1.1Problemstellung, Erkenntnisinteresse und Fragestellung
Die Medien berichten gegenwärtig beinahe täglich über die Zustände in den Bekleidungsbetrieben in Bangladesch und Kambodscha.1 Wo und wie Bekleidung produziert, auf wessen Kosten und zu welchem Preis sie hergestellt wird, ist ein aktuelles Thema. Im Fokus der Betrachtung stehen in der Regel die Produktions- und Arbeitsbedingungen in den Fabriken sowie die schlechte Lage der Arbeiterinnen. Heute stammen rund 95 Prozent der in Deutschland verkauften Kleidung aus dem Ausland, v. a. aus Asien.2
Die Diskussion über die Zustände in den Produktionsbetrieben der Bekleidungsindustrie ist aber kein aktuelles Phänomen. Bereits vor mehr als einhundert Jahren gab es eine heftige Debatte im Deutschen Kaiserreich über das Los der Heim- und Fabrikarbeiterinnen in der Bekleidungsindustrie. Zu dieser Zeit wurde im Deutschen Reich so viel Kleidung produziert, dass große Mengen exportiert wurden (1902 beispielsweise ca. 10.000 Tonnen), aber in kaum nennenswerten Umfang Importe stattfanden (1902 knapp 300 Tonnen).3
Von den Arbeiterinnen im Deutschen Kaiserreich bis zu den Mädchen und Frauen in den einsturzgefährdeten Fabriken in Südostasien ist es ein weiter Weg. Sie verbindet aber, dass Bekleidungsfabrikanten bestrebt sind, die Lohnkosten möglichst niedrig zu halten und ihr Produkt so preiswert wie möglich herzustellen. Die Lohnkosten sind es auch, die bestimmte Produktionssysteme determinieren – ob in Heimarbeit oder im Fabriksystem produziert wird – und auch für die Standortwahl bzw. -verlagerung verantwortlich sind. Die Kapitalintensität spielt nicht die determinierende Rolle wie in anderen Sektoren. Entscheidend sind die Personalkosten, da man es mit einer arbeitsintensiven Branche zu tun hat. Dies zeigt sich v. a. im Umsatz pro Beschäftigten, der niedriger ist als in anderen Branchen. Die im Vergleich zu anderen Wirtschaftsbereichen geringeren Löhne sind ein Kennzeichen der Bekleidungsindustrie. Dies hängt zum einen mit dem hohen Anteil von Frauen in den Betrieben, aber auch dem geringeren Anteil qualifizierter Arbeitskräfte zusammen.4
Diskussionen um die Arbeitsbedingungen der Näherinnen gab es damals wie heute und Forderungen nach staatlicher Regulierung und Überwachung bzw. Festlegung von Qualitätsnormen wurden und werden laut. Den Näherinnen sollen adäquate Arbeitsbedingungen zugesichert werden und den Konsumenten ein gut verarbeitetes, langlebiges Produkt, das keine Schadstoffe enthält.
Wendet man sich dem Begriff „Bekleidungsindustrie“ näher zu, hat jeder zunächst ein intuitives Verständnis über den Inhalt dieser Bezeichnung. Beschäftigt man sich aber einmal genauer mit dem Begriff, merkt man schnell, dass er nicht so eindeutig ist, wie zunächst angenommen. Die Herstellung von Hosen, Kleidern und Wäsche fasst man darunter, was aber ist mit Schuhen, Hüten, Krawatten und ähnlichem? So vielfältig wie diese Fragen sind auch die Definitionen des Begriffs „Bekleidungsindustrie“.
