1.1 Ausgangslage: Zur Entstehung der Septuaginta
Der Frage nach der Entstehung der Septuaginta kann nur nachgegangen werden, wenn man Erkenntnisse der Übersetzungswissenschaft einbezieht. Denn die als „Septuaginta“ bezeichnete Schriftensammlung besteht zum größten Teil aus Übersetzungen hebräischer (und aramäischer) Texte ins Griechische. Daher ist die Frage nach der Entstehung dieser Sammlung unauflöslich mit der Frage verbunden, wie sich die griechischen Texte als Übersetzungen charakterisieren lassen. Wenn man nach dem „Sitz im Leben“ der einzeln übersetzten und deshalb einzeln zu betrachtenden Septuagintaschriften fragt, dann wird man nur dann auf Ergebnisse hoffen dürfen, wenn man die Texte in ihrer Eigenschaft, Übersetzungstexte zu sein, betrachtet und unter diesem Blickwinkel charakteristische Eigenschaften dieser Texte sammelt und auswertet.
Bei der Auswertung solcher Übersetzungseigenschaften konkurrieren in der Forschung verschiedene Ansätze miteinander, deren Extrempositionen zunächst skizziert werden. Strittig ist vor allem die Frage, inwieweit man den Übersetzern der Septuagintaschriften einen theologisch motivierten Gestaltungswillen zugesteht. Haben die Übersetzer ihre hebräische Vorlage lediglich wörtlich-genau abgebildet, ohne eine eigene theologische Intention sprachlich umzusetzen, oder haben sie auch einmal den Wortlaut geändert, ergänzt oder umgestellt, um eine theologische Aussage zu machen, die in der Vorlage nicht oder nicht ganz so deutlich vorkommt?
Unter der Voraussetzung der zuerst genannten Alternative vermutete Albert Pietersma den Ursprung der Septuaginta im jüdisch-hellenistischen Bildungswesen. Sein Ausgangspunkt ist die Existenz lateinisch-griechischer Übungstexte, die in Schulen verwendet wurden und deren Text interlinear in zwei Spalten dargestellt war. Daraus folgt die Vermutung, dass man in jüdischen Schulen der Diaspora den hebräischen Bibeltext mit Hilfe der griechischen Fassung studiert habe. Die Schlussfolgerung in dem von Pietersma entwickelten Modell besagt, dass die Septuaginta-Übersetzungen vorrangig dazu gedient hätten, die Lektüre nicht etwa des griechischen, sondern des hebräischen Textes zu ermöglichen. Der griechische Text habe demnach als Hilfsmittel zum Verständnis des hebräischen Textes gedient und sei daher von den ersten Lesern, die meist zweisprachig waren, als „second-order text“ wahrgenommen worden.
Grundlage für diese Vermutung zum „Sitz im Leben“ der Übersetzungen ist eine Beobachtung an den übersetzten Texten selbst: An vielen Stellen des griechischen Textes lasse sich eine „Dimension der Unverständlichkeit“ feststellen. Der Leser stoße auf hebraisierendes oder sogar unverständliches Griechisch, auf Transkriptionen und auf andere „Verlegenheitsübersetzungen“. Zum Verständnis dieser Stellen sei es für die ersten Leser nötig gewesen, auf den hebräischen Ausgangstext zurückgreifen, der somit zum „de facto-Kontext“ wurde. Pietersma behauptet im Rahmen seiner Argumentation allerdings nicht, dass zweisprachige hebräisch-griechische Texte notwendigerweise existiert hätten, sondern lediglich, dass der griechische Text vom hebräischen Text „sprachlich abhängig“ sei. Die Zusammenschau der genannten Beobachtungen, Vermutungen und Schlussfolgerungen bildet das so genannte „Interlinearitäts-Paradigma“, dessen „methodologisches Diktum“ wie folgt lautet: Alle übersetzten Bücher der Septuaginta seien als interlinear übersetzt zu betrachten, es sei denn, die Daten legen etwas anderes nahe.
Vertreter des Interlinearitäts-Paradigmas, Pietersma eingeschlossen, haben sich in späteren Veröffentlichungen von den zuvor geäußerten Vermutungen zum Ursprung der Septuaginta-Übersetzungen vorsichtig distanziert. Das Modell dient jetzt lediglich als „Metapher“ und als „heuristische Arbeitshilfe“, mit deren Hilfe das Verhältnis zwischen dem griechischen und dem hebräischen Text beschrieben werden kann, und zwar rein deskriptiv. Die neuere Variante des Interlinearitäts-Paradigmas hat also nicht den Anspruch, die Ursprünge der Übersetzungen oder ihre Verwendung durch die Rezipienten zu erklären.
