1.1 Prozessführung und Prozessführungssysteme
Prozessführung ist ein Begriff, der aus der Industrie stammt (siehe z.B. Schuler, 1999). Er wurde vor allem verwendet, um elektrotechnische Steuerungs-, Regelungs- und Automatisierungssysteme zu charakterisieren, die dazu dienen, komplexe Produktionsprozesse überwachen und führen zu können. Solche Produktionsprozesse finden wir beispielsweise in der Verfahrens-, Energie- oder Transporttechnik. Dabei werden Produkte hergestellt oder veredelt, Energie umgeformt oder Menschen und Güter transportiert. Die so weit wie möglich automatisierten Abläufe sowie der Zustand der Produktions-, Umwandlungs- oder Transportprozesse und ihre Gegenstände, werden dabei kontrolliert und verändert. Abweichungen vom Soll müssen zeitgerecht erkannt und beim Unter- bzw. Überschreiten von Toleranzen beseitigt werden. Schuler definiert (1999):
„Prozessführung ist die Gestaltung und Beherrschung des Verhaltens eines Prozesses durch zielgerichtete technische Maßnahmen (z.B. Verfahrenstechnik, Automatisierungstechnik und anderen technischen Disziplinen) sowie durch die Tätigkeit der Anlagenfahrer. “
Die hier genannten „technischen Maßnahmen“ nennen wir im Folgenden Prozessführungssysteme , gelegentlich auch Prozessleitsysteme. Sie sind die virtuellen Fenster und Einwirkmöglichkeiten in die Prozesse und erlauben es, hochdynamische und hochkomplexe Prozesse für Menschen sichtbar, verständlich und beeinflussbar zu machen. In den unterschiedlichen Anwendungsfeldern (siehe dazu Abschnitt 1.7) haben Prozessführungssysteme unterschiedliche Bezeichnungen erhalten; sie sind letztlich aber immer Mensch-Maschine-Systeme aus Aktoren, Sensoren, Steuerungs- und Regelungselementen, Übertragungs- und Speichersystemen, Anzeige- und Eingabemodulen, die an den jeweiligen Einsatzzweck und Einsatzort angepasst werden. So spricht man u.a. von Leitwarten, Leitständen, Cockpits, Brücken oder Kontrollzentren. Gemeint ist vom Prinzip her immer dasselbe, allerdings fällt die jeweilige Ausprägung angesichts der unterschiedlichen physischen oder informationellen Prozesse sehr unterschiedlich aus. Leitwarten in Kraftwerken sind beispielsweise große Räume mit Tausenden von Anzeigen und Armaturen, die an Wänden oder Konsolen untergebracht werden und von einer größeren Zahl von Personen, einer ganzen Schicht, überwacht und bedient werden. Cockpits sind beispielsweise in heutigen Verkehrsflugzeugen zwei Arbeitsplätze für die beiden Piloten, die gewissermaßen körperlich in ihren Instrumenten, Armaturen und Kommunikationssysteme auf kleinstem Raum eingebettet sind. Andere Prozessführungssysteme, wie zum Beispiel Netzmanagementsysteme oder Notrufzentralen sind ein oder mehrere räumlich und logisch verknüpfte Bildschirm- und Kommunikationsarbeitsplätze. Selbst Überwachung und Steuerung eines Küchenherdes oder einer Heizung erfolgen meist über kleine Prozessführungssysteme, die nur aus wenigen kleinen Displays und Eingabeelementen bestehen und von Laien bedient werden können.
Die wichtigsten Aufgaben, die mit Hilfe von Prozessführungssystemen zu leisten sind, sind die Überwachung und die Steuerung von Prozessen. Diese Aufgaben werden arbeitsteilig von Mensch und Maschine, man kann heute sagen, von Mensch und Computer geleistet. Die Art der Arbeitsteilung zwischen diesen beiden Akteuren und damit gleichzeitig auch das Ausmaß der Automatisierung, ist dabei ein wichtiges Merkmal unterschiedlichster Formen der Prozessführung. Eine wichtige Prämisse in heutigen Prozessführungssystemen ist es, dem überwachenden und steuernden Menschen, dem Operateur, weitgehend unabhängig vom Grad der Automatisierung, einen angemessenen Überblick und einen bedarfsweise wirkungsvollen und zeitgerechten Einfluss auf das Prozessgeschehen zu ermöglichen, um die damit verbundene Verantwortung für den Prozess und die Prozessführung übernehmen und tragen zu können. In diesem Zusammenhang spricht Sheridan (1987) von Supervisory Control , dem Grundprinzip, dem Operateur die Möglichkeit zu geben, hoch automatisierte Prozesse auf einer für Menschen geeigneten Abstraktionsebene kontrollieren und bei Bedarf beeinflussen zu können.
