1EinfĂŒhrung
Cornelius Cethegus CĂ€sarius war der Abkömmling eines alten und unermesslich reichen Geschlechtes, dessen Ahnherr den Glanz seines Hauses als Feldherr und Staatsmann CĂ€sars in den BĂŒrgerkriegen gegrĂŒndet â man sagt, er sei ein Sohn des groĂen Diktators gewesen. Unser Cethegus hatte von der Natur die vielseitigsten Anlagen und die gewaltigsten Leidenschaften und durch seinen gewaltigen Reichtum die Mittel erhalten, jene aufs groĂartigste zu entfalten, diese aufs groĂartigste zu befriedigen. Er empfing die sorgfĂ€ltigste Bildung, die damals einem jungen Adeligen Roms gegeben werden konnte. [âŠ]. Er trieb [âŠ] das Studium des Rechts, der Geschichte, der Philosophie. Aber all das befriedigte ihn nicht. Er fĂŒhlte den Hauch des Verfalls in aller Kunst und Wissenschaft seiner Zeit. [âŠ]. Als er von seinen Studien zurĂŒckkam, fĂŒhrte ihn sein Vater nach der Sitte der Zeit in den Staatsdienst ein: rasch stieg der glĂ€nzend Begabte von Amt zu Amt. Aber plötzlich sprang er aus. [âŠ].
Er glaubte gerne an seine Abkunft von Julius CĂ€sar und er fĂŒhlte das Blut CĂ€sars aufwallen in seinen Adern bei dem Gedanken: â CĂ€sar, Imperator des Abendlands, Kaiser der römischen Welt! [âŠ]. Denn wahrlich einsam stand er in seinem Volk! Wie genau kannte, wie bitter verachtete er seine Landsleute, die unwĂŒrdigen Enkel groĂer Ahnen! Wie lĂ€chelte er der SchwĂ€rmerei eines Licinius oder Scaevola, welche mit diesen Römern die Tage der Republik erneuern wollten!1
Mit dem Senator Cornelius Cethegus CĂ€sarius hat Felix Dahn in seinem historischen Roman âEin Kampf um Româ einen dunklen Helden par excellence geschaffen. Voller Verachtung blickt Cethegus auf seine spĂ€trömischen Zeit- und âStandesgenossenâ herab, die ihr SelbstverstĂ€ndnis allein darauf grĂŒndeten, Nachfahren bedeutender StaatsmĂ€nner zu sein. Doch erschöpft sich ihr politisches Engagement im verklĂ€rten Blick auf die republikanischen Vorbilder.2 Einzig sich selbst traut Cethegus zu, die ostgotische âBarbarenherrschaftâ erfolgreich zu bekĂ€mpfen. Um die vergangene GröĂe Roms wiederherzustellen, scheut der StadtprĂ€fekt vor keiner Intrige zurĂŒck.3 Statt im Bann seines Ahnherrn Caesar zu stehen, will Cethegus sich dadurch seiner Herkunft wĂŒrdig erweisen.
Das literarische Portrait des Senators aus dem Jahr 1876 lĂ€sst sich 2019 auf mehrfache Weise lesen und verstehen. ZunĂ€chst zeigt der grĂŒnderzeitliche Professorenroman, wie weit verbreitet im 19. Jahrhundert die Vorstellung eines epigonenhaften Eskapismus in der âAbendsonne der Antikeâ war.4 Vermengt mit evolutionistischem Gedankengut, taugte der Vorwurf elitĂ€rer VergangenheitsverklĂ€rung zugleich als ErklĂ€rungsmodell fĂŒr den Verfall der antiken Welt.5 Jenseits historiographiegeschichtlicher Beobachtungen lĂ€dt Dahns Darstellung auch dazu ein, den Wert von VergangenheitsbezĂŒgen fĂŒr Status und SelbstverstĂ€ndnis historischer Akteure zu reflektieren. Immer wieder thematisiert der ErzĂ€hler Erinnerungspraktiken und -rĂ€ume der römischen und ostgotischen Protagonisten.6 Sowohl ihre sinnstiftende Dimension als auch das sozial verortende Moment werden dabei behandelt. Ein Zuviel an geschichtlichem Wissen fĂŒhrt zur IdentitĂ€tskrise, ein Zuwenig zur Selbstvergessenheit. Dieses Dilemma betrifft nicht zuletzt den gesellschaftlichen Rang.7
Dass âEin Kampf um Româ folglich auch als ein âKampfâ um das rechte MaĂ an historischer Fundierung bzw. Distinktion zu deuten ist, legt schlieĂlich sein Erscheinungsdatum rund zwei Jahre nach der Publikation Friedrich Nietzsches âUnzeitgemĂ€Ăe[r] Betrachtungen: Vom Nutzen und Nachteil der Historie fĂŒr das Lebenâ nahe.8 Eine Zusammenschau beider historisch-reflexiver Texte regt zu der Frage an, ob nicht auch spĂ€tantike Senatoren die Historie anders, nĂ€mlich statusbewusster âbrauch[t]en [âŠ] als der verwöhnte MĂŒĂiggĂ€nger im Garten des Wissensâ9: Verhandelten die faktischen Vorlagen fĂŒr den fiktiven Cethegus ihre soziale Stellung mithilfe von VergangenheitsbezĂŒgen?
Derartige Differenzierungen fĂŒgen sich nahtlos in aktuelle altertumswissenschaftliche Diskussionen um die HabitualitĂ€t heterogener Eliten im Westen des Reiches ein.10 Seit einer kulturhistorischen Wende Anfang der 1990er Jahre verzeichnen makrogeschichtliche Studien zum spĂ€trömischen senatorischen SelbstverstĂ€ndnis und anerkannten Statuskriterien Konjunktur.11 Aufgrund ihrer wechselvollen politischen Geschichte stehen insbesondere das spĂ€tantike Gallien und Italien im Fokus entsprechender mikrohistorischer Untersuchungen.12 Indes fand der distinktive Faktor geschichtlichen Wissens innerhalb der senatorischen Elitenforschung bislang kaum BerĂŒcksichtigung.13 Diesem Desiderat widmet sich die vorliegende Studie. Auf Makro- und vor allem auf Mikroebene werde ich den Stellenwert historischer Bildung und Orientierung in gallo-römischen bzw. italischen Statusdiskursen der SpĂ€tantike ergrĂŒnden.14 Um das Erkenntnisinteresse zu prĂ€zisieren, konzeptuell abzusichern und PrĂ€missen zu klĂ€ren, seien meinen analytischen AusfĂŒhrungen einige fachhistorische, methodisch-inhaltliche und strukturelle Vorbemerkungen vorangestellt.
1.1Fachhistorische Vorbemerkungen
1.1.1Das Narrativ spÀtrömisch-senatorischer Nostalgie und seine Revision
Historis(tis)che Deutungsmuster: Epigonentum und Eskapismus
