John Dewey: Erfahrung und Natur
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John Dewey: Erfahrung und Natur

  1. 213 Seiten
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John Dewey: Erfahrung und Natur

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Über dieses Buch

Metaphysik und Pragmatismus scheinen sich seit den Arbeiten von Richard Rorty auszuschließen. Deweys "Erfahrung und Natur" ist der Versuch eines der bedeutendsten Pragmatisten, eine naturalistische und humanistische Metaphysik zu entwickeln, indem er die klassische europäische Metaphysik transformiert und ihr ihre Fixierung auf ewige Notwendigkeiten und absolute Gewissheiten austreibt. Er versucht, eine Metaphysik für eine in seinen Augen "gemischte" Welt zu schreiben, in der es Zufall und Notwendigkeit, Gefahren und Ungewissheiten, aber auch für bestimmte Zeiträume verlässliche Ordnungen gibt.

Dieser "Klassiker Auslegen"-Band verfolgt dieses Projekt nach, indem die zehn Kapitel von Deweys Buch in zehn interpretierenden Essays historisch eingeordnet und systematisch analysiert werden. Dabei wird der ganze Themenhorizont der klassischen Metaphysik abgeschritten: Von dem Problem der Ordnung und Unordnung der Wirklichkeit über das Leib-Seele-Problem bis zu den Themen Wert und Kritik. Das Buch soll Studierenden den Zugang zu Deweys Metaphysik erleichtern und Forschenden in der Philosophie die Aktualität des Deweyschen Denkens wieder ins Gedächtnis zurückrufen.

