Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte
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Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte

Materialien, Methodik, Fragestellungen

  1. 144 Seiten
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Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte

Materialien, Methodik, Fragestellungen

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Inhaltsverzeichnis
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Über dieses Buch

Das Lehrbuch bietet grundlegende Orientierung in der Verfassungs- oder Verwaltungsgeschichte: über die Quellen, die vorhandene Forschungsliteratur und die besonderen methodischen Fragen. Dieser Überblick gewinnt immer mehr an Bedeutung, weil die einstmals an den Nationalstaat gebundenen Fragestellungen heute von europäisch vergleichenden abgelöst werden. Eine Ausweitung auf eine globale Perspektive wird ebenfalls unternommen.

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Information

Jahr
2017
ISBN
9783110557046
Auflage
1
Thema
Droit

Teil 1: Einführung

1Geschichte des Öffentlichen Rechts. Verfassungs- und Verwaltungsrechtsgeschichte, Wissenschaftsgeschichte

Geschichte und Rechtsgeschichte
Verfassungsgeschichte, Verwaltungsrechtsgeschichte, die Geschichte des öffentlichen Rechts insgesamt, sind Teildisziplinen der Geschichtswissenschaft. Dasselbe gilt für die Kanonistik und die Geschichte des heutigen Kirchenrechts sowie für die Geschichte des Völkerrechts, die aber beide in diesem Buch nicht behandelt werden. Die genannten Fächer umschließen nicht nur die Ereignisgeschichte, sondern auch die sie begleitenden, vorbereitenden oder nachträglich reflektierenden geistigen Prozesse. Wer auf diesen Feldern arbeitet, tut dies „historisch“, also mit historischen Methoden. Allerdings sind viele Autoren auch ausgebildete Juristen. Die bei ihnen verfügbaren Vorinformationen über das Recht, seine Formen und Funktionen, erleichtern auf der einen Seite das Verständnis der Quellentexte, verführen aber auf der anderen Seite dazu, die bereits bekannten Elemente im unbekannten Material zu entdecken und anachronistisch im Kontext der Gegenwart zu interpretieren.
Institutionelle Verankerungen
Die genannten Fächer sind institutionell entsprechend verteilt, aber meistens an Juristischen Fakultäten / Fachbereichen verankert. Kirchenrecht und kirchliche Rechtsgeschichte (Kanonistik) finden heute meist an Theologischen Fakultäten ihren Platz, während sie aus den Studienplänen der deutschen Juristischen Fakultäten nahezu verschwunden sind – anders etwa in Österreich. Das von historischen Elementen geprägte Staatskirchenrecht, inzwischen meist „Religionsverfassungsrecht“ genannt, gehört zum geltenden Verfassungsrecht und wird deshalb meistens als Spezialfach des öffentlichen Rechts gepflegt. Die Geschichte des Völkerrechts, in den letzten Jahren wieder intensiver betrieben, gilt einerseits als „Vorspann“ zur Lehre des modernen International Law, ist andererseits aber auch ein eigenes Forschungsfeld geworden, das mit Studien zur kolonialistischen Eroberung der Welt, zu Sklaverei und deren Ächtung, zu Kriegsvölkerrecht und humanitärem Völkerrecht, zur Wissenschaftsgeschichte des Völkerrechts und den Diskussionenumdie Universalität oder die kulturelle Modifizierung von Menschenrechten verbunden wird.
Zuordnung
Schon hieraus lässt sich schließen, dass es unterschiedliche Auffassungen darüber gibt, welche Stellung diese historischen Fächer einnehmen. Die einen sehen in ihnen die historische Einleitung, also das Propädeutikum zum Verständnis des geltenden Rechts. So gehörten die Verfassungsgeschichte zum Staatsrecht, die Verwaltungsrechtsgeschichte zum Verwaltungsrecht, die Privatrechtsgeschichte zum Privatrecht und die Geschichte des Strafrechts zum Strafrecht. Die anderen ordnen diese Fächer den Geschichtswissenschaften zu, von denen sie die gesamte Methodik und eine in gewissem Umfang die für sie notwendige Distanz zur Gegenwart übernehmen. Eine dritte, vermittelnde Gruppe möchte die Forschung ganz historisch ausgerichtet sehen, bringt aber bei der Lehre des geltenden Rechts so viele historische Erkenntnisse unter wie es angebracht erscheint.
Diese grob vereinfachende Sicht muss aber weiter differenziert werden; denn wenn es als akzeptiert gilt, dass alle Rechtsgeschichte(n) historische Fächer ist/sind, entsteht innerhalb des historischen Feldes eine neue Unübersichtlichkeit. Die Rechts- und Verfassungsgeschichte, die Verwaltungsrechtsgeschichte und die Geschichte des Völkerrechts bearbeiten mit historischen Fragestellungen und Methoden Gegenstände, die als Subdisziplinen teils zur Politik- und Staatengeschichte, teils aber auch zur Ideen-, Mentalitäts-, Gender-, Sozial- oder zu einer speziellen Literaturgeschichte gelten. Deshalb sei zunächst beschrieben, was die um das „Öffentliche“ kreisenden Subdisziplinen der Rechtsgeschichte verbindet, aber wichtiger noch, was sie unterscheidet.

