1. Die antike Landwirtschaft und ihre Rezeption im Orient
1.1. Von den Anfängen bis zu den Geoponika (10. Jh.)
Sowohl in den antiken als auch in den mittelalterlichen vorindustriellen Gesellschaften war die Landwirtschaft einer der bedeutendsten wirtschaftlichen Faktoren, dem nicht nur bei der Versorgung der Bevölkerung mit Nahrung eine herausragende Bedeutung zukam,1 sondern der auch den Reichtum eines Staates und seiner Bewohner ausmachte und der im Selbstverständnis dieser Gesellschaften eine wichtige Rolle spielte – nicht nur die Bauern, sondern auch die Elite, deren Reichtum und Macht auf dem Grundbesitz beruhten, beschäftigte sich auf den Feldern und in den Gärten.2 Dem Acker-, dem Gartenbau und der Viehzucht kam daher eine überaus wichtige identitätsstiftende Funktion zu. Neben literarischen, bisweilen ideologisch verklärenden Darstellungen (wie Vergils Georgica) existierte in der Antike auch ein systematischer, fachwissenschaftlicher Ansatz.3
Geographisch gesehen bildete der Mittelmeerraum, der über ähnliche Böden und klimatische Voraussetzungen verfügt und sich in dieser Beziehung deutlich von Mitteleuropa unterscheidet, schon in der Antike einen einheitlichen Kulturraum, wie auch literarische und archäologische Testimonien beweisen; die Landwirtschaft ist dabei trotz der vielen politischen und kulturellen Umwälzungen über Jahrhunderte hinweg bemerkenswert stabil geblieben.4
Das Corpus der antiken landwirtschaftlichen Literatur ist von der Altertumswissenschaft bisher nicht in seiner Gesamtheit untersucht worden. Während die lateinischen Autoren, deren Werke zu einem großen Teil (etwa Cato, Varro, Vergil oder Columella) erhalten geblieben sind, relativ gut erforscht sind,5 kann nicht dasselbe für die griechische landwirtschaftliche Literatur ausgesagt werden, deren Corpus größtenteils verlorengegangen ist.
1.1.1. Die griechische landwirtschaftliche Literatur von Hesiod bis zum Hellenismus
Die literarische Beschäftigung mit der Landwirtschaft beginnt in der griechischen Literatur schon ganz früh. Im Homerischen Heldenepos erscheinen landwirtschaftliche Tätigkeiten vor allem in Gleichnissen:6 So werden etwa in der Schildbeschreibung (Il. 18,541–589) die Bearbeitung des Bodens und des Weinbergs sowie die Viehhaltung (Rinder, Schafe) lebendig geschildert.7 In der ,homerischen‘ Welt bildete die Landwirtschaft „die nahezu alleinige Lebensgrundlage.“8 Auch die Adligen waren Bauern; daher gehörten „Tüchtigkeit und Bewährung in bäuerlicher Arbeit … ganz allgemein zum Idealbild des adeligen Helden“9
Neben der
Theogonie und anderen genealogischen Werken befaßt sich Hesiod Ende des 8. Jh. v. Chr. im zweiten Teil seines Lehrgedichts
Werke und Tage , das aus 828 daktylischen Hexametern besteht und trotz einiger Lizenzen die hohe Sprache der epischen Heldendichtung verwendet, mit der Landwirtschaft. Hesiod richtet nach seinen Überlegungen über das Recht und die Gerechtigkeit einen paränetischen Appell zur Arbeit (299 ἐργάζεν) an seinen Bruder Perses, den Empfänger des Werks. Daran angeschlossen ist gleichsam die praktische Umsetzung dieses Appells: Im zweiten Teil (V. 383–617) werden nämlich die Arbeiten auf dem Feld und der Anbau von Getreide beschrieben. Das Lehrgedicht enthält einen Bauernkalender, der die zu jeder Zeit auszuführenden landwirtschaftlichen Tätigkeiten illustriert, erteilt Ratschläge zu Haus und Hof, den Sklaven, dem Vieh, dem Holzfällen und dem Pflügen, gibt Anweisungen, wie man den Winter verbringen soll, und beschreibt das Pfropfen der Reben, das Dreschen, die Weinernte und das Anlegen von Vorräten.
