1Forschungsperspektiven
Silvia Brem / Urs Maurer
1.1Ansätze der Kognitiven Neurowissenschaften
Zusammenfassung: Menschen handeln, nachdem sie Information aufgenommen und verarbeitet haben. Diese Verarbeitung von Information wird in der Kognitiven Psychologie mit Experimenten untersucht. Die Kognitiven Neurowissenschaften kombinieren Experimente mit Messungen von Hirnfunktionen. Die am weitesten verbreiteten Methoden zur Hirnfunktionsmessung sind das EEG (Elektroenzephalographie) und die fMRT (funktionelle Magnetresonanztomographie). Diese Methoden kommen auch im Bereich der Leseforschung zur Anwendung und werden hier kurz vorgestellt.
Abstract: Humans act after having received and processed information from the environment. Research in the field of cognitive psychology investigates how information is processed by conducting experiments. Research in cognitive neuroscience combines this experimental approach with measures of brain function. The two most widely used methods of measuring brain functions are electro-encephalography (EEG) and functional magnetic resonance imaging (fMRI). These two methods are also applied in research on reading and are therefore introduced in this chapter.
Inhaltsübersicht
1Einleitung
2Experimentelle Methoden der Kognitiven Psychologie
3Neurobiologie der Kognition
3.1Einführung Einführung EinführungEinführungEinführung
3.2Aufbau des Gehirns
3.3Funktionelle Kartierung des Gehirns
4Elektroenzephalographie (EEG)
5Magnetresonanztomographie (MRT)
5.1Grundlagen der Magnetresonanztomographie
5.2Biologie der funktionellen Magnetresonanztomographie
5.3Netzwerke im Gehirn
6Diskussion und Ausblick
7Literatur
1Einleitung
Lesen und Schreiben gehören zu den wichtigsten Kulturtechniken und haben wesentlich zur kulturellen Entwicklung der Menschheit beigetragen. Das Lesen unterliegt deshalb auch starken kulturellen Einflüssen. Das Lesen hat aber auch eine biologische Basis, da das menschliche Gehirn überhaupt in der Lage sein muss, aus dem Geschriebenen den Sinn zu erfassen.
Welche neurobiologischen Vorgänge das Lesen ermöglichen, wird unter anderem im Fachgebiet der Kognitiven Neurowissenschaften untersucht.1 Im Gegensatz zu anderen mehr physiologisch orientierten Teilgebieten der Neurowissenschaften befassen sich die Kognitiven Neurowissenschaften mit den neurobiologischen Grundlagen der Kognition, oder mit anderen Worten, mit der Informationsverarbeitung eines Organismus (vgl. Gazzaniga u. a. 2009; Rösler 2011).
Entsprechend setzt sich auch dieses Kapitel aus zwei Hauptteilen zusammen: In einem ersten Teil wird der experimentelle Ansatz der Kognitiven Psychologie eingeführt,2 der zweite Teil widmet sich der Vorstellung der beiden geläufigsten bildgebenden Methoden der Kognitiven Neurowissenschaften im Zusammenhang mit einigen neurobiologischen Grundlagen.
2Experimentelle Methoden der Kognitiven Psychologie
Das Fachgebiet der Psychologie hat sich im 19. Jahrhundert sowohl aus den Geisteswissenschaften als auch Naturwissenschaften heraus entwickelt und sich im Laufe der Zeit mehrfach gewandelt (vgl. Lück 2009). Ganz in der Tradition der Philosophie war die Psychologie anfänglich stark durch die Innenschau, die Introspektion, geprägt, was dieser Richtung auch den etwas spöttischen Namen ›Lehnstuhlpsychologie‹ eingetragen hat (vgl. Anderson 2007). Unter dem Eindruck der enormen Fortschritte in den Naturwissenschaften am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts wurde die introspektive Methode als unbefriedigend empfunden. Die Innenschau hängt naturgemäß vom Betrachter ab und ist deshalb nicht objektivierbar. Eine wissenschaftliche Theorie sollte aber empirisch überprüfbar sein, damit sie verworfen oder angepasst werden kann. Nur so ist wissenschaftlicher Fortschritt überhaupt möglich (vgl. Popper 1994).