1.1Gemeinsamkeiten

Ausgangspunkt
Verbindend sind die geschichtliche Fragestellung sowie die Bezogenheit auf öffentlich legitimierte Herrschaft. Letztere umfasst alle Formen königlicher oder fürstlicher, republikanischer oder genossenschaftlicher Herrschaft seit dem Mittelalter, seien es die Lehenbindungen im „Feudalsystem“, seien es Obrigkeiten der Städte oder Landschaften, Fürstentümer oder Königreiche. Sie alle schließen sich in Europa seit dem 17. Jahrhundert unter der alle partikuläre Herrschaft zusammenfassenden Bezeichnung „Staat“ zusammen. Dieser Staat, von dem man in einem präziseren Sinn hierzulande erst seit der Frühen Neuzeit sprechen kann, hat sich vor allem seit dem 19. Jahrhundert zu einer Chiffre mit vermeintlichem Ewigkeitscharakter verdichtet, so als müsste es immer und überall „Staaten“ geben und gegeben haben. Unter historischem Blickwinkel trifft dies offenkundig nicht zu; man beobachtet vielmehr seit dem Übergang des Menschen in die quellenmäßig fassbare Zeit eine Vielfalt menschlicher Organisationsformen, von lockeren Zusammenschlüssen kleinerer Einheiten bis zu zentralistisch und bürokratisch regierten Imperien, lokale, ethnische und religiöse Formationen, periodisch wandernde, aber keineswegs unorganisierte Hirtenvölker, Seefahrer- und Händler-Gemeinschaften mit schwächerer Ortsbindung, bäuerliche Kulturen mit Autonomie und vieles andere.
Vom Mittelalter in die Moderne
Auch der in der Frühen Neuzeit aufsteigende europäische „Staat“ entwickelte zahlreiche Herrschaftsformen, vor allem weil ältere Institutionen in die neuere Zeit hineinragten und sich den neuen Bedingungen anpassten. Die mittelalterlichen Strukturen in ihrer Vielfalt verschwanden nicht, sondern wurden vom frühmodernen Staat, bildlich gesprochen, eingeschmolzen und umgeformt. Dieser neue „souveräne“ Staat mit seinem Anspruch, sich alle anderen Gewalten zu unterwerfen, setzte sich keineswegs überall durch. Stets gab es Zonen, in die der „Staat“ nicht eingreifen konnte oder wollte, etwa im kirchlichen Leben, im Handwerk, im Fernhandel oder bei der Erfassung des „fahrenden Volks“. Von einem Generalplan absolutistisch gesinnter Herrscher, mit dem der moderne Staat in die europäische Geschichte eingetreten sei, um alles gesellschaftliche Leben zu beherrschen, kann nicht gesprochen werden. Vielmehr verschoben sich seit dem mittleren 15. Jahrhundert die politischen Gewichte Schritt für Schritt, stets begleitet und gefördert von politischen und juristischen Reflexionen. Sie verschoben sich dorthin, wo ordnungspolitische Leerräume entstanden, die nicht mehr überzeugend besetzt waren. So hatte die römische Weltkirche in ihrer Krise des 15. und in den Reformationen des 16. Jahrhunderts gegenüber den weltlichen Instanzen Positionen räumen müssen. Die europaweite Spaltung der Konfessionen seit Luther, Zwingli und Calvin legte den Obrigkeiten die Übernahme neuer Ordnungsaufgaben nahe. Ebenso verloren der Adel und das Lehenwesen ihre ursprüngliche Funktion als „Wehrstand“ durch die Erfindung der Feuerwaffen, durch den Übergang zu Söldnerheeren sowie zu stehenden Armeen seit dem 17. Jahrhundert. Aus dem adeligen Ritter wurde entweder der „Höfling“ (aulicus) oder der dem „Staat“ dienende adelige Offizier des 18. Jahrhunderts. Schließlich gerieten die städtischen Handelszentren Mitteleuropas durch den Fall von Byzanz (1453) und durch die Verlagerung der Handelswege in die Neue Welt in ökonomische Krisen, ebenso seit dem 15. Jahrhundert der Städtebund der Hanse in Nord- und Ostsee, während die aufsteigenden neuen Seemächte (Spanien, Portugal, England, Niederlande, Frankreich) die Welt „kolonisierten“ und unter sich aufteilten. Die politisch-juristische Theorie (Machiavelli, Morus, Bodin, Botero, die „Schule von Salamanca“, Althusius, Grotius, Hobbes, Spinoza, Locke, Montesquieu, Rousseau) begleitete diesen Prozess der Neuorientierung mit einer Kette der weltgeschichtlich bedeutendsten Werke des politischen Denkens.
