Das Selbstverständnis der gallo-römischen Oberschicht
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Das Selbstverständnis der gallo-römischen Oberschicht

Übergang, Hybridität und Latenz im historischen Diskursraum von Sidonius Apollinaris bis Gregor von Tours

  1. 240 Seiten
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Das Selbstverständnis der gallo-römischen Oberschicht

Übergang, Hybridität und Latenz im historischen Diskursraum von Sidonius Apollinaris bis Gregor von Tours

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Über dieses Buch

Die vorliegende Studie fragt nach dem Selbstverständnis der gallo-römischen Oberschicht in der zweiten Hälfte des 5. bis zum Ende des 6. Jahrhunderts. In dieser Zeit der Neuordnung Galliens zwischen Imperium Romanum und der Bildung der Reiche der Visigoten, Burgunder und Franken gingen alte Gewissheiten verloren und neue entstanden, die Verfügungsmacht über materielle und immaterielle Ressourcen wechselte, Vorstellungen und Wahrnehmungsmuster änderten sich. Diese Dynamik spiegelt sich auch in der Veränderung des kulturellen, sozialen und politischen Wissens über die eigene gesellschaftliche Gruppe wider. Die römische Oberschicht Galliens erscheint trotz der Umwälzungen jedoch keineswegs rückwärtsgewandt oder konservativ. Vielmehr zeigten sich schon die epistolographischen Übergangsrömer des 5. Jahrhunderts pragmatisch in Bezug auf ihr Selbstverständnis, das im Verlauf der Untersuchungszeit hybride Formen annahm und schließlich lediglich latent weiterexistierte. Bei diesem Prozess wurde die romanitas von der Oberschicht zunehmend nicht mehr als ethnisch konnotiert wahrgenommen oder im historischen Diskursraum auf diese Weise dargestellt.