10 Die ausführlichen
Ratschläge und Beschreibungen der Jahreszeiten sind dabei kein Ornament, sondern dienen dazu, die zu verschiedenen Zeitpunkten des Jahres anfallenden Verrichtungen genauer zu bestimmen. Der Verfasser gibt detaillierte technische Ratschläge, die, da das Werk nach dem Modell mündlicher Kommunikation und Performance komponiert ist, assoziativ und unsystematisch erscheinen, viele Wiederholungen enthalten und mit moralischen Ratschlägen und Verhaltensregeln vermischt sind, was für die gnomische Weisheitsliteratur typisch ist. Es geht Hesiod nämlich in seinem Lehrgedicht „noch nicht um eine Synthese des landwirtschaftlichen Wissens der archaischen Zeit, sondern primär um eine normative Darlegung von Moral und Lebensführung im bäuerlichen Milieu“
11 Im ,konservativen‘ Ethos dieses Epos, das wohl die Auffassungen seiner Zeit und seines Milieus widerspiegelt, ist die Landwirtschaft – und nicht etwa die Politik
oder der Krieg – das Betätigungsfeld für den nach Tugend und Rechtschaffenheit strebenden Menschen.
12 Im Schlußteil (765–828), der von einem Teil der Forschung wegen seines im Gegensatz zu den vorangegangenen Teilen irrationalen und zum Aberglauben neigenden Charakters sowie wegen des Gebrauchs eines anderen kalendarischen Systems zur Zeitrechnung (Mondkalender) als unecht betrachtet worden ist,13 befaßt sich Hesiod mit den passenden Tagen und Zeitpunkten, an denen landwirtschaftliche Tätigkeiten zu verrichten sind.
Insgesamt berührt Hesiods Sach-Epos in nuce bereits alle wichtigen Themen und Bereiche der Landwirtschaft und enthält die technischen Kenntnisse seiner Zeit, auch wenn es sich, wie bereits gesagt, weder um die Darlegung der Forschungsergebnisse seiner Tätigkeit als Bauer noch um ein systematisches Handbuch für Landwirte handelte – Hesiod war kein professioneller Forscher –, sondern verfaßte ein Werk, mit dem er an einem Sängerwettbewerb aufgetreten ist.
In der Folgezeit ist in der griechischen Literatur kein Werk bekannt, das sich systematisch mit Fragen der Landwirtschaft befaßt hätte, auch wenn sich bereits in klassischer Zeit die Landwirtschaft (γεωργία) als eigenständige Disziplin im Kanon der τέχναι etabliert hatte, wie die Belege etwa bei Platon zeigen.14 Ob der Philosoph Demokritos im 4. Jh. ein Werk über die Landwirtschaft geschrieben hat, läßt sich aber weder beweisen noch ausschließen.15 Zwar schreibt ihm der von Diogenes Laertios benutzte Thrasyllos ein Werk über die Landwirtschaft zu; es ist aber durchaus möglich, daß das ganze landwirtschaftliche Œuvre Demokrits in Wirklichkeit von Bolos von Mendes (s. u.) stammt oder zumindest ziemlich früh von diesem kontaminiert worden ist. Dagegen ist das Werk des Tarentiners Archytas, der von verschiedenen späteren Autoren zitiert wird, vollständig verlorengegangen.16 Ebenso verloren ist das Werk des dreimal von Theophrast17 zitierten Androtion, eines Autors wohl aus dem 4. Jh.18 Verloren sind auch die von Aristot. Pol. 1,11 (1258b 40) erwähnten Schriften des Charetides von Paros und Apollodoros von Lemnos.
