologische Station in Rovinj. Zuerst sollten hier nur Meerestiere für das Berliner Aquarium beschafft werden, doch bald stellte sich heraus, dass das kristallklare Wasser und der Reichtum der hiesigen Unterwasserwelt ernstere Forschungsaufgaben ermöglichten. Immer mehr Forscher kamen nach Rovinj; die kleine Station wurde zum beliebten Treffpunkt der europäischen wissenschaftlichen Elite, wo sich auch so hochgeschätzte Persönlichkeiten wie der preußische Mediziner Rudolf Wirchow einfanden. Schon hochbetagt, besuchte er mehrmals Rovinj und verbrachte danach immer „einige vergnügliche Tage auf der Insel St. Andrea“, da er mit der Familie Hütterott befreundet war. Später wurde nach ihm der erste Dampfer benannt, mit dem die Forscher Sammelexpeditionen bis in die Boka Kotorska unternahmen.
Als Dr. Gamulin die Station übernahm, musste sie nach den Kriegsplünderungen wieder in Schuss gebracht werden. Intensiver als mit klassischen biologischen Studien beschäftigte man sich mit der Marikultur. Der Wissenschaftler musste täglich mehrere Hundert Austern erforschen, die danach an die Angestellten verteilt wurden. „Meine Mutter kannte hundert Muschelrezepte, jeden Tag hat sie sie anders zubereitet, trotzdem konnten wir sie nicht mehr sehen. In unseren ärmsten Jahren aßen wir nur Austern“, erinnert sich Ljuba an die Nachkriegszeit. Noch heute bevorzugt sie kleine, einfache Fische, Sardellen und Anchovis, die sie, frühmorgens direkt vom Fischerboot gekauft, meisterhaft zuzubereiten weiß.
Der frühe Morgen ist die schönste Zeit im sommerlichen Rovinj. Die Straßen sind frisch und leer, das Meer, wenn man es vom kleinen Aussichtspunkt unter der Kirche aus betrachtet, ist durch einen luftigen Streifen bläulichen Nebels am Horizont mit dem Himmel verbunden. Gegen sieben Uhr kehren die Fischer, von krächzenden Möwen begleitet, in den Hafen zurück. Obwohl schon die Kühlwagen warten, mit denen das Beste vom Fang in Hotels, Restaurants und sogar zum Markt von Zagreb transportiert wird, kann man immer ein paar Fische kaufen, die noch vor einer Stunde im Meer geschwommen sind. Kleine, silberblaue Fische, noch starr, gebogen wie Kipferl und glänzend, mariniert, mit Tomaten, gebraten und auf andere Arten zubereitet, sind die demokratischste und gesündeste hiesige Nahrung und das, was die Stadt erhalten hat: In Rovinj befand sich bis zum Ersten Weltkrieg die größte Produktion von gesalzenem Fisch der östlichen Adria.
