Handbuch Laut, Gebärde, Buchstabe
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Handbuch Laut, Gebärde, Buchstabe

  1. 536 Seiten
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Über dieses Buch

Das Handbuch Laut, Gebärde, Buchstabe bietet vielseitiges, auf aktueller theoretischer und experimenteller Forschung basierendes Wissen über die Einheiten der deutschen Lautsprache, vom Merkmal über die Silbe bis zum Wort und darüber hinaus, wobei im Sinne einer modalitätsübergreifenden Phonologie auch die entsprechenden Einheiten der deutschen Schrift- und Gebärdensprache systematisch behandelt werden. Damit wird der Medialität der deutschen Sprache, die gesprochen, geschrieben und gebärdet in Erscheinung tritt, Rechnung getragen. In engem Bezug zu den systembezogenen Eigenschaften sprachlicher Einheiten werden experimentell gewonnene Befunde zum Spracherwerb und zur gestörten und ungestörten Sprachproduktion und Sprachwahrnehmung präsentiert. Dabei wird das Deutsche in das Spektrum der typologischen, soziolektalen, regionalen und historischen Sprachvariation eingeordnet. Dieses Handbuch richtet sich an Wissenschaftler, die sich über Bereiche außerhalb ihres Spezialgebiets informieren wollen, und an linguistisch interessierte Studierende.

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Information

Jahr
2016
ISBN
9783110393842

ILautsprache

Doris Mücke/Martine Grice

1.Segment und Geste in der Lautsprache

Abstract: Der vorliegende Beitrag gibt eine Einführung in die dynamische Modellierung gesprochener Sprache mit speziellem Augenmerk auf der Frage nach der Implementierung von Segmenten und artikulatorischen Gesten. Es wird aufgezeigt, dass gesprochene Sprache keine natürlichen Segmentgrenzen aufweist. Bei der Betrachtung der Artikulation wird deutlich, dass Vokale die Konsonanten ‚tragen‘ in dem Sinne, dass sie diese vollständig überlappen. Im Rahmen der Artikulatorischen Phonologie werden Gesten als die kognitiven Grundeinheiten gesprochener Sprache angenommen. Gesten überlappen miteinander und gestische Koordinierungsmuster enkodieren linguistische Information. So können mit Hilfe von Gesten nicht nur linguistische Kontraste gebildet werden – auch bietet die dynamische Modellierungsform die Möglichkeit, kontextbedingte Variation quantitativ abzubilden. Durch eine Zunahme im Überlappungsgrad der Gesten können Reduktionsformen wie Tilgung und Assimilation kontinuierlich modelliert werden. Abschließend werden Evidenzen für gestische Prozesse am Beispiel der Assimilation mittels Messungen von Zungen-Gaumen-Kontakten gegeben. Als Ausblick wird die Markierung von Prominenz durch gestische Koordinationsmuster angeführt.
1 Einleitung
2 Sprachliche Primitiva
3 Phonologische Prozesse: Assimilation, Reduktion und Tilgung
4 Zusammenfassung und Ausblick