Als Folge dieser Kritik wurde in den 1920er Jahren der sog. Behaviorismus die dominante Richtung in der Psychologie. Der Behaviorismus betrachtet das Innenleben eines Menschen oder eines Tiers, als ›black box‹, als schwarze Box, zu deren Funktionieren keine gültigen Aussagen gemacht werden können (siehe Abb. 1: Spalte 2). Wissenschaftlich zugänglich ist nur, was auch beobachtbar ist. Dies sind Ereignisse in der Umwelt, die als Reize (Stimuli) bezeichnet werden, und das Antwortverhalten (›response‹), welches sich messen lässt.
Abb. 1: Behaviorismus, Kognitive Psychologie und Kognitive Neurowissenschaften. Alle drei Methoden verwenden Experimente (1. Spalte), um Verhaltensantworten (3. Spalte) zu erheben, die sie statistisch auswerten (4. Spalte). Während beim Behaviorismus Vorgänge im Organismus nicht von Interesse sind (›black box‹, 2. Spalte), versucht die Kognitive Psychologie, diese Vorgänge mittels komplexer Experimente zu untersuchen. Die Kognitiven Neurowissenschaften messen und analysieren zusätzlich noch Hirnfunktionen und versuchen, diese mit den Kognitiven Prozessen zu verbinden.
Unter der Einbeziehung von Lernprinzipien der positiven und negativen Verstärkung konnte der Behaviorismus erfolgreich erklären, wie einfache Verhaltensweisen entstehen. Diese Lernprinzipien kommen auch heute noch in der Tierdressur oder in der Behandlung von gewissen psychischen Störungen, wie etwa bei Phobien, häufig zur Anwendung.
Für komplexere Verhaltensformen, wie z. B. für das Erlernen von Sprache, waren diese Modelle aber unzureichend, weshalb sich ab den 1950er Jahren zunehmend die Kognitive Psychologie als dominierende Richtung der Psychologie etablierte. In der Kognitiven Psychologie wird angenommen, dass ein Reiz zuerst innerhalb des Organismus verarbeitet wird, bevor eine Reaktion oder eine Handlung zu beobachten ist. In Anlehnung an die Computerwissenschaften kann man auch sagen, dass das Gehirn Information verarbeitet. Zu dieser Verarbeitung gehören die Wahrnehmung und das Speichern von Information sowie das Erinnern, die Entscheidungsfindung und die Planung von Handlungen. Bevor eine Verhaltensantwort auftritt, kann eine ganze Kette von parallelen und seriellen Verarbeitungsschritten stattfinden.
In der Kognitiven Psychologie werden für diese Prozesse Modelle angenommen, die empirisch zu überprüfen sind. Da sich diese Prozesse aber nicht direkt beobachten lassen, versucht man Experimente zu entwickeln, die diese Prozesse isolieren. Durch Messen der Reaktionszeit und der Antwortgenauigkeit können die isolierten Prozesse der Prüfung unterzogen werden. Ein typisches Experiment enthält demnach zwei oder mehr Bedingungen, die sich idealerweise in jeweils einem einzigen Merkmal unterscheiden. Bei der Erforschung des Lesens kann z. B. die Verarbeitung von Wörtern mit der Verarbeitung von Symbolreihen verglichen werden (siehe Abb.1: Spalte 2). Dabei sollen alle anderen Merkmale dieser Bedingungen möglichst ähnlich sein, wie etwa die Anzahl der Buchstaben bzw. Symbole oder die Schriftgröße. Findet man dann Unterschiede in der Reaktionszeit oder in der Genauigkeit, so schließt man daraus, dass dieses unterscheