1 Einführung
1.1 Zielsetzung
Diese Schrift möchte ausgewählte Meisterwerke aus der Geschichte der Rechentechnik vorstellen. Ziel ist nicht eine lückenlose, umfassende Abhandlung zur Entwicklung der Informatik, sondern eine möglichst allgemein verständliche Vermittlung neuer Erkenntnisse. Die Meilensteine sollen in einen weltweiten Zusammenhang eingebettet werden, damit sie sich einordnen lassen und ihre Bedeutung sichtbar wird. Im Mittelpunkt stehen spannende Funde von seltenen analogen und digitalen Rechengeräten sowie von bedeutenden Text- und Bilddokumenten.
Maßgebend für die Themenauswahl waren insbesondere die überraschenden Funde. Räumlich gibt es in diesem Werk keine Einschränkungen, wegweisende rechentechnische Errungenschaften sind nicht an Grenzen gebunden. Es wurde aber versucht, das nicht englische Sprachgebiet, der in angelsächsischen Veröffentlichungen meist vernachlässigt wird, in besonderem Maß zu berücksichtigen.
Gesamtdarstellungen eignen sich zur Einführung. Sie vermitteln einen Überblick, vermögen aber naturgemäß nur einen Ausschnitt aus der Geschichte wieder zu geben. Eine inhaltliche Gewichtung ist deshalb unerlässlich. Manche Sachverhalte werden in diesem Buch von unterschiedlichen Gesichtspunkten aus behandelt. Das hat zwangsläufig Wiederholungen zur Folge. Eingeflochten werden auch Beweggründe für den Rechnerbau. Zur Sprache kommt ferner der Einfluss von Wegbereiterinnen und Wegbereitern auf das weitere Geschehen. Entwicklungslinien sollen die geschichtliche Abfolge darlegen. Die Angaben zur Lebensdauer der Rechenhilfsmittel offenbaren, dass ihre Nachhaltigkeit rasch sinkt.
Diese Arbeit strebt einen möglichst hohen Nutzwert an, u.a. mit einer Fülle alfabetisch oder zeitlich geordneter Listen, tabellarischen Übersichten, einer sehr umfangreichen Bibliografie und einem ausführlichen Personen- und Sachverzeichnis. Damit soll es auch als Nachschlagewerk verwendbar sein. Die vorliegende Abhandlung möchte eine Brücke schlagen zwischen der analogen und der digitalen Rechnerwelt, eine Klammer bilden für Abakus, Rechenschieber, mathematische Zeichen- und Messgeräte, Rechentische, mechanische Rechenmaschinen, Integrieranlagen, Lochkartenmaschinen sowie für analoge und (frühe) digitale Elektronenrechner. Für eine vertiefte Auseinandersetzung mit den einzelnen Bereichen wird auf die weiterführende Literatur verwiesen.
Zu mechanischen Rechengeräten aus Deutschland gibt es verschiedene Zusammenstellungen. Vergleichbare Verzeichnisse über ähnliche Erzeugnisse aus der Schweiz (und Österreich) liegen nicht vor. Es wurde versucht, eine möglichst vollständige Liste helvetischer Marken zu erstellen.
Vielleicht gelingt es, Laien und Fachleute für das Aufbewahren oder gar Sammeln von technischem Kulturgut wie Rechenhilfsmitteln und ihrer Bedienungsanweisungen zu begeistern und zur Auseinandersetzung mit diesen geistreichen und verblüffenden Konstruktionen anzuregen. Womöglich spüren Sie mal geschichtlich wertvolle Gegenstände auf dem Dachboden oder im Keller auf.
1.2 Zielgruppen
Diese Schrift richtet sich an alle, die mehr über die Geschichte der Rechentechnik, der Mathematik und der Informatik erfahren möchten. Sie ist bestimmt für Laien und Fachleute sowie für Liebhaber. Zu den Zielgruppen gehören beispielsweise Universitäten, Hochschulen, Gymnasien, Bibliotheken, Archive, Museen, Sammlerinnen und Sammler historischer Rechengeräte, Informatikerinnen und Informatiker, Mathematikerinnen und Mathematiker, Ingenieurinnen und Ingenieure, Historikerinnen und Historiker. Die vorliegende Veröffentlichung möchte die Leserschaft über den neuesten Forschungsstand ins Bild setzen.
1.3 Zeitraum
Gestreift werden Ereignisse aus der weltweiten Vor- und Frühgeschichte der Informatik, von den Anfängen der Rechentechnik im Altertum über das Mittelalter bis in die Neuzeit. Der Schwerpunkt liegt auf Rechenschiebern, mechanischen Rechenmaschinen, Relais- und Röhrenrechnern. Der Zeitraum erstreckt sich folglich vorwiegend vom 17. Jahrhundert bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ein markanter Einschnitt ist die Ablösung mechanischer Rechenhilfsmittel durch die Elektronenrechner in den 1970er Jahren. Bei den programmgesteuerten und speicherprogrammierten Digitalrechnern werden jeweils nur die ersten Maschinen mit einbezogen. Dieses Werk deckt vor allem die Pionierzeit ab. Archive haben nämlich eine mehrere Jahrzehnte lange Schutzfrist, so dass die neuesten Schriftstücke in der Regel nicht zugänglich sind.