1Einleitung

In geschriebener Sprache tragen die Konsonanten viel zur Bedeutung bei. Obwohl in der folgenden Botschaft keine Vokalgrapheme verwendet worden sind, ist es nicht schwierig, sie zu entziffern.
(1) Dr frh Vgl fngt dn Wrm
Anders verhält es sich in der gesprochenen Sprache. Abgesehen davon dass es nicht möglich ist zu sagen, wo ein Laut endet und ein neuer anfängt, tragen Vokale wesentlich mehr zur Bedeutung bei als Konsonanten. Tilgt man in einer lautsprachlichen Äußerung die Konsonanten, wird das Verständnis kaum gestört; tilgt man hingegen die Vokale, ist die Botschaft verloren. Wie kommt das?
Bei der Betrachtung der Artikulation wird deutlich, dass Vokale die Konsonanten ‚tragen‘ – ist der Mund geschlossen, so hört man akustisch einen Konsonanten, obwohl die Zungenform im Mundraum bereits der des Folgevokals entspricht. Abbildung 1 veranschaulicht dieses Phänomen anhand der Zielsilbe /li/. Es handelt sich um die betonte Silbe in <Lina> in der Äußerung <Er geht mit der LIna viel lieber>. Die Abbildung zeigt von oben nach unten das akustische Signal in Form eines Oszillogramms sowie die Positionskurven für die Bewegungen der Zungenspitze und des -rückens. Es handelt sich jeweils um vertikale Positionskurven, die mit dem Öffnungsgrad des Vokaltraktes assoziiert sind, d. h. niedrige Werte stellen hier eine offene und hohe Werte eine geschlossene Stellung der Artikulatoren dar. Die Bewegungsintervalle für Start und Ende der konsonantischen Bewegung sind grau schattiert: die Zungenspitze wird für den alveolaren Verschluss in /l/angehoben, und der Zungenrücken wird für die Öffnung des Vokals /i/ angehoben. Beide Bewegungsintervalle starten im kinematischen Signal gleichzeitig. Allerdings wird die Bewegungsaufgabe des Zungenrückens für /i/langsamer als die der Zungenspitze für /l/ ausgeführt. Somit wird das Ziel für den Vokal deutlich später erreicht. Obwohl sich die beiden Bewegungsaufgaben vollständig überlagern, entsteht aufgrund der unterschiedlichen Ausführungsgeschwindigkeiten von Konsonanten und Vokalen auf der akustischen Oberfläche der Eindruck von einer Abfolge von Segmenten.
Segmente im Sprachsignal sind kontextabhängig. Es gibt keine natürlichen Grenzen im Signal, vielmehr sind Segmente miteinander im Sprachverlauf verzahnt. Dieses Phänomen wird als Koartikulation bezeichnet (Menzerath/Lacerda 1933; für einen Überblick vgl. Farnetari/Recasens 1999). Während sich Koartikulation artikulatorisch durch die Überlappung von vokalischen und konsonantischen Gesten ausdrückt, zeigt sie sich akustisch durch die Beeinflussung der konsonantischen Transitionen durch die Umgebungsvokale (Öhman 1966).
Die Gleichzeitigkeit der Artikulation von Konsonanten und Vokalen wird in den traditionellen Analysen nicht berücksichtigt. So benötigt jede Analyse, die auf Segmenten oder Merkmalen beruht, eine Übersetzung zwischen der abstrakten symbolischen Repräsentation und der kontinuierlichen Welt der physikalischen Eigenschaften. Will man ausdrücken, wie es von der symbolischen Form zur physikalischen Repräsentation kommt, so bedarf es eines Apparates von Regeln oder Algorithmen. Hier entsteht, je nach phonologischem Modell, eine künstliche Schnittstelle zwischen Phonetik und Phonologie.
Abb. 1: Oszillogramm und vertikale Positionskurven für Zungenspitze und -rücken für die Zielsilbe /li/ in dem deutschen Zielwort <Lina>.
Ein Werkzeug der mathematischen Modellierung, das ohne die Verwendung einer Übersetzung/Schnittstelle sowohl diskrete als auch kontinuierliche Aspekte komplexer Systeme ausdrücken kann, ist die Theorie der nichtlinearen Dynamik (u. a. Kelso 1995; Gafos/Beňuš 2006). Mit Hilfe von dynamischen Systemen können physikalische Vorgänge als Gesetzmäßigkeiten formuliert werden. Dabei wird mit Hilfe von Differenzialgleichungen die Entwicklung von Objekten innerhalb eines Systems beschrieben. Mit dynamischen Systemen können beispielsweise Gesetzmäßigkeiten komplexer Naturvorgänge abgebildet werden. Die Entwicklungsgesetze selbst sind dabei invarianter Natur. Dennoch unterliegen solche Systeme natürlichen und kontinuierlichen Schwankungen, die bei der Modellierung mit berücksichtigt werden (z. B. Wetterveränderungen oder auch Dezimierungen einer Population in einem Räuber-Beute-Verhältnis aufgrund von Krankheiten, menschlichem Eingreifen, usw.).
Die Artikulatorische Phonologie (Browman/Goldstein 1991, 1992) nutzt die dynamische Modellierung und betrachtet gesprochene Sprache als Naturvorgang. Sie nimmt artikulatorische Gesten als sprachliche Primitiva an, die – im Gegensatz zu Segmenten oder Phonemen – miteinander überlappen können. Die Koordination von Gesten spielt dabei eine zentrale Rolle; sie folgt invarianten, prosodisch-phonologischen Gesetzmäßigkeiten, die mathematisch beschreibbar sind (Task-Dynamics Model, vgl. u. a. Saltzman/Munhall 1989; Browman/Goldstein 1986). Mit Hilfe von Differenzialgleichungen werden dann kontinuierliche Bewegungstrajektorien generiert, die natürliche Variation im Signal kodieren und physikalisch messbar machen. Eine Schnittstelle zwischen symbolisch-diskreter und kontinuierlicher Form gesprochener Sprache ist dann nicht mehr notwendig, da das Modell keiner künstlichen Segmentgrenzen bedarf.