Ganz allgemein kann man unter „Bekleidungsindustrie“ eine Folgestufe der Textilindustrie verstehen, die sich mit der Verarbeitung fertiger Gewebe befasst.5 Die Bekleidungsindustrie steht in der Wertschöpfungskette zwischen der Textilindustrie und dem Groß- und Einzelhandel6, an den sie die fertigen Kleidungsstücke verkauft. Das Handwörterbuch des Kaufmanns definierte „Bekleidungsindustrie“ im Jahr 1925 wie folgt:
Die Bekleidungsindustrie befasst sich mit der Herstellung von Bekleidungsgegenständen aller Art. Diese Gegenstände sind nun außerordentlich mannigfaltig, je nach den besonderen Zwecken, denen sie dienen, und ebenso mannigfaltig sind die Rohstoffe bzw. Halbfabrikate, aus denen sie hergestellt werden.7
Unterteilen lässt sich die Branche in Ober- und Unterbekleidung sowie Kleidung für bestimmte Körperteile wie Kopf und Fuß. Ob nur die Ober- und Unterbekleidung, die sog. „Rumpfbekleidung“, zur Bekleidungsindustrie gerechnet wird, hängt von der jeweiligen Begriffsbestimmung ab. Die Definitionen sind meist produktorientiert und unterscheiden nicht, ob die Kleidung handwerksmäßig oder industriell hergestellt wird. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde versucht, diese Differenzierung durch den Begriff der „Konfektion“ deutlich zu machen, unter der man die nicht handwerksmäßige Herstellung von Fertigkleidung verstand.8 Der Begriff „Konfektion“ leitet sich etymologisch aus dem lateinischen conficere = beenden, fertigmachen ab und bedeutet hier so viel, wie Stoffe zu einem fertigen Kleidungsstück zu verarbeiten.9
Im Folgenden wird unter „Bekleidungsindustrie“ derjenige Bereich verstanden, der sich mit der verlagsmäßigen oder industriellen Herstellung von Damenoberbekleidung (DOB), Herren- und Knabenoberbekleidung (HAKA), Arbeits-, Berufs- und Sportbekleidung (BeSpo) sowie der Wäscheherstellung (Damen-, Herren- und Kinderunterwäsche) befasst. Dies beinhaltet, dass Kleidung nach festgelegten Normgrößen für einen anonymen Massenmarkt auf Vorrat produziert wird. Diese Definition entspricht der von „Konfektion“. Auch das Verlagssystem als Zwischenstufe von handwerklicher und industrieller Fertigung ist Teil der Untersuchung, da auch hier Ware nach festgelegten Größen für eine anonyme Kundschaft hergestellt wird. Handwerksmäßig angefertigte Kleidungsstücke werden dagegen meist nach Maß auf einen bestimmten Kundenwunsch hin genäht und werden deshalb im Folgenden nicht zum Bereich „Bekleidungsindustrie“ gezählt. Bekleidungszubehör wie Schuhe10 und Hüte wird nicht näher untersucht, da die Produkte eine andere Rohstoffbasis besitzen, die Maschinen zu ihrer Verarbeitung andere sind und sich die Produktionsweisen grundlegend unterscheiden. In der Statistik spielt dieses „Bekleidungszubehör“ gegenüber der „Rumpfbekleidung“ ohnehin nur eine untergeordnete Rolle, so dass eine solche Einschränkung möglich ist, ohne die Gültigkeit der getroffenen Aussagen abschwächen zu müssen. Auch die statistische Abgrenzung zwischen Textil- und Bekleidungsindustrie ist mit dieser Definition vereinbar. Die Einteilung in die Kategorien der statistischen Angaben wird nicht vom Verwendungszweck her bestimmt, sondern ist bedingt durch den technischen Verarbeitungsvorgang.11 Wirkerei und Strickerei werden technologisch zur Textilindustrie gezählt,12 dieser Definition folgt auch die amtliche Statistik seit dem Kaiserreich.
Die Ursprünge der Bekleidung reichen weit zurück. Kleiden musste der Mensch sich schon immer. Kleidung schützt vor Witterung, begegnet dem Schambedürfnis der Menschen und war schon früh ein Zeichen von Stand und Modebewusstsein.13 Neben der Nahrung und der Wohnung gehört die Bekleidung zu den wichtigsten unverzichtbaren Grundbedarfsgütern.14
Die Bekleidungsindustrie zählte im Untersuchungszeitraum zu den wichtigsten Zweigen der Konsumgüterwirtschaft.15 Die industrielle Kleiderherstellung ist jedoch eine noch junge Branche, erste Anfänge reichen in die 1830er Jahre zurück. Bekleidung stellten die Menschen bis zu diesem Zeitpunkt selbst her oder gaben sie – wenn sie dafür genug Geld besaßen – bei einem Schneider in Auftrag. Für einen großen Teil der ländlichen und der städtischen Bevölkerung waren die finanziellen Möglichkeiten der Beschaffung von Kleidung bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts sehr begrenzt.16 Laut den Berechnungen Ernst Engels aus den 1880er Jahren konnten Arbeiterfamilien um etwa 1850 16 Prozent ihres Haushaltsbudgets für Kleidung ausgeben, Mittel- und Wohlstandshaushalte 18 Prozent.17