„Blaue Fischsorten müssen ganz frisch sein, bei Calamari und weißen Sorten ist es besser, wenn sie einen Tag abliegen“, sagt Tomislav Brajnović. An einem Sonntag im September waren wir seine Gäste im Brajnović-Turm an der Spitze von Rovinjsko selo, im weißen Atelier, einem charmanten Raum, in dem Brajnović arbeitet und ab und zu für Freunde kocht. Wir setzten uns an den altmodischen, mit einem dicken, weißen Tischtuch bedeckten Tisch – ich vergaß zu fragen, ob man solches Leinentuch auch als Maluntergrund verwenden kann. Neben den Tellern drei verschiedene alte Gläser mit vergoldetem Rand, jedes mit einer eigenen Geschichte. Tomislav Brajnović hatte einen Sugo mit Calamari zubereitet, Reis und zwei Salate: einen roten aus kleinen Tomaten und rotem Paprika und einen sehr grünen aus wildem Rucola – der Tisch sah wie ein Gemälde aus. Auf Zwiebeln, Knoblauch und Gewürzkräutern hatte er in Streifen geschnittene, kaum gewaschene Calamari gedünstet – es muss auch ein wenig Tinte dran bleiben – und sie erst mit Wein abgelöscht, als sie schon fast angebrannt waren. Er gab immer wieder Wein dazu, und in weniger als einer halben Stunde waren sie zart. Dazu Reis. Wir tranken Wein, den sie „1913“ nennen – nach jenem Jahr, in dem die Reben gesetzt wurden, von dem Weinberg in Radovani, um den Mario, wie er uns erzählt hatte, sich schon seit einigen Jahren nicht mehr kümmert. Die Reben tragen von allein, aber jedes Jahr weniger. Im nächsten Jahr wird es dort wahrscheinlich keine Trauben mehr geben. Wenn ein Weinberg stirbt, muss man alles rausreißen und neu anbauen. Tomislav Brajnović und sein Freund hatten diesen Wein selbst geerntet und auf ganz natürliche Weise gekeltert, dickflüssigen Malvazija mit natürlichem Schimmel, ohne auch nur eine Spur Schwefel oder irgendetwas anderes. Sie experimentierten und schafften es, dass der sonst liebliche Wein trocken wurde, indem sie die Fässer wärmten und damit den Gärungsprozess beschleunigten. Das Resultat war ein starker, komplexer Wein, der sich, nachdem er entkorkt wurde, öffnete und hervorragend zu diesem bescheidenen, intensiven Mahl passte. Wir redeten noch lange und aßen zum Dessert Melone zu einem italienischen Schnaps. Tomislav Brajnović zeigte uns einige Arbeiten: eine Zwei-Kuna-Münze, die er durchgeschnitten und eingerahmt hatte, sodass zwei Kuna daraus wurden, aber keine mehr etwas wert war. Aus einer alten Landkarte der Balkanhalbinsel hatte er Kroatien herausgeschnitten. Stattdessen blieb ein weißer Fleck, was eine Besucherin aus Zagreb schrecklich aufregte: Wie kann Kroatien ein Loch auf der Karte sein? „Und wenn man sagt, dass Kroatien auf dem Balkan liegt, regen sie sich genauso auf“, sagte Tomislav Brajnović. Die Reaktion zeigt, dass die Kunst ihren Zweck erfüllt hat.
Bevor wir Abschied nahmen, begrüßten wir noch den Rest der Familie, Tomislav Brajnovićs Vater, einen großen Mann mit einem weißem Haarkranz, und die stille Mutter, beide Maler. Ich frage mich, wie sie mit diesen künstlerischen Männern klarkommt – auch ihr Vater Željko und ihr Onkel Krsto Hegedušić waren berühmte kroatische Maler.
In Rovinj unterliegt auch das Kaffeetrinkengehen eigenen Regeln: Touristen trinken ihr Tässchen irgendwo, die jährlichen Sommerbewohner nur an zwei Plätzen – in der Rio-Bar oder im „Batana“. Das älteste Café in Rovinj ist eine Institution – wie seine Lage – unter dem Uhrturm, gegenüber vom Hauptstadttor mit dem venezianischen geflügelten Löwen, dort, wo der enge Meereskanal verlief, als Rovinj noch eine Insel war, und später die Straßenbahnschienen. Dass Rovinj schon am Ende des 19. Jahrhunderts via Kanfanar eine Eisenbahnverbindung hatte, trug viel zum Aufstieg der Stadt bei. Aus Wien kommend kam man