2Sprachliche Primitiva

Die Entwicklung verschiedener sprachlicher Primitiva wie Segmente, Merkmale und Gesten lassen sich am besten verstehen, wenn sie wissenschaftshistorisch betrachtet werden. So war man zunächst der Ansicht, dass mentale Repräsentationen beim Menschen diskreter Natur sein müssten. Aus diesem Grund sind Segmente und Merkmale Gegenstand traditioneller phonologischer Analysen, denn es handelt sich hierbei um an symbolischer Repräsentation orientierten diskreten Einheiten. Zwar stimmen Merkmalsgrößen nicht unbedingt mit den Segmentgrößen überein – so kann sich ein Merkmal auch über mehrere Segmente spannen – aber sie stehen jeweils für die kategoriale Zuordnung eines bestimmten Wertes. Ein Vokal kann beispielsweise nicht ein ‚bisschen‘ oder ‚zur Hälfte‘ nasaliert sein: entweder trägt er das Merkmal [+ nasal] oder nicht. So gelten beispielsweise [balkɔ̃] und [balkɔŋ] als alternative Aussprachen für <Balkon>. Obwohl auch bei der letzteren Variante, [balkɔN], etwas Nasalierung im Vokal [ɔ] feststellbar ist, besteht keine Möglichkeit, dies mit Merkmalen zu erfassen.
Erst sehr viel später, mit der Entwicklung dynamischer Systeme, kam man zu der Einsicht, dass mentale Repräsentationen – wie beispielsweise die artikulatorische Geste – eben auch kontinuierlicher Natur sein können. Hier war nun die Tür geöffnet für die phonologische Modellierung wie der kontextbedingten Allophonie oder unterschiedlichen Reduktionsphänomenen als kontinuierlich. Auch wenn die Definition von sprachlichen Primitiva in dynamischen Systemen (Gesten) sich grundsätzlich von denen in traditionellen phonologischen Theorien unterscheiden (Segmente, Merkmale), so lassen sich doch auch große Übereinstimmungen finden. Das liegt nicht zuletzt daran, dass Gesten – auch wenn sie gleichzeitig auftreten – auditiv und akustisch durchaus den Eindruck von einer Abfolge von Segmenten mit bestimmten Eigenschaften vermitteln.

2.1Artikulatorische Gesten

Die Grundeinheiten der Artikulatorischen Phonologie sind die artikulatorischen Gesten (Browman/Goldstein 1991, 1992). Sie haben eine duale Funktion, d. h. sie sind gleichzeitig diskret-kognitive Einheiten und kontinuierliche Aktionseinheiten. Als diskret-kognitive Einheiten sind Gesten abstrakt und legen Bewegungsaufgaben fest. Als kontinuierliche Aktionseinheit steuern sie die Ausführung dieser Aufgaben und generieren dabei physikalische, messbare Signale.
Was ist eine Bewegungsaufgabe? Sie besteht in der Bildung einer linguistisch relevanten Zielkonfiguration (Konstriktion) im Sprechtrakt. Das kann beispielsweise ein Vollverschluss der Lippen bei der Produktion von [p] oder das Öffnen der Glottis zur Produktion von Stimmlosigkeit (Abduktion) sein. Wie werden die Bewegungsaufgaben ausgeführt? Dafür steuern Gesten die Variablen des Sprechtraktes, die Traktvariablen, an. Eine Traktvariable kann beispielsweise die Lippen- oder Glottisöffnung sein und diese generiert dann die konkrete Bewegungskurve (Trajektorie) zur Ausführung der Aufgabe. Dies kann mathematisch unter Verwendung von Differenzialgleichungen zweiter Ordnung im Task-Dynamics Modell erklärt werden, auf das hier nicht näher eingegangen werden soll (Saltzman/Kelso 1987; Saltzman/Munhall 1989; Browman/Goldstein 1991, 1992; für einen Überblick vgl. auch Hawkins 1992). Die Bewegungsaufgaben werden jedoch nicht einzeln ausgeführt, sondern in Abhängigkeit voneinander (Synergieeffekte). Es werden somit stets kontextgebundene Trajektorien generiert, in denen Koartikulation kodiert ist.
Abb. 2: Links: Traktvariablen nach Browman/Goldstein (1992); rechts: velisches, orales sowie glottales Subsystem nach Hewlett/Beck (2006).
Abbildung 2 veranschaulicht die Traktvariablen, die sich drei Subsystemen zuordnen lassen: dem oralen, dem velischen und dem glottalen System. Ist eine Traktvariable aktiviert, beginnt sie mit der Ausführung der Bewegungsaufgabe. Im Falle der Lippenöffnungsvariablen (Lip Aperture, LA) schließen sich die Lippen für die Produktion von bilabialen Konsonanten, beispielsweise für den Plosiv [p]. Den Traktvariablen sind ganze Organgruppen zugeordnet. Diese bilden funktionale Synergien, bei denen verschiedene Kräfte zusammenwirken. Das kann am Beispiel des Zusammenspiels von Lippenöffnung und Zungenrücken in/ipi/und/apa/veranschaulicht werden. Der Lippenvollverschluss für /p/ wird von der Traktvariablen Lippenöffnung (Lip Aperture, LA) reguliert, die als koordinative Struktur Kiefer, untere Lippe und obere Lippe involviert. Die Vokale werden von der Zungenrücken-Traktvariablen (Tongue Body, TB) gebildet, di...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Inhaltsverzeichnis
  5. Phonologie in drei Modalitäten: Einleitung
  6. I Lautsprache
  7. II Gebärdensprache
  8. III Schriftsprache
  9. Sachregister