Drei wichtige Voraussetzungen waren für die Entwicklung einer industriellen Bekleidungsherstellung zentral. Erstens war dies die starke Bevölkerungszunahme ab Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Bevölkerung auf dem Gebiet des Deutschen Reiches betrug 1816 23,5 Millionen Einwohner. Um 1900 waren es bereits ca. 56 Millionen. Zweitens brachte die Industrialisierung eine breite Konsumentenschicht hervor, die preiswerte und einheitliche Arbeitskleidung nachfragte. Drittens kam es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts infolge der beiden genannten Aspekte zu einer Urbanisierungswelle. Die Zahl der Großstädte mit mehr als 100.000 Einwohnern stieg zwischen 1871 und 1910 von 8 auf 48. Die Gesamteinwohnerzahl der Großstädte wuchs in dieser Zeit um 602 Prozent von knapp 2 Millionen auf etwa 14 Millionen. 1871 lebte lediglich jeder zwanzigste in der Großstadt. 1914 war es jeder vierte.18 Aus ihrer traditionellen ländlichen Umgebung befreit und in das städtische Arbeitsleben eingegliedert, konnten oder wollten diese Personen ihre Kleidung nicht mehr selbst herstellen und griffen auf industriell gefertigte Ware zurück.19
Die Durchsetzung einer geringen Anzahl standardisierter Normalgrößen, die wahrscheinlich aus der Uniformfertigung stammten, wirkte sich ebenfalls positiv auf die Entstehung dieses Industriezweiges aus.20 Die von Elias Howe und Isaac Merritt Singer entscheidend verbesserte Nähmaschine als technische Neuerung beschleunigte das Herstellen von Kleidung und leistete ein Vielfaches im Vergleich zur Handarbeit.21 Entgegen kam der Entwicklung eines solchen Wirtschaftszweiges auch die Entdeckung der synthetischen Farbstoffe in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sie waren von gleichmäßigerer Qualität und höherer Haltbarkeit als Naturfarben sowie preiswerter. Außerdem boten sie größere Möglichkeiten zur modischen Variation. Blau gehörte zu den preiswerten synthetischen Farben und wurde deshalb v. a. von den unteren Schichten getragen. Dies zeigte sich besonders im blauen Arbeitskittel. Rot war ungefähr fünfmal so teuer und wurde v. a. in Kleidern des Adels und des Wirtschaftsbürgertums verarbeitet.22
Zu einer flächendeckenden Herstellung in der Fabrik gelangte die Fertigung von Kleidung aber erst im Laufe des 20. Jahrhunderts. Dies hing zum einen damit zusammen, dass Kleidung lange Zeit in Heimarbeit23 hergestellt wurde, weil sich die Formgebung in der Verarbeitung von Geweben zu Kleidung nicht oder nur sehr partiell mechanisieren lässt, zum anderen aber auch mit der Ablehnung der Menschen gegenüber der „Kleidung von der Stange“, die erst ab Ende des 19. Jahrhunderts ausgehend von den unteren Schichten, die sich keine Maßkleidung leisten konnten, abgebaut wurde.24 In den Städten setzte sich Fertigkleidung schneller durch als auf dem Land, einerseits weil der Bedarf der dortigen Industriearbeiterschaft größer war, andererseits auch, weil der Tracht als verbindendem Element auf dem Land bis ins 20. Jahrhundert eine große Bedeutung zukam.25
Im Gegensatz zu den klassischen Führungssektoren der Industrialisierung wie der Eisen- und Stahlindustrie, dem Maschinenbau und der Chemischen Industrie, die durch kapitalintensive und technisierte Produktionsformen gekennzeichnet sind, handelt es sich bei der Bekleidungsindustrie um eine wenig kapital,– sondern arbeitsintensive Branche, die im Landschaftsbild wenig auffällt, da keine großen Gebäude und Maschinen benötigt werden und sie selbst keine Verschmutzungen und kein Abwasser verursacht wie beispielsweise die Chemische Industrie. Außerdem war die Fertigung durch Verlagssystem und Heimarbeit bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts stark dezentralisiert. Deswegen wurde sie von den Zeitgenossen auch „Industrie ohne Schornsteine“26 genannt.
Ziel der Arbeit ist es, die Entwicklung der deutschen Bekleidungsindustrie von der Weimarer Republik, in der zunehmend „Kleiderfabriken“ entstanden und man von einer „Industrie“ im eigentlichen Sinne sprechen kann, bis zum Niedergang der Branche in Deutschland Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre zu untersuchen. Auf der Branchenebene stellen sich dabei folgende Fragen: Welchen Verlauf nahm die Branche in diesen gut 50 Jahren? Welche Kontinuitäten und Brüche offenbarten sich? Welchen Einfluss hatten wirtschaftliche und politische Zäsuren auf die Branche? Wie wirkte sich der Zweite Weltkrieg auf die Entwicklung aus? Zum ersten Mal in einer wirtschaftshistorischen St...