mit dem Nachtzug um zehn Uhr morgens auf dem kleinen Bahnhof in der Bucht auf der anderen Seite der Stadt an, von wo eine von Pferden gezogene Straßenbahn die Reisenden ins Zentrum brachte. Vom Passagierhafen konnten sie mit dem Schiff nach St. Andrea oder zur nur fünf Minuten entfernten Insel Sveti Katarina weiterfahren. Der bekannteste Besitzer dieser Insel, der Exzentriker Ignaz Karol Graf Milewski aus Litauen, der gute Beziehungen zum Wiener Hof pflegte, hielt sich von den Einheimischen fern. Trotzdem hat er ihnen mehr gegeben als irgendjemand anderer: Er war es, der den nackten Karst der kleinen Insel in ein üppiges grünes Paradies verwandelte. Heute wachsen dort 456 Pflanzenarten, überwiegend Nadelhölzer, angefangen von Zedern, Aleppokiefern und mediterranen Zypressen, über Lorbeer, Rosmarin, Agaven und Oleander bis zu in dieser Region ganz seltenen Lattichen und wilden Rapunzeln. Zwischen den Nadelhölzern schauen hie und da Kirschen, Mandeln oder wilde Kastanien hervor, und ich kenne nichts, was schöner wäre als ein Spaziergang auf den rot gepflasterten Wegen im Frühling oder Herbst. Nach der Oktoberrevolution wurde dem Grafen Milewski sein Besitz genommen, er verarmte und wurde noch seltsamer. 1921 starb er im Krankenhaus in Pula. Seine Nachfolger stritten um das Erbe, in sozialistischen Zeiten wurden seine Güter zu Hotels umfunktioniert. Später wurden sie privatisiert und „modernisiert“, mit viel Beton und Balustraden, und sogar als sie im Besitz österreichischer Hoteliers waren, die die Bediensteten Dirndl tragen ließen, konnte das der positiven Energie Sveti Katarinas nichts anhaben.
Viel geheimnisvoller sind die Cisa-Inseln, kaum fünfzehn Minuten mit der Fähre vom Rovinjer Hafen entfernt. Angeblich seit der Antike besiedelt, errichteten im 6. Jahrhundert Benediktinermönche dort die erste Kirche und ein Kloster, im 13. Jahrhundert übernahmen es die Franziskaner, die „kleinen Brüder“, offensichtlich mit viel Sinn für Humor, denn als die Abtei von den Franzosen geschlossen wurde, nannten sie ihren Rentenfonds „Napoleon“. Danach wurden die Bauten dem Zerfall überlassen, nur die eselbetriebene Ölmühle diente noch jahrzehntelang der ganzen Umgebung. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde auf St. Andrea eine Zement- und Kalkfabrik in Betrieb genommen, für die der Kirchturm zum Fabrikschlot umfunktioniert wurde. Der feine graue Staub, mit dem die ganze Gegend überzogen war, machte den Gesamteindruck noch trauriger. In diesem Zustand kaufte die Inseln der aus einer wohlhabenden deutschstämmigen Triester Familie stammende Bankier Baron Georg Hütterott, offensichtlich ein Mann vom gleichen Schlag wie Paul Kupelwieser. In weniger als zwei Jahren wandelte er die Insel wieder zur „Serra“, zum Gewächshaus um, wie die Einheimischen St. Andrea wegen der dichten Vegetation bald nannten.
Das erneuerte Kloster, samt Refektorium, wurde zum „Schloss“, die Kirchen restauriert, der Hafen vertieft, die Verwaltungsgebäude, Stallungen und eine Scheune, ein Badehaus und später eine Villa dazugebaut, was den Gebäudekomplex in der Mitte der fast zwei Kilometer langen Insel perfekt abrundete. Noch wichtiger waren die vielen exotischen Bäume, bis hin zu kostbaren japanischen Nadelhölzern – Georg Hütterott war der erste japanischkaiserliche Handels- und Wirtschaftskonsul in Europa –, mit denen er St. Andrea und die Nachbarinsel Maškin bepflanzen ließ, samt dem gegenüberliegenden Küstenstreifen, Punta Corente, den er bald ebenfalls erwarb. So wurden zwei Inselchen zum Mittelpunkt des regen Gesellschaftslebens der Familie Hütterott, dessen Gäste aus dem reichen Triester und dem k. u. k. Adel samt ihren Jachten bestanden – und nicht nur im Sommer.