1.4 Was ist Rechentechnik?
Unter Rechentechnik wird hier das Fachgebiet verstanden, das sich mit Rechenhilfsmitteln befasst. Es gibt eine Fülle von Rechenmitteln: Finger, Hand, Kieselstein, Kerbholz, Kerbknochen, Muschel, Knotenschnur, Rechentafel, Rechenbrett, Rechentisch, Rechentuch, Rechenleder, Rechenpfennig, Rechenbuch, Feder, Stift (Griffel), Papier, Kreide, Schiefertafel, Rechenstab, Rechenscheibe, Rechenwalze, Zahlenschieber, mechanische, elektrische, elektronische Rechenmaschine, Quantenrechner usw. Die Rechentechnik ist demnach Gegenstand von Technik und Mathematik, von Informatik, Elektrotechnik, Maschinenbau, Physik, und besonders auch von Uhrmacherkunst, Feinmechanik und Elektronik.
Mit „Rechentechnik“ meint man außer den Geräten auch das Rechenverfahren, das Vorgehen beim manuellen und maschinellen, beim mündlichen wie beim schriftlichen Rechnen. In dieser Abhandlung geht es nur um die maschinelle (mechanische und elektronische) Rechentechnik.
1.5 Aufsehenerregende Funde von Geräten und Dokumenten
In den über sechsjährigen Erkundigungen (2009–2015) kamen seltene historische Rechenhilfsmittel – analoge (stetige) und digitale (ziffernmäßige) Rechengeräte – sowie bisher unbekannte Schriftstücke, Zeichnungen und Bilder zum Vorschein. Die Funde wurden in der Schweiz – Kantone Aargau (AG), Basel (BS), Bern (BE), St. Gallen (SG), Waadt (VD), Wallis (VS), Zürich (ZH) – und in Frankreich (Straßburg) gemacht.
Neue Funde von historischen Rechengeräten 2010–2015
2010
Zuse M9 (Digitalrechner, Baujahr etwa 1953)
programmgesteuerter Rechenlocher (weltweit einziges überlebendes Exemplar) erster serienmäßig hergestellter Rechner des deutschen Computererfinders Konrad Zuse (Zuse KG, Neukirchen)
Museum für Kommunikation, Bern
2011
Cora (Digitalrechner, Baujahr 1963)
erster Schweizer Transistorrechner (Cora 1, weltweit einziges überlebendes Exemplar)
erster elektronischer Digitalrechner der Contraves AG, Zürich
ETH Lausanne, Bolo-Museum (Fund durch ETH Lausanne)
2013
24-Meter-Loga-Rechenwalze (Analogrechner, Baujahr unbekannt, vor 1912)
weltweit größte und genaueste Rechenwalze mit einer Skalenlänge von 24 m (bisher bekannt: 6 Exemplare)
Loga-Calculator, Zürich
ETH Zürich, Departement für Informatik
24-Meter-Loga-Rechenwalze (Analogrechner, Baujahr unbekannt, vor 1912)
weltweit größte und genaueste Rechenwalze mit einer Skalenlänge von 24 m (bisher bekannt: 6 Exemplare)
Loga-Calculator, Zürich
UBS Basel, Konzernarchiv (UBS = Schweizer Großbank)
2014
schwilguésche Tastenaddiermaschine (Digitalrechner, Baujahr 1851, Patent 1844) besterhaltenes Exemplar der weltweit ältesten überlieferten Tastenaddiermaschine Jean-Baptiste Schwilgué, Schöpfer der letzten astronomischen Uhr des Straßburger Münsters
ETH Zürich, Sammlung Sternwarte
Thomas-Arithmometer (Digitalrechner, Baujahr etwa 1863)
weltweit erste erfolgreiche gewerbsmäßig gefertigte Rechenmaschine (zahlreiche Exemplare erhalten)
Charles-Xavier Thomas aus Colmar, Paris
ETH Zürich, Sammlung Sternwarte
Volksrechner (Digitalrechner, Baujahr 1930)
seltene Stellradgriffeladdiermaschine mit (indirekter) Subtraktion (bisher bekannt: 2 Exemplare)
Hersteller unbekannt (vermutlich Maschinen- und Werkzeugfabrik Paul Brüning, Berlin)
Flohmarkt in Rorschach SG, Schweiz
schwilguésche Tastenaddiermaschine (Digitalrechner, Baujahr 1846)
weltweit älteste erhaltene Tastenaddiermaschine (nicht mehr betriebsfähiges Exemplar) sowie zwei Vormodelle
Jean-Baptiste Schwilgué, Schöpfer der letzten astronomischen Uhr des Straßburger Münsters
Historisches Museum, Straßburg
schwilguésche Zählwerke (Digitalzähler, Baujahr unbekannt, Patentierung 1844)
mehrere Exemplare
Jean-Baptiste Schwilgué, Schöpfer der letzten astronomischen Uhr des Straßburger Münsters
Historisches Museum, Straßburg
Scheibenrechenmaschine Summus (Digitalrechner, Baujahr etwa 1906)
sehr seltene kreisförmige Zahnscheiben-Additionsmaschine (nur wenige erhaltene Exemplare)
Max Eckelmann, Dresden
Schreibmaschinemuseum Beck, Pfäffikon ZH
2014/2015
schwilguéscher „Prozessrechner“ (Digitalrechner, Baujahr 1830er Jahre)
erster Prozessrechner der Welt (numerische Steuerung einer Zahnradfräsmaschine über einen Papierstreifen, einziges bekanntes Exemplar)
Jean-Baptiste Schwilgué, Schöpfer der letzten astronomischen Uhr des Straßburger Münsters
Historisches Museum, Straßburg (Fund: Dezember 2014, Bestimmung als Prozessrechner: Januar 2015
2015
Addiermaschine Addipresto (Digitalrechner, Baujahr unbekannt, 1960er Jahre)
seltene Zählrollenaddiermasc...