Der „Staat“
Der in diesem Polygonal von politischen Kräften aufsteigende „moderne Staat“ wurde fast überall monarchisch regiert, wobei die „Land und Leute“ vertretenden Stände vom 16. bis zum 18. Jahrhundert in den meisten Territorien an Macht verloren, ohne aber ganz zu verschwinden. Ihr wichtigstes Instrument war das Recht, dem Monarchen die Zustimmung zur Besteuerung der Untertanen zu verweigern. In nichtmonarchischen Regierungsformen gab es entsprechende Spannungen zwischen „oben“ und „unten“. Sie erhielten sich in Deutschland in den Freien Reichsstädten, in Stadtrepubliken wie Venedig, Ragusa (Dubrovnik) oder Genua, in den schweizerischen Kantonen sowie in der faktischen Adelsherrschaft Polens. Eine eigene, teils kooperative, teils antagonistische Form bildete sich in England zwischen König und Parlament aus. Alle diese Regierungsformen, die klassischen absoluten Monarchien wie Frankreich oder Dänemark (seit 1660) ebenso wie die gemischten Formen oder die Aristokratien in den Städten, nahmen am institutionellen Wandel der Frühen Neuzeit teil. Bei aller Unterschiedlichkeit regierten sie „neuzeitlich“ mit einem kontinuierlich wachsenden und gegliederten Verwaltungsapparat. Staatliche Herrschaft über ein Territorium war nur durch Verwaltung möglich. So bildeten sich nun überall spezielle Verwaltungszweige mit entsprechenden Kanzleien (Kammern), etwa die zentrale Finanzverwaltung, parallel zu den erstmals aufgestellten Bilanzen der Einnahmen und Ausgaben des gesamten Herrschaftsgebiets, weiter eine mit der „Verstaatlichung“ der Heere notwendig werdende Heeresverwaltung, eine in festeren Gremien, den „Geheimen Räten“, geführte Außenpolitik, vor allem aber auch die für die Innenpolitik zuständigen Organe der umfassenden „Policey“ – nicht zu verwechseln mit der auf Gefahrenabwehr reduzierten modernen Polizei. Letztere prägte dann im 19. Jahrhundert das Bild der Verwaltung des Ancien Régime mit dem polemischen Wort des überall eingreifenden „Polizeistaats“.
Es ist ein faszinierender Vorgang der Verfassungs- und Verwaltungsrechtsgeschichte, wie aus diesen Prozessen der institutionellen Spezialisierung samt Vermehrung der ausgebildeten Fachleute die späteren Ministerien entstanden. Ihre Chefs blieben in direkter, „immediater“ Beziehung zum Monarchen. Dieser regierte entweder selbst „autokratisch“ oder überließ die Regierung der faktisch regierenden Person eines „Staatsministers“ oder eines Günstlings.
„Verfassung“
Die Französische Revolution bildete den eigentlichen Bruch mit dem europäischen „Ancien Régime“. Sie folgte zwar der von ferne bewunderten Verselbständigung von Nordamerika, wühlte aber durch ihre Blutopfer und die napoleonischen Kriege den ganzen Kontinent in einzigartiger Weise auf. Als mit dem Wiener Kongress von 1814/15 eine Re-Stabilisierung erreicht war, diskutierte die Öffentlichkeit über Verfassungen. Nun wurde die „Öffentliche Meinung“ zu einer umkämpften, aber auch mitgestaltenden Macht. Bis 1848 verwandelten sich die meisten kleinen und großen Staaten, ausgenommen Preußen und Österreich, in „Verfassungsstaaten“.