Dies führt zu folgender Definition:
Prozessführung ist die Überwachung und Steuerung von Prozessen durch zielgerichtete Maßnahmen, die durch die Tätigkeit von Operateuren mit Hilfe von Prozessführungssystemen ausgeführt werden.
Eine Definition für Prozessführungssysteme kann daher im engeren technischen Sinne lauten:
Ein Prozessführungssystem ist ein Arbeitsmittel zur arbeitsteiligen Prozessführung durch Mensch (Operateur) und Maschine (Automatisierung).
Sieht man die menschlichen Operateure als Teil des Prozessführungssystems an und orientiert sich an der Definition von Arbeitssystemen nach ISO 6385:2004, so gelangt man zu einer weiter gefassten Definition:
Ein Prozessführungssystem ist ein Arbeitssystem, welches das Zusammenwirken eines einzelnen oder mehrerer Operateure mit den technischen Mitteln dieses Systems zur Prozessführung umfasst, um die Funktion des Prozesses unter den durch die Arbeitsaufgaben vorgegebenen Bedingungen zu erfüllen.
1.2 Echtzeitfähige Prozessführungssysteme
Die Überwachung und Steuerung von Prozessen setzt voraus, dass die zeitliche Dynamik der Prozesse bewältigt wird. Das heißt zunächst, dass die Akteure, Operateure und Maschinen, die dazu benötigten Zustandsinformationen präzise, zeitgerecht und schnell bearbeitbar erhalten. Aus der oft großen Zahl von verfügbaren Prozessinformationen müssen geeignete ausgewählt, strukturiert und präsentiert werden. Die alte Weisheit „mehr Information ist besser“ gilt spätestens seit der Verfügbarkeit von schnellen und verteilten computergestützten Sensorsystemen nicht mehr. Nach einer problem- und situationsgerechten Präsentation der relevanten Informationen, müssen die Operateure auch über geeignete Einwirkmöglichkeiten verfügen, die es ihnen ermöglichen, Entscheidungen in Aktionen umzusetzen und deren Auswirkungen wieder zeitgerecht erkennen und, wenn nötig, regulieren zu können. Zeitgerechtes Präsentieren und zeitgerechtes Einwirken heißt nicht in möglichst kurzer Zeit, sondern in angemessen kurzer Zeit richtig erkennen und wirkungsvoll handeln zu können. Dies können Sekundenbruchteile beim Führen eines Autos oder Stunden und Tage bei langsamen biologischen Prozessen in Biokraftwerken sein. Echtzeitfähiges Überwachen und Steuern bedeutet, die Prozessdynamik in vorgegebener und hoffentlich dann auch verfügbarer Zeitspanne situations- und problemgerecht beherrschen zu können.
Die zeitlichen Randbedingungen sind bei Echtzeitsystemen nicht ausschließlich aus dem Prozess abzuleiten, sondern vor allem aus der Reaktionsfähigkeit der Akteure. Während ein Computerprogramm in Mikrosekunden reagieren kann, ist bei einem Menschen eher von mehreren hundert Millisekunden oder, bei neuen oder schwierigen Problemen, auch von Minuten, Stunden und Tagen auszugehen.
Ein echtzeitfähiges Prozessführungssystem fundiert maßgeblich auf einer Aufgabenverteilung zwischen Mensch und Maschine, die es ermöglicht, den Prozess in definierter Weise durch Interaktion zwischen Mensch und Maschine innerhalb zulässiger Zustandskorridore und Zeitfenster über den gesamten Prozessverlauf zu führen.
1.3 Sicherheitskritische Prozessführungssysteme
Wenn wir von den Anforderungen der Echtzeitfähigkeit sprechen, stellt sich gleichzeitig die Frage, was eine nicht zeitgerechte Einwirkung auf den Prozess zur Folge hat. Natürlich wird dies immer vom spezifischen Anwendungsgebiet abhängen; wir gehen aber grundsätzlich davon aus, dass die Echtzeitfähigkeit kein Selbstzweck sein soll und betrachten die Anwendungsfelder der Verfahrens-, Energie- und Transporttechnik. So leuchtet unmittelbar ein, dass wir es hier mit beträchtlichen Risikopotenzialen zu tun haben. Bei den in diesen Anwendungen bewegten Massen oder gewandelten Energien, besteht nicht nur die Gefahr eines hohen ökonomischen Schadens, sondern meist auch eine erhebliche Gefährdung von Mensch und Umwelt. Aber genauso die Überwachung rein informationeller Systeme ohne physische Repräsentation, wie z.B. das Finanzmanagement bei Banken oder Börsen, birgt hohe Risiken für Individuen aber auch für ganze Gesellschaften, wie wir seit dem Zusammenbruch der Finanzmärkte von 2008 wissen und...