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Information

Jahr
2017
ISBN
9783110553055
Michael Hampe

1Einleitung

1.1Zur Geschichte von Erfahrung und Natur

George Santayana bezeichnete in einer Besprechung für das Journal of Philosophy im Dezember 1925 Deweys Experience and Nature als die „sicherlich gewichtigste und prägnanteste Darstellung“, die Dewey von seiner Philosophie bisher gegeben hat.12013 charakterisierte Godfrey-Smith in der Zeitschrift Topoi den Text als „den besten […], der bisher in der pragmatistischen Tradition geschrieben wurde.“2Der 1859 in Burlington/Vermont in kleinbürgerliche Verhältnisse geborene Dewey war 64, als sein so charakterisiertes Buch erschien. Für Roy Wood Sellars (den Vater des später in der sprachanalytischen Philosophie ebenfalls zu Berühmtheit kommenden Wilfrid Sellars) stellt der zu dieser Zeit als Professor an der Columbia Universität in New York tätige Pragmatist das „Oberhaupt der produktiven amerikanischen Denker.“3
Als nach der Machtergreifung Hitlers im Jahr 1933 und dem „Anschluss“ Österreichs an das „Dritte Reich“ 1938 der „Wiener Kreis“ zerschlagen wurde, emigrierte 1936 Rudolf Carnap von Prag nach Chicago. Von Wien gingen 1938 Philipp Frank nach Boston, 1939 Carl Gustav Hempel und Richard von Mises nach New York und Boston. 1940 kommt Kurt Gödel aus Wien in Princeton an. Der Wechsel dieser Philosophen über den Atlantik änderte in kurzer Zeit die philosophische Landschaft in den USA. Als Dewey 1952 starb, war der Pragmatismus bereits auf dem Rückzug. Er verlor zwar nie ganz die philosophische Aufmerksamkeit. Doch statt „Experience“ und „Nature“ wurden „Language“ und „Science“ für Jahrzehnte zu den Obsessionen des philosophischen Denkens in den USA. Deweys Werke traten in den Hintergrund. Er blieb zunächst vor allem als Pädagoge in der Diskussion. Die Bezüge von sprachanalytischen Autoren wie Quine und Putnam auf ihn blieben zwar nicht lediglich sporadisch, doch konnten sie Deweys Werk nicht die ihm eigentlich gebührende Aufmerksamkeit erhalten. Der Empirismus Deweys (aber auch der von William James) erschien durch den semantic ascent und die Kritik am Mythos des Gegebenen in der sprachanalytischen Philosophie obsolet geworden zu sein.4
Erst als Richard Rorty 1979 seinen Mirror of Nature publizierte, die sprachanalytische Erkenntnistheorie scharf kritisierte und Wittgenstein, Heidegger und Dewey als die „drei bedeutendsten Philosophen unseres Jahrhunderts“ charakterisierte, denen es gelungen sei, die cartesianische Suche nach Gewissheit und die „Kantische Konzeption von der Philosophie als Fundamentalwissenschaft“ zu verabschieden und durch ein „therapeutisch[es]“ und „bildend[es] Philosophieverständnis“ zu ersetzen, kehrte Dewey als aktuell relevanter Denker in die philosophische Debatte zurück. Im Zuge der Diskussion um Rortys Neo-Pragmatismus, in Deutschland aber auch im Kontext der Kritischen Theorie von Apel und Habermas, die die Relevanz vor allem von Peirce, aber am Rande auch von Dewey für ihre Unternehmungen entdeckten,5kam es zu einer Wiederbelebung der Dewey-Rezeption. In Deutschland manifestierte sich diese Renaissance auch durch das Erscheinen von Übersetzungen der Deweyschen Hauptwerke: Kunst als Erfahrung 1980, Erfahrung und Natur 1995, Die Suche nach Gewissheit 1998, Logik. Die Theorie der Forschung 2002. Inzwischen ist Dewey als ein klassischer philosophischer Autor des 20. Jahrhunderts anerkannt und seine Texte sind, vor allem an amerikanischen Departementen, die Kurse in „american philosophy“ anbieten, kanonisiert worden.6Die Tatsache, dass auch in der Reihe „Klassiker Auslegen“ jetzt ein Kommentarband zu Deweys Erfahrung und Natur erscheint, belegt, dass die deutsche Philosophie, wie so häufig, diese US-amerikanische Entwicklung inzwischen nachvollzogen hat.
Santayana, Roy Wood Sellars und Dewey haben sich alle selbst als „Naturalisten“ beschrieben. Es war dieser Naturalismus, der den Deweyschen Pragmatismus auch für die in die USA emigrierten logischen Positivsten und ihre sprachanalytischen Schüler nach dem sogenannten „linguistic turn“ gelegentlich noch interessant machte und der für das aufgeklärte Denken der Gegenwart bis heute relevant ist. Experience and Nature stellt die überarbeitete Fassung der ersten Paul Carus-Lectures dar, von denen Sellars in seiner Besprechung die Erwartung äußerte, dass sie zu „einer Reihe von Büchern“ führen werden, „die man in dasselbe Regal einstellen werden wird wie die Produkte der Gifford Stiftung“; gemeint sind die berühmten Gifford Lectures, die Dewey 1928 hielt und die 1929 als The Quest for Certainty erschienen sind. Nach Dewey hielt Arthur Lovejoy die Carus Vorlesungen zum Thema „The Revolt Against Dualism“. Auch Deweys Experience and Nature ist Teil dieses Aufstandes gegen die Dualismen von Geist und Materie, Leib und Seele oder Mensch bzw. Erfahrung und Natur. Heute ist es nicht mehr so leicht nachzuvollziehen, worin das Problematische eines Dualismus eigentlich bestehen soll. In der Physik gibt es den Dualismus von Welle und Teilchen, in der Biologie den von Individuum und Art, die Psychologie unterscheidet zwischen Emotion und Kognition. Diese Liste ließe sich beinahe beliebig verlängern. Wann ist eine Unterscheidung eine notwendige Differenzierung, eine Einsicht in die Vielfalt der Wirklichkeit, wann ist sie ein schmerzhafter Dualismus, der die Welt „zerfallen“ lässt?
Dewey hält mit vielen seiner Zeitgenossen die Dualismen von Geist und Körper und von Erfahrung und Natur für das Produkt einer unakzeptablen, weil undemokratisch hierarchischen sozialen Ordnung, für eine Quelle von Irrtümern und Verwirrungen und will sie deshalb auflösen. Er sah die Dualismen, die das moderne Denken kennzeichneten, als Symptome „tieferer kultureller Spannungen“ an.7Er will dabei keine Unterscheidungen zum Verschwinden bringen, die sich als nützlich erwiesen haben. Es geht ihm vielmehr darum, ähnlich wie Hegel, die Gegensätze, als die diese Dualismen gesehen werden, zu „verflüssigen“, die Unterscheidungsmöglichkeiten, die sie anbieten, zwar beizubehalten, jedoch zu zeigen, dass, wenn etwas etwa als menschliche Erfahrung zu charakterisieren ist, es durchaus auch als etwas Natürliches betrachtet werden kann, dass etwas, das psychisch ist, auch eine leibliche Manifestation hat usw. Von besonderer erkenntnistheoretischer Relevanz ist bei diesen Vermittlungsbemühungen Deweys zwischen den „alten“ Gegensätzen, dass er zeigen will, dass die Wissenschaften und die Erfahrungen, aus denen sie entstehen, eine Fortsetzung natürlicher Prozesse sind, dass sie nicht der Natur „gegenüberstehen“. Es war dieser Grundgedanke aus Deweys Erfahrung und Natur, der später Richard Rorty zur Kritik derjenigen Erkenntnistheorie inspirierte, die den menschlichen Geist als Spiegel begreift, der der Natur gegenübersteht, sie möglichst klar abzubilden habe und für diese Abbildung zu präparieren sei.
1934 erschien Deweys Kunst als Erfahrung und im Alter von 79 Jahren publizierte er 1938 seine Logik, die Theorie der Forschung. Anders als bei Kant, der eine „kritische Wende“ durchmachte und erst mit 57 (im Jahr 1781) begann, als kritischer Philosoph zu publizieren, nachdem er sich von der Leibniz-Wolffschen Metaphysik durch die Lektüre der Werke David Humes veranlasst abgewandt hatte, hat Dewey keine Wende in seinem Denken vollzogen. Er liefert vielmehr ab seinem 60. Lebensjahr (ab 1919, als Reconstructions in Philosophy erschien) in einer Reihe von gewichtigen Büchern die Summe seines bisherigen Denkens ab, zieht Überlegungen zusammen und stellt Verbindungen her in Büchern, von denen Erfahrung und Natur als das bedeutendste angesehen werden kann.

1.2Naturalismus, Szientismus, Prozessmetaphysik und Kulturkritik

In Erfahrung und Natur wird deutlich, dass der Versuch, Bifurkationen im Denken naturalistisch zu überwinden den Focus aller denkerischen Bemühungen Deweys darstellt. Er schreibt: „Für mich sind die menschlichen Angelegenheiten, soziale wie kulturelle, Projektionen, Fortsetzungen, Komplikationen der Natur, die in der physischen und vormenschlichen Welt existiert. Es gibt keine Kluft, keine zwei Sphären der Existenz, keine ‚Bifurkation‘.“8Ein solcher Naturalismus ist nichts Neues in der Philosophiegeschichte. Spinozas Versuch, Denken und Ausdehnung als zwei Attribute einer Substanz zu begreifen, die er als „Gott oder die Natur“ kennzeichnete,9stellt die vielleicht bekannteste Variante einer solchen Bemühung in der neuzeitlichen Philosophie in Reaktion auf den Cartesischen Substanzendualismus dar. Doch zu Spinozas Zeiten gibt es den Begriff der Naturwissenschaft noch nicht. Die Sammlung von Aristotelischen Schriften wie seine Physikvorlesung, die Schrift Über die Seele, die Abhandlung über Entstehen und Vergehen, Über die Himmel und die Teile der Tiere führten nicht zu dem Anspruch, dass „Natur“ ein Grundbegriff zu sein habe, der auf einer Ebene mit dem Gottes-, dem Substanz- und dem Seinsbegriff steht. Genau eine solche Nobilitierung des Naturbegriffs zu einem philosophischen Generalterminus geschieht jedoch in der Philosophie Spinozas. Diese philosophische Nobilitierung des Naturbegriffs wird von Dewey aufgegriffen. Die seit dem 17. Jahrhundert in der Philosophiegeschichte existierende naturalistische „Bewegung“, in diesich Dewey damit einreiht, und zu der auch Autoren wie Schelling oder Goethe zu rechnen sind, ist von der zu unterscheiden, die die Naturwissenschaften zu den einzigen Disziplinen machen will, die uns sagen, was es gibt, wofür (mit Einschränkungen) W. V. O. Quine in seinem Werk immer wieder eingetreten ist.10Zwischen Naturalismus und Szientismus muss also unterschieden werden. Dewey ist kein Szientist. Er ist ein Freund der Naturwissenschaften, doch seine Verwendungen der Begriffe der „Erfahrung“ und „Natur“ sind mehr als Appelle, die Erfahrungs- und Naturwissenschaften ontologisch ernst zu nehmen. Er will vielmehr zeigen, dass Erfahrung „tief in die Natur hineinreich[t]“ (EN 13, dt. 19), dass die Natur selbst ein Erfahrungsprozess ist. Dewey glaubt, dass es solche in die Natur hineinreichenden Erfahrungsprozesse gibt, doch sie sind als solche keine Gegenstände der Naturwissenschaften.
Mit seinen prozessphilosophischen Spekulationen über Natur und Erfahrung will Dewey die Streitigkeiten zwischen idealistischen und realistischen Erkenntnistheorien ebenso beenden, wie die zwischen reduktionistischen und konstruktivistischen Ontologien. Vor allem geht es Dewey jedoch um die Kritik einer Gesellschaftsordnung, die ein vermeintlich lediglich als Mittel dienendes technisches Wissen einer angeblich selbstgenügsamen theoretischen Grundlagenforschung unterordnen will und Menschen danach klassifiziert, mit welcher Wissensordnung sie zu tun haben. Erfahrung lässt sich nach Dewey weder auf die physikalisch verstandene Materie reduzieren noch die Materie der Physik auf Erfahrung. Deshalb sind sein Naturalismus und Empirismus weit davon entfernt, einem physikalistischen Materialismus das Wort zu reden. Natur ist für ihn kein Konstrukt erfahrender Geister oder von Symbolsystemen und Erfahrung von menschlichen Geistern ist kein Epiphänomen der neuronalen Materie. Deshalb hat sein Naturalismus wenig mit den szientistischen Spielarten der Gegenwartsphilosophie zu tun, die unter der Flagge „Naturalismus“ segeln wie Deweys Denken.
Dewey will also grundlegende philosophische Dispute auflösen, indem er die Bedeutungen von „Erfahrung“ und „Natur“ erweitert. Anders als Spinoza geschieht das nicht im Kontext einer Naturfrömmigkeit, die auf die Möglichkeit eines glücklichen Lebens durch rationale Selbstbefreiung zielt. Deweys Kritik an der Verwendung des Begriffs „Ewigkeit“, der in seinen Augen einen „hypnotischen Einfluss“ auf das Denken ausgeübt hat (EN 32, dt. 42f.), steht vielmehr im Kontext einer Art Säkularisierung des Spinozistischen Naturalismus. Nie verwendet Dewey die Formel „Gott oder die Natur“. Es gibt in der Deweyschen Natur nichts Ewiges. Das bedeutet, dass es auch keine ewigen Gegenstände der Erkenntnis gibt, über die es unerschütterliches Wissen zu erwerben gäbe. Ungewissheit ist keine Unvollkommenheit der menschlichen Erkenntnis, sondern eine Manifestation der natürlichen Prozessualität der Erfahrung und ihrer Gegenstände. Dieser prozessphilosophische Gedanke ist bereits wesentlich für Alfred North Whitehead gewesen, der seine eigenen philosophischen Anstrengungen als eine Fortführung von Deweys Denken begriffen hat und dessen Denken bis in den Pragmatismus von Richard Rorty weiterwirkt (der über Whitehead bei Charles Hartshorne in Chicago seine Master-These schrieb und bei dem an Peirce anschließenden Prozessmetaphysiker Paul Weiss in Yale über Potentialität promoviert hat (Gross 2008)).
Kritik an Ewigkeit und Gewissheit wird meist als Einladung zum Relativismus gelesen – im Anschluss an Platons Auseinandersetzung mit der Heraklitschen Prozessphilosophie im Theaitetos. Dewey sieht jedoch spätestens seit seinen Reconstructions of Philosophy den Anspruch, auf etwas Ewiges zugreifen zu können und über ein absolut gewisses Wissen verfügen zu wollen, als Teil eines sozialen Priviligierungsprogramms: Eine Priesterkaste, die politische Herrschaft beansprucht, will diese durch vermeintlich unerschütterliches Wissen vom Ewigen sozial legitimieren und so ihre Macht zementieren. Dewey schreibt: „Sowie sich das Herrschaftsgebiet einer Regierung ausdehnt, gibt es ein definitives Motiv dafür, ehemals freie und fließende Vorstellungen zu systematisieren und zu vereinheitlichen.“ Herrscher sehen sich in ihrem Expansionsdrang „dazu veranlasst Traditionen und Glaubensüberzeugungen zu zentralisieren, um […] Prestige und […] Autorität zu erweitern und zu stärken.“ Wo „Reiche“ entstehen: im antiken Israel, in Griechenland und in Rom werden Lokalkulte und vielfältig differierende Überzeugungszusammenhänge von den Priestergremien der Zentralgewalten zusammengezogen, systematisiert und in allgemeine theologische und philosophische Doktrinen umgewandelt und als solche doktrinär und autoritär verwaltet (Dewey 1989, 57). Was als harmloses Kriterium von Wissenschaftlichkeit angesehen werden kann: das Streben nach absoluter Gewissheit, Widerspruchsfreiheit und Systematizität des gesamtem menschlichen Wissens sieht Dewey vor diesem Hintergrund als eine epistemische Fortsetzung zentralisierten politischen Herrschaftsstrebens an. Sofern die europäische Philosophie dieses epistemische Streben unterstützt hat, hat sie damit auch zentralisierte und expansive autoritäre Herrschaft unterstützt und den kulturellen und epistemischen Pluralismus unterminiert. Epistemische Systematisierung und politische Zentralisierung werden in dieser Perspektive zu Spiegelbildern voneinander: Zentralisierte Herrschaft systematisiert Wissen und eliminiert nicht ins System integrierbares Wissen. Wissenssysteme stützen umgekehrt zentralisierte Herrschaftsansprüche, indem sie diese mit technisch verwertbaren oder die Herrschaft vermeintlich direkt legitimierenden (bspw. genealogischen oder theologischen) Einsichten ausstatten. Es wird deutlich, dass Dewey in dieser Kritik der antipluralistischen T...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Vorwort
  5. Inhalt
  6. Zitierweise und Siglen
  7. 1 Einleitung
  8. 2 Die Bedeutung der Lebenserfahrung für die Methode der Philosophie
  9. 3 Eine Metaphysik der „lebendigen Mischung“
  10. 4 Natur als Drama. Deweys Neubestimmung der Teleologie
  11. 5 Erkenntnis als natürlicher Prozess. Natur, Mittel und Wissen
  12. 6 Natur, Kommunikation und Bedeutung
  13. 7 Subjektivierung der Erfahrung. Zu Deweys Rekonstruktion der Subjektivität
  14. 8 Kontinuum der Qualitäten
  15. 9 Bewusstsein zwischen Qualität und Bedeutung
  16. 10 Erfahrung als Kunst. Dewey über die Funktion der Kunst im Alltagsleben
  17. 11 Philosophie als verallgemeinerte Kritik
  18. 12 John Dewey’s Experience and Nature
  19. Auswahlbibliographie
  20. Hinweise zu den Autoren und Autorinnen
  21. Personenregister
  22. Sachregister