„Zu Weihnachten hatte Georg Freunden und Verwandten Kisten mit Orangen übersenden lassen. Die Dankesbriefe für dieses, damals sehr aufwendige und kostbare Geschenk liegen uns vor“, schrieb in seinen Erklärungen zum Gästebuch der Familie Hütterott Detlef Gaasta, ein Inselgast aus modernen Zeiten, der sich leidenschaftlich für die Geschichte der Insel und der Familie Hütterott interessiert. Zum ersten Mal besuchte er Crveni Otok, die „Rote Insel“, vor mehr als 35 Jahren. Die sozialistische Tourismuswirtschaft setzte auf Sonne und Meer, die Geschichte war unwichtig, aber Gaasta verfiel St. Andreas Zauber und wollte alles über sie erfahren. Der Beharrlichkeit dieses Niederländers aus Berlin sind viele verloren geglaubte historische Funde zu verdanken. So fand man im Museum von Pula vier Kisten mit mehreren Hundert Briefen aus Hütterotts Korrespondenz, und als eines Tages auch das verschwunden geglaubte Gästebuch wieder auftauchte, mobilisierte der mittlerweile pensionierte Gaasta, der über die Geschichte von St. Andrea Vorträge an der Berliner Volkshochschule hielt, kurzerhand seine „Schüler“. Zwölf Berliner Senioren konnten während eines einwöchigen Aufenthalts in Rovinj in mühsamer Arbeit eine große Menge an Briefen, in altdeutscher Schrift verfasst, sortieren, abschreiben und die schwer lesbaren Einträge fast vollständig rekonstruieren. In Zusammenarbeit mit dem Museum von Rovinj sind mittlerweile mehrere Ausstellungen und Kataloge über die Hütterotts und St. Andrea entstanden.
Seine Pläne, St. Andrea nach dem Vorbild der Brijuni-Inseln zu einer luxuriösen Sommerfrische für zahlende Gäste auszubauen, konnte Georg Hütterott nicht verwirklichen, er starb 1910. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Region Italien unterstellt und die Erbinnen, die „Damen Hütterott“, zu Fremden auf ihrer eigenen Insel. Trotzdem zogen 1927 die Witwe Marie und ihre jüngere Tochter Barbara dauerhaft auf die Insel und lebten von den Einnahmen ihrer istrischen Güter. Mit dem Steinbruch machten sie gute Geschäfte, zu Mussolinis Zeiten wurde mit dem Stein aus Hütterotts Steinbruch Muntrave die vier Kilometer lange Brücke zwischen Venedig und Mestre gebaut; die großen Ländereien, die Georg seinerzeit auf dem Festland gekauft hatte, wurden an Bauern verpachtet. Die Insel wurde zu einem richtigen landwirtschaftlichen Gutshof mit modernsten Traktoren und Mähdreschern. Es gab Milchkühe, Ziegen und Geflügel, einen großen Gemüse- und Obstgarten, im seichten Meer zwischen St. Andrea und Maškin eine Fischzucht – und wieder hochrangige und illustre Besucher, jetzt sogar die Reichen aus Amerika.
Marie Hütterott, „mit dem vornehmen Aussehen und Benehmen einer Patrizierin“, besuchte oft Rovinj, die Armen und Kranken und die Bürger haben sie als Wohltäterin in Erinnerung behalten. Ihrer Tochter – „stämmig, größer als 180 Zentimeter und maskulin“ –, die sie „Nobildonna Barbara“ nannten, traten sie mit gemischten Gefühlen entgegen. Mit ihrem Segelboot gehörte sie zu den aktivsten Mietgliedern des lokal...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Widmung
  6. Noch 172 Tage bis zum Sommer
  7. Wo fängt Istrien an?
  8. Das romantische Quartett
  9. Auf der Bergspitze und darunter
  10. Das schwarze Salz
  11. Nora could cook
  12. Ein Schatz im Wald
  13. Im Schatten des Ladonja
  14. Brot und Kuchen
  15. Vom Wasser her sieht alles anders aus
  16. Das römisch-österreichische Sibirien
  17. Von Pula träumen
  18. Ein Paradies für Auserwählte
  19. Ein Vorort von Venedig
  20. Verwendete Literatur