Im Historismus galt es als nahezu feststehende Tatsache, dass das römische Reich vom dritten zum fĂŒnften Jahrhundert immer weiter verfallen sei, wĂ€hrend und weil seine politischen Eliten immer nostalgischer wurden.15 Diese Denkfigur, die auch dem Mottozitat zugrundeliegt, geht auf die Geschichtsschreibung der sogenannten Sattelzeit (1750â1850) zurĂŒck:16 Sowohl der AufklĂ€rer und Staatstheoretiker Charles Montesquieu als auch Edward Gibbon, Privatgelehrter und âGrĂŒndervaterâ17 der Epoche der SpĂ€tantike, attestierten Senatoren ein fragwĂŒrdiges VerhĂ€ltnis zur Vergangenheit. Gerade Gibbon beschrieb eine Melange aus politischem Unvermögen einerseits, kollektiver GeschichtsschwĂ€rmerei andererseits:18 SpĂ€testens nach der EinfĂŒhrung eines dreistufigen, Ă€mtergebundenen âRangklassensystemsâ hĂ€tten die nun gesetzlich gleichgestellten clarissimi verzweifelt nach Mitteln gesucht, um sich trotz faktischer Ohnmacht zu profilieren.19 Italische Senatoren pochten deshalb auf eine geschichtstrĂ€chtige Abkunft, Gallo-Römer behaupteten dagegen eine Tugendhaftigkeit wie zu frĂŒhrömischen Zeiten.20 Gegen Ende des vierten Jahrhunderts hĂ€tten wiederum Pagane einen kultischen wie kulturellen Traditionalismus gegenĂŒber dem Christentum gepflegt.21 Mit der Geburtsstunde wissenschaftlicher Darstellungen zur SpĂ€tantike verfestigten sich folglich Epigonentum und Eskapismus als historis(tis)che Deutungsmuster. Rasch entwickelten sich die Mytheme zu essentiellen Motiven innerhalb historiographischer VerfallserzĂ€hlungen des 19. Jahrhunderts.22
In der nationalistischen Geschichtsschreibung erfuhren die Konzepte eine theoretische ebenso wie ideologische Zuspitzung. So ergĂ€nzte z.B. Otto Seeck, wie Felix Dahn zunĂ€chst Lehrstuhlinhaber in den deutschen Ostgebieten, das Niedergangsnarrativ in seinem mehrbĂ€ndigen Opus magnum um eine darwinistisch-völkische Deutungsdimension: Ursache fĂŒr den intellektuellen, moralischen und schlieĂlich faktischen âUntergang der antiken Weltâ23 sei eine systematische âAusrottung der Bestenâ24 gewesen. Zum Symptom und Katalysator dieses Prozesses erklĂ€rte der Mommsen-SchĂŒler in erster Linie eine spĂ€tantike geistige TrĂ€gheit.25 Indem gerade die Eliten und EntscheidungstrĂ€ger âsoweit es irgend ging, [âŠ] eben alles beim Altenâ26 belieĂen, seien sie selbst fĂŒr ihren Verfall verantwortlich. Ăhnlich kulturpessimistisch, wiewohl weniger evolutionistisch, schĂ€tzten auch monographische Spezialstudien das Zusammenspiel von spĂ€trömisch-senatorischem SelbstverstĂ€ndnis und politischen HandlungsspielrĂ€umen ein.27 Grosso modo entwarfen sie folgendes, eingĂ€ngiges ErklĂ€rungsmodell: Je glĂŒhender spĂ€trömische Senatoren die Republik oder den Prinzipat verklĂ€rten, desto mehr verdĂŒsterten sich ihre Zukunftsaussichten â ein Teufelskreis aus Epigonentum und Eskapismus. Pointiert ausgedrĂŒckt, modellierte die historistische Geschichtsschreibung somit eine Tragödie spĂ€tantiker Geschichte.28 Ihre teleologische MeistererzĂ€hlung beruhte auch auf dem Narrativ einer spĂ€trömisch-senatorischen Nostalgie.
Revision der MeistererzÀhlung und ihrer Mytheme
Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts wurde die Eigenlogik jener Mytheme selten bezweifelt.29 Seit den spĂ€ten 1960er Jahren hinterfragen Althistoriker indes zunehmend die Vorannahmen solcher historistischen VerfallserzĂ€hlungen.30 In zahlreichen BeitrĂ€gen postulierte zuvorderst Peter Brown ein Transformationsmodell, um Prozesse sozialer, kultureller und politischer VerĂ€nderungen in der SpĂ€tantike zielfĂŒhrender und werturteilsfreier beschreiben zu können.31 Entschieden trat Brown damit der Vorstellung von einem spĂ€trömischen Epigonentum entgegen und etablierte seinen Ansatz sogar ĂŒber Disziplinengrenzen hinaus. Parallel dazu verlor auch das Mythem eines senatorischen Eskapismus an Bedeutung â nicht zuletzt, da sich sukzessive ein Fachzweig mit eigenstĂ€ndigen Fragestellungen zur Erforschung spĂ€tantiker Eliten herausbildete.32 Aus fachhistorischer Perspektive betrachtet, bewirkten folglich Paradigmenwechsel und Differenzieru...