Das alte Wort „Constitutio(n)“ bedeutete seither im formellen Sinn einen besonders hervorgehobenen Rechtstext, in dem die Grundzüge des Staatslebens, vor allem die Stellung des Staatsoberhaupts und der Volksvertretung festgelegt sein sollten. Dieser Text wurde entweder vom Monarchen „gewährt“ (oktroyiert) oder mit den bisherigen Landständen, die sich zu Parlamenten wandelten, paktiert oder von Honoratiorenversammlungen dem Monarchen zur Zustimmung vorgelegt (Norwegen 1814). In der Sache waren die damals geltenden Verfassungen politische Kompromisse zwischen Bürgertum und Monarchie. Das Bürgertum erhielt begrenzte parlamentarische Mitsprache (Volkshaus, Zweite Kammer, Parlament) und erkämpfte sich schrittweise das Recht der Gesetzesvorlage, das Budgetrecht, die Ministeranklage, während dem Monarchen nicht nur die materielle Macht (Verwaltung, Militär), sondern auch das zentrale Recht verblieb, die Regierung zu bestimmen bzw. zu entlassen. Die in allen größeren Staaten eingerichtete Erste Kammer (Oberhaus, House of Lords) sowie die Institution des Staatsrats (Conseil d’État), beide mit ausgewählten Mitgliedern besetzt, verstärkten das Gewicht der Monarchie. Die Exekutive, eine wesentliche Stütze der Monarchien, geriet in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter das Postulat des „Rechtsstaats“ und, jedenfalls in Deutschland, auch unter die Kontrolle der neuen Verwaltungsgerichte. Die Justiz, zunächst noch als Teil der Exekutive verstanden, gewann im Laufe des 19. Jahrhunderts ihre Stellung als „Dritte Gewalt“ mit persönlich und sachlich unabhängigen Richtern.
Demokratie und Rechtsstaat
Im 20. Jahrhundert trat an die Stelle der konstitutionellen Monarchien die parlamentarische Demokratie mit allgemeinem und gleichem Wahlrecht sowie mit prozeduralen und materiellrechtlichen Garantien zugunsten der Individuen und der Gesellschaft gegenüber legislativen Eingriffen (Grundrechte). Dieses Modell beruhte auf der Voraussetzung einer schon seit dem 18. Jahrhundert diskutierten Unterscheidbarkeit von Staat und Gesellschaft, auf der Annahme „vorstaatlicher“ Rechte des Einzelnen und auf der Grundidee, dass öffentliche Herrschaft mit Hilfe des öffentlichen Rechts an die von allen gebilligten Regeln und Rechtsnormen gebunden sein solle (Rule of Law, Rechtsstaat), vor allem an das Verfassungsrecht.
Von öffentlichem Recht als einem besonderen Gebiet zu sprechen – qualitativ unterschieden von Zivilrecht und Strafrecht – setzt also implizit eine bestimmte Distanz zwischen privatem Leben und öffentlicher Herrschaft voraus. Diese Distanz ist nicht jeder Rechtsordnung eigen. Im englischen und amerikanischen Recht, aber auch in den skandinavischen Staaten ist sie weit weniger ausgeprägt als auf dem Kontinent, auf dem es schärfere Spannungen zwischen Staat und Gesellschaft gab. Die bestimmenden Schichten der Gesellschaft, denen eine gemeinsame Linie fehlte, organisierten sich nun seit 1848 in „Parteien“, zu denen als antagonistisches Element auch die Arbeiterbewegung, der sog. Vierte Stand, hinzutrat. Das öffentliche Recht, im Wesentlichen bestehend aus Staats- und Verwaltungsrecht, stand deshalb einer heterogenen und unruhiger werdenden Gesellschaft gegenüber, die mit der Industrialisierung, der Sozialen Frage und dem speziell für das Bürgertum unentbehrlichen Rechtsstaat beschäftigt war. Ihr liberales Credo lag im Prinzip der Vertragsfreiheit. Privatrechtliche Freiheit und obrigkeitlicher Zwang ergänzten sich allerdings, etwa wenn Schutzzölle den heimischen Markt begünstigten oder wenn hoheitlicher Zwang zur Sozialversicherung den Zweck erfüllen sollte, die Gefahren der Sozialen Frage zu entschärfen. Insgesamt blieb aber die Dichotomie von Privatrecht und öffentlichem Recht – bis hinein in die entsprechende Gabelung der Rechtswege – die rechtswissenschaftliche Grundlage Kontinentaleuropas bis zum Ersten Weltkrieg. In den europäischen Kolonien, in denen zum Teil ältere Gesellschaftsformen und vormodernes Stammesleben lebendig geblieben waren, entwickelten sich hybride Formen von indigenem Recht und fremdem europäischem Recht, wobei es zu inzwischen völlig inakzeptablen Formen von praktizierter Ungleichheit kam, etwa im Kolonial-Strafrecht. Das war in nuce ein „Rassenrecht“, das eine Vorahnung von kommenden Katastrophen geben konnte.1