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Information

Jahr
2019
ISBN
9783110626520

1 Einleitung

Sidonius Apollinaris, geboren um 430, Bischof von Clermont, schreibt einen Brief an seinen Freund Johannes: nam iam remotis gradibus dignitatum, per quas solebat ultimo a quoque summus quisque discerni, solum erit posthac nobilitatis indicium litteras nosse.1 Die Auvergne befindet sich unter der Herrschaft des visigotischen Königs Eurich; Kaiser Julius Nepos hat sie 475 an ihn abgetreten. Nun, so scheint es, blicken Sidonius, seine Standesgenossinnen und Standesgenossen auf eine unsichere Zukunft. Die römische Ämterlaufbahn ist ihnen unter der Herrschaft der Visigoten verschlossen, Landgüter und Reichtum sind verloren, reduziert oder bedroht, als einziger Ausweis ihrer nobilitas bleibt ihnen ihre Bildung. In ihr sieht Sidonius das Potential, die Integrität seiner gesellschaftlichen Gruppe zu bewahren, auch ohne den traditionellen Bezugsrahmen, den das Imperium, Rom oder der Kaiser zur Verfügung stellten.
Über hundert Jahre später beginnt dann ein anderer gallischer Bischof, Gregor von Tours, seine Libri Historiarum Decem mit folgenden Worten, die – hätte er sie lesen können – Sidonius vermutlich einigermaßen schockiert hätten: Decedente atque immo potius pereunte ab urbibus Gallicanis liberalium cultura litterarum […].2 Es besteht also eine offensichtliche Diskrepanz zwischen Sidonius’ Forderung für die Zukunft und Gregors späterer Wahrnehmung der Gegenwart.3 Die Bildung, die Sidonius noch als letzte Chance für das Überleben seiner gesellschaftlichen Gruppe ansah, liegt nach Gregors Worten im Frankenreich darnieder. Verlor die römische Oberschicht in Gallien ihre soziale Kohäsion und schwand dadurch nach und nach aus der Geschichte?
Immerhin war Gallien im späten 5. und frühen 6. Jahrhundert wie kaum eine andere Provinz des Imperium Romanum ein Transgressionsraum heterogener politischer, religiöser, sozialer und kultureller Dynamiken. Die Macht und institutionelle Integrität des weströmischen Imperiums schwanden im 5. Jahrhundert zunehmend, so dass Bereiche, die ehemals zum Kerngebiet des Reiches gehörten, zur Peripherie wurden. Die Aufmerksamkeit der bisweilen in schneller Abfolge wechselnden Kaiser war in den Augen der Zeitgenossinnen und Zeitgenossen zusehends auf Italien beschränkt. Gallien wurde vernachlässigt, so weit, dass der Vorwurf erhoben wurde, die Imperatoren hätten es zeitweise völlig ignoriert.4 Diese sorgenvolle Mahnung stammt wiederum von Sidonius und damit natürlich nicht zufällig aus einer gallischen Bevölkerungsschicht, die aufgrund der Schwäche des Imperiums am meisten zu verlieren hatte. Parallel dazu begannen Visigoten, Burgunder und Franken, eigene Machtgebilde auf dem Territorium des weströmischen Reiches zu errichten. In dieser „Schwellenzeit“5 ist Gallien gleichsam Keimzelle für neue und im Entstehen begriffene Strukturen und den Bedeutungswandel soziopolitischer Konzepte, besonders mit Blick auf das Frankenreich des 6. Jahrhunderts. Alte Gewissheiten gingen verloren, neue entstanden, die Verfügungsmacht über materielle und immaterielle Ressourcen wechselte, Sinngehalte und Erfahrungsweisen änderten sich.
Die vorliegende Studie untersucht die Auswirkungen dieser Prozesse auf die römische Oberschicht in Gallien. Dabei sind die Grenzen des Untersuchungszeitraums fließend. Es wird eine Entwicklung nachgezeichnet, deren Beginn nicht etwa erst 476 mit der erzwungenen Abdankung des letzten weströmischen Kaisers angesetzt werden kann, noch deren Ende mit der Etablierung der merowingischen Dynastie in Gallien. Die beiden zu Anfang zitierten Aussagen Sidonius’ und Gregors bilden also nur einen losen Rahmen, den es zu füllen gilt, ohne dass dieser dabei als statische Grenze zu begreifen ist. Mit den beiden Quellenzitaten stellt sich dennoch die Frage, was aus den Bewahrern jener Kultur und Bildung – die Sidonius noch als Rettung heraufbeschwor – geworden ist? Welchen Mentalitätswandel machten sie in der Phase der Neuordnung Galliens zwischen dem Ende der politischen und kulturellen Einheit des weströmischen Imperiums und der Bildung der Reiche der Visigoten, Burgunder und Franken in weitgehender Unabhängigkeit von Rom durch? Auf welche Weise waren die Mitglieder der Oberschicht also in ihren sozialen und kulturellen Kontext eingebunden, wie veränderten sich dieser Kontext und die Qualität des Eingebundenseins? Welche Werte fielen weg, wurden transformiert oder hybridisiert? Wie beschrieb sich diese Gruppe selbst und welchen Einfluss hatten diese Beschreibungen auf ihr Denken und Handeln? Inwiefern verstanden sie sich im Angesicht der Veränderungen ihrer Lebenswirklichkeit tatsächlich noch als ‚römisch‘?