Die Landwirtschaft ist auch ein Thema des Oikonomikos, eines in der ersten Hälfte des 4. Jh. entstandenen sokratischen Dialogs Xenophons, in dem Sokrates zunächst dem Perserkönig die Aussage in den Mund legt, daß die Landwirtschaft zusammen mit dem Kriegswesen die wichtigste Beschäftigung sei,19 und dies in einem Exkurs erläutert. Dann folgt ein ausführliches Lob des Nutzens der Landwirtschaft und der damit verbundenen Tätigkeiten, die nicht nur für die Versorgung mit Lebensmitteln wichtig ist, sondern – indem Xenophon ein wichtiges im Einklang mit seiner Weltanschauung stehendes ideologisches Argument, das etwa bei Hesiod noch fehlt, anführt – sich in jeglicher Hinsicht als geistige und leibliche παιδεέα für einen freien Mann ziemt, da dieser sich bei den landwirtschaftlichen Verrichtungen körperlich betätigt und sich so auf die physischen Strapazen des Krieges vorbereitet.20 Die Landwirtschaft wird sogar als „Mutter und Amme aller übrigen Fertigkeiten“ bezeichnet: „Wenn die Landwirtschaft gedeiht, so blühen auch alle anderen Künste; wo die Erde unbestellt bleiben muß, da werden zugleich auch alle übrigen Künste mehr oder weniger zu Wasser und zu Lande ausgelöscht.“21
In einem zweiten Teil wird das Gespräch des Sokrates mit dem Gutsherrn Ischomachos berichtet. Dieser belehrt Sokrates über die Führung eines attischen Guts und gibt dabei Anweisungen zur Landwirtschaft (15,3 geht es um τὴν τέχνην … διδάσκειν τῆς γεωργέας). Zunächst wird über die Beschaffenheit des Bodens gesprochen (16,1–7), es folgen Anweisungen über den Zeitpunkt und über die verschiedenen Methoden der Aussaat, den Anbau, das Dreschen und das Ernten von Getreide (16,9–18); darauf folgen kurz die Bäume (Vitikultur und Ölbäume, cap. 19). Auf diesem idealen Landgut werden also Weizen, Wein, Öl und Obst produziert, aber keine Viehzucht betrieben.22 Dieser Teil des Werks zielt aber nicht darauf ab, eine systematische τέχνη über die Landwirtschaft zu geben, auch wenn er in geraffter Form ein Abbild einer solchen τέχνη ist. Jedenfalls ist er ein Indiz dafür, daß solche technischen Schriften bereits zur Zeit Xenophons zirkulierten und dem Verfasser, der sie neben seiner eigenen Erfahrung als Gutsbesitzer wohl als Quellen heranzog, bekannt waren. Aber die (ideologische) Kernaussage des Werks ist der Auffassung technischer Literatur diametral entgegengesetzt, zumal behauptet wird, daß weniger die umfassende technische Sachkenntnis des Verwalters (έπίτροπος) als seine Fürsorge (έπιμέλεια, cap. 20) und die Motivation der sklavischen Arbeitskräfte, die analog zu Soldaten nach dem Prinzip von ,Zuckerbrot und Peitsche‘ geführt werden,23 für das Gedeihen des nach ,kapitalistischen‘ Grundsätzen betriebenen Landgutes entscheidend seien (21,9).
Ebenso mit der Landwirtschaft hat sich Aristoteles nicht nur in seinem verlorengegangenen Werk Georgika befaßt, sondern sich auch in den Politika und in den ihm zugeschriebenen Oikonomika beschäftigt. Wie schon Xenophon betont er die Wichtigkeit der Landwirtschaft für eine gute Gesellschaft (Pol. 7,2). In verschiedenen naturwissenschaftlichen Werken, die zwar nicht stricto sensu zur landwirtschaftlichen Literatur gehören, beschäftigt er sich vor allem mit den Tieren.24 So sind Themen wie die Fortpflanzung natürlich auch ...