Strafrecht
Zum Strafrecht bedarf es noch eines speziellen Hinweises, was die Dichotomie von Privatrecht und öffentlichem Recht angeht. Es hat sich früh vom öffentlichen Recht, zu dem es ja eigentlich als schärfste Ausprägung der Staatsgewalt gehörte, abgelöst. Die ursprünglichen Formen von Sühneleistung und Buße zwischen betroffenen Familien oder lokalen Gemeinschaften, die auch in Form einer öffentlichen Klage vor allen Beteiligten verhandelt werden konnten, wurden im Laufe des Mittelalters durch „hoheitliche“ Formen ersetzt. Die Obrigkeiten zogen den Komplex von Straftat, Verurteilung und Strafvollzug Schritt für Schritt an sich, offenbar weil jene Selbstregulierung von Konflikten zu viel an Unruhe, Unwägbarkeiten und Privatkriegen mit sich brachte. Die Guten zu belohnen und die Bösen zu bestrafen, war die genuine Aufgabe von Herrschern und Obrigkeiten aller Art. Dennoch verstand man, als sich die Universitätslehre um 1600 systematisch mit dem Kriminalrecht zu befassen begann, das Strafrecht nicht mehr als Teil des öffentlichen Rechts (ius publicum). Es war ein besonderes gestaffeltes Hoheitsrecht, das von der Niedergerichtsbarkeit aufwärts bis zur Hoch- oder Blutgerichtsbarkeit (ius criminale) reichte.
Öffentliches Recht und Privatrecht
Nachdem das mittelalterliche Lehnrecht – längst funktionslos geworden – ab 1800 zu einem Sondergebiet verkümmert, nachdem auch das Strafrecht (oft verbunden mit dem Naturrecht, der späteren Rechtsphilosophie) selbständig geworden war, blieben nur noch Reste von Privilegien (Mühlenrechte, Braurechte, Wegerechte etc.) und das Sonderrecht hochadeliger Familien seitab stehen, während sich als große Blöcke das Privatrecht der Gesellschaft und das Öffentliche Recht des Staates gegenüberstanden. Jedes Individuum war zugleich „Bürger“ und „Staatsbürger“, bourgeois und citoyen, borghese und cittadino. Diese Zweiteilung des Rechts, die in Deutschland unter dem Einfluss der idealistischen Philosophie sogar zu einem apriorischen Gegensatz gesteigert wurde, verlor allerdings schon am Ende des 19. Jahrhunderts, vielfach unbemerkt, ihre Unterscheidungskraft. Die rasche Entwicklung der Industrie führte nicht nur zu erhöhtem Kapitalbedarf und neuen Formen des Gesellschaftsrechts, sondern nötigte den Staat auch zu ersten punktuellen Eingriffen in das Privatrecht (Unfallverhütungsmaßnahmen, Arbeitsschutz, Gewerbeaufsicht, Konzessionierungen, Lebensmittelkontrolle). Die erwähnten Schutzzölle und die Sozialversicherung, die in Deutschland 1883–1889 eingeführt wurde, deuten ebenfalls in die Richtung einer Abkehr vom wirtschaftlichen und sozialen Liberalismus. Es entstanden Parteien, Interessenverbände aller Art und Gewerkschaften. Die Großindustrie organisierte sich in immer größeren Einheiten (Kartellen, Trusts) und überschritt schon vor der Wende zum 20. Jahrhundert den nationalen Rahmen. Diese Tendenzen, welche zunehmend die Grenzen zwischen Privatrecht und öffentlichem Recht verwischten, verstärkten sich dann schlagartig mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs. In allen kriegführenden Staaten kooperierte die Industrie mit staatlichen Behörden oder direkt mit den Armeen, und zwar um so intensiver, je mehr sich der Krieg auf die Potentiale der Rohstoffe, Erfi...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Vorwort der Herausgeber
  5. Inhaltsverzeichnis
  6. Teil 1: Einführung
  7. Teil 2: Quellen, Editionen, Hilfsmittel
  8. Teil 3: Probleme und Perspektiven der Forschung
  9. Teil 4: Bibliographie und Verzeichnisse