Auch wenn dieses Modell einige sprachliche Phänomene in den Septuagintaschriften angemessen beschreiben kann, bleiben Fragen offen. Denn es gibt in den einzelnen Büchern der Septuaginta genügend Texte, die sich einer Erklärung durch das Interlinearitäts-Paradigma entziehen. Hier sind vor allem die zahlreichen eher sinngetreuen als formgetreuen Wiedergaben in den Übersetzungen zu nennen. Darüber hinaus lassen sich spezielle Übersetzungstechniken wie Harmonisierungen mit anderen Texten oder intertextuelle Anspielungen finden, die offensichtlich theologisch motiviert sind. Als weiteres Argument gegen das (ursprüngliche) von Pietersma vorgeschlagene Modell kommt hinzu, dass das dort vorausgesetzte soziale Umfeld besser ins zweite nachchristliche als ins dritte vorchristliche Jahrhundert passt. Denn eine Leserschaft, die den griechischen Text als Hilfsmittel zum Studium des hebräischen Textes verwendet, lässt sich eher mit der Revision durch Aquila in Verbindung bringen als mit den ursprünglichen ab dem dritten vorchristlichen Jahrhundert angefertigten Übersetzungen. Aquilas Übersetzung ist tatsächlich so eng an der hebräischen Vorlage orientiert, dass sie ohne die Vorlage als Bezugstext „undenkbar“ ist.
Das Interlinearitätsmodell impliziert, dass die Übersetzer der Septuaginta kleine syntaktische Einheiten einzeln und nacheinander möglichst formerhaltend übersetzten. In dieser Hinsicht waren sie weniger Theologen als vielmehr „Techniker“, deren einziges theologisches Anliegen darin bestand, die heiligen Schriften Israels möglichst exakt, zumindest was die Textoberfläche betrifft, zu bewahren. Diese Intention kann sich nicht inhaltlich im griechischen Text niedergeschlagen haben. Vielmehr ist die von den Übersetzern vertretene „Theologie der Textbewahrung“ eine Eigenschaft des Übersetzungstextes im Verhältnis zu seiner hebräischen Vorlage. Die griechischsprachigen Rezipienten können zwar die Formtreue als Eigenschaft des Textes wahrgenommen haben, eine direkte theologische Aussage wurde dadurch jedoch nicht vermittelt.
Doch ist es wirklich so, dass die Übersetzer über die Bewahrung des heiligen Textes hinaus kein eigenes theologisches Anliegen hatten? Diejenigen Phänomene einer Übersetzung, die den Rahmen des Interlinearitäts-Paradigmas sprengen, solche Stellen also, deren griechischer Text vom vorausgesetzten hebräischen Wortlaut stark abweicht, lassen sich auf zweierlei Weise erklären: mit einer alternativen hebräischen Vorlage oder mit eigenen theologischen Akzenten des Übersetzers. Die Annahme, dass die Übersetzer ein theologisches Anliegen hatten, das ihr Werk inhaltlich bestimmen durfte, liegt dem von Arie van der Kooij vorgeschlagenen „Schriftgelehrten-Modell“ zugrunde. Ausgangspunkt in diesem Modell, das bezüglich der theologischen Intention der Übersetzer eine Maximalposition markiert, ist eine Beobachtung im Buch Ben Sira. Dort wird nicht nur der Autor des Buches als Schriftgelehrter bezeichnet (Sir 38,24–39,11), sondern auch sein Enkel, der Übersetzer (Prol 24–25). Dieses Bild stimme mit den Angaben im Aristeasbrief überein, dass die Übersetzer Männer waren, die die heiligen Schriften kannten, sie erklären und auslegen konnten (§32, 305). Insgesamt lasse dies darauf schließen, dass die Septuaginta auf der Grundlage der Interpretationstechniken des Frühjudentums in einem schriftgelehrten Milieu entstand. Damit ist Raum für die Möglichkeit, dass die Übersetzer freier mit ihrer Vorlage umgingen als von Pietersma vermutet, bis hin zu „schriftgelehrter Exegese“, was beispielsweise auch Intertextualität beinhalten könne. Allerdings löst auch das „Schriftgelehrten-Modell“ nicht alle Fragen. Denn hier lässt sich nur schwer erklären, warum neben den Freiheiten, die sich die Übersetzer an manchen Stellen nahmen, an anderen Stellen der griechische Text extrem hebraisierend wirkt, bis hin zu „ungriechischer“ und schwer verständlicher Ausdrucksweise.
Eine relative Mittelposition zwischen dem Interlinearitäts-Paradigma und dem Schriftgelehrten-Modell nimmt Anneli Aejmelaeus ein...