Beim Versuch der Beantwortung dieser Fragen muss freilich präsent bleiben, dass die Oberschicht in ihrer Gesamtheit und vollständigen gesellschaftlichen Komposition für die rückblickende Historikerin und den rückblickenden Historiker nicht zu erschließen sein wird. Eine prosopographische Herangehensweise liefert nur ein unsicheres Bild der tatsächlichen Verhältnisse, zu lückenhaft sind zumeist die überlieferten Informationen über historische Personen, um eine sichere Zuordnung zuzulassen. An die Erstellung aussagekräftiger Bevölkerungsstatistiken ist wegen des Mangels an Quellen ohnehin nicht zu denken. Letztlich kann die exakte Rekonstruktion der ‚Realität‘ der römischen Oberschicht in Gallien aber auch gar nicht Ziel einer modernen geschichtswissenschaftlichen Untersuchung sein. Was den heutigen Historikerinnen und Historikern als Quellenbasis bleibt, sind die Beschreibungen und Zuschreibungen der auf uns gekommenen Quellen: Ausschnitte aus der literarischen Hinterlassenschaft der römischen Oberschicht in Gallien, letztlich also Kommunikationsakte6 und damit keine ‚Fakten‘, sondern verarbeitete und wiedergegebene Wahrnehmung.7 Doch letztlich sind es gerade solche Wahrnehmungen, die in der Gruppe geteilten Vorstellungen und die gemeinsamen Werte, die hinter ihnen stehen, die das Selbstverständnis der römischen Oberschicht in Gallien ausmachen. Damit bilden die Quellen einen Teil des Identitätsdiskurses dieser Gruppe ab und wirkten im gleichen Zuge aktiv auf ihn ein. Eine Analyse dieses Diskurses muss es also erlauben, dieses Selbstverständnis bis zu einem gewissen Grad zu erschließen.
Die vorliegende Studie wird sich aber nicht auf eine klassische Diskursanalyse beschränken.8 Dies würde doch bedeuten, bei einer textimmanenten Untersuchung der Quellensprache stehen zu bleiben. Stattdessen sollen die Instrumentarien der Diskursanalyse durch ein quellenkritisches Vorgehen und die Untersuchung der historischen (Entstehungs-)Kontexte der spätantik-frühmittelalterlichen Texte ergänzt werden.
Auch wenn nicht eindeutig zu klären ist, an welches Publikum genau sich etwa die Briefe des Sidonius, Ruricius und Avitus, die Geschichtswerke Marius’ von Avenches, Gregors oder die Dichtung eines Venantius Fortunatus richteten oder welche Formen von Öffentlichkeit ihre Schriften erreichten, so bedienten sich die Schreiber dennoch bewusst und unbewusst aus dem Sammelbecken des kulturellen, sozialen und politischen Wissens über die eigene Gruppe, das sie mit ihren Standesgenossinnen und Standesgenossen teilten. Wie gesagt wirkt der Diskurs über die römische Oberschicht, der sich in den Quellen greifen lässt, gleichzeitig wiederum selbst performativ auf seinen eigenen Entstehungshintergrund – der im Folgenden ‚historischer Diskursraum‘ genannt sei – zurück.9 Das Konzept des historischen Diskursraums soll dabei genauer den Bereich der Vorstellungen und Wahrnehmungsmuster der Schreiber, die sie mit ihren Standesgenossinnen und Standesgenossen teilten, des Abbildungs- und Wirkungscharakters der Texte in Bezug auf das Selbstverständnis der Oberschicht und der historischen Kontexte bezeichnen, in die die Quellen eingebettet sind und zu denen etwa auch ihre Entstehungsumstände zählen. Damit ist dies jener durch die überlieferten Kommunikationsakte der Zeitgenossinnen und Zeitgenossen zu erschließende ‚Raum‘,10 über den sich das Phänomen ‚römische Oberschicht‘ durch die heutige Geschichtswissenschaft überhaupt nur greifen lässt. Insofern ist der performative Charakter der Quellen eine Grundlage der vorliegenden Arbeit, unter der „konstruktivistische[n] Prämisse, dass die soziale Realität von den Akteuren stets aufs Neue geschaffen wird, und zwar durch performative Kommunikationsakte, also Handlungen, die selbst bewirken, was sie sprachlich bezeichnen oder symbolisch darstellen.“11 Die möglichst präzise Beschreibung des historischen Diskursraums und der durch ihn gegenwärtig gemachten römischen Oberschicht in Gallien ist dabei Ziel der vorliegenden Arbeit. Die kritische und kontextualisierende Lektüre der Quellen schließt dabei gleichsam die Tür zu jenem Raum auf. Zudem setzt sich die vorliegende Untersuchung durch das Konzept des historischen Diskursraums von der bisher weitgehend prosopographisch geprägten und im Untersuchungszeitraum selten ausschließlich auf Gallien konzentrierten Forschung zur römischen Oberschicht ab und betont gleichzeitig den Mehrertrag gegenüber einer klassischen Diskursanalyse.12
Die Studie wird so aufzeigen, dass – entgegen der weitgehend etablierten Forschungsmeinung – die römische Oberschicht keineswegs eine rückwärtsgewandte, konservative und dem kulturellen und politischen Ideal des Imperium Romanum nachtrauernde Gruppe von Patrioten war, die selbst noch zum Anfang des 7. Jahrhunderts in Gestalt eines Desiderius von Cahors die Konservierung und Tradierung alt-römischer aristokratischer Werte betrieb.13 Stattdessen wird sich zeigen, dass man schon mit Sidonius Apollinaris, wenn auch nicht gerade progressiv, aber zumindest pragmatisch nach Mitteln und Wegen suchte, sich mit dem status quo, der als irreversibel erkannten Fragmentierung der politischen Romanitas, auf das Bestmögliche zu arrangieren.14 Dabei wurden keine patriotischen Energien mehr zum Erhalt des vergangenen Imperiums aufgewandt, sondern es wurde allenfalls noch als Chiffre kultureller Werte betrachtet, die aber von ihrem politisch-ethnischen Identifikationspotential im Sinne eines gemeinsamen Ursprungs mehr und mehr entkleidet erschien.15 Wie relevant eine Abgrenzung nach ethnischen Gesichtspunkten für die historischen Akteurinnen und Akteure tatsächlich (noch) war, gilt es anhand der konkreten sozialen und kulturellen Kommunikations- und Interaktionspraxis in Form von Selbstzeugnissen nachzuvollziehen, in denen solche Differenzierungen ausgedrückt, konstituiert oder bekräftigt werden.

1.1 Begriffe

Auch weil einheitliche normative Konzepte und Termini in den Quellen fehlen, wird in der Forschung zur Benennung der sozial, kulturell und politisch führenden Gruppe Galliens eine Reihe von Begriffen parallel verwendet, ohne dass dabei ihr Bedeutungsgehalt immer klar bestimmt wird. Es fallen Bezeichnungen – teilweise auch mehrfach synonym verwendet – wie Adel, (Reichs-)Aristokratie, Elite, Oberschicht, Senatoren, Senatorenstand und ihre fremdsprachigen Äquivalente.16 Zuletzt wird auch der Plural benutzt, um auf die Dynamiken, Uneinheitlichkeiten und Fraktionierungen innerhalb der Gruppe aufmerksam zu machen.17 Letztlich stellen alle diese Begriffe eine für die geschichtswissenschaftliche Arbeit notwendige Verkürzung zur Beschreibung des gesellschaftlichen Gefüges dar.18 Auch wenn alle Bezeichnungen spezifische Vor- und Nachteile haben, sind sie also in gewisser Weise austauschbar. Wichtiger ist ihr Gehalt, den es im historischen Diskursraum zu greifen und auf möglichst präzise Art und Weise darzustellen gilt. Letztlich ist jegliche gesellschaftliche Gruppe ohnehi...

Inhaltsverzeichnis

  1. Title Page
  2. Copyright
  3. Contents
  4. Vorwort
  5. 1 Einleitung
  6. 2 Die römische Oberschicht Galliens in Briefen und Briefsammlungen zwischen Imperium Romanum und regna: Sidonius, Ruricius, Avitus
  7. 3 Zwischenräume
  8. 4 Fragmentierter Raum: Venantius Fortunatus’ Dichtung und Gregors von Tours Libri Historiarum Decem
  9. 5 Ausblick
  10. 6 Zusammenfassung
  11. Abkürzungsverzeichnis
  12. Quellenverzeichnis
  13. Literaturverzeichnis
  14. Stellenregister
  15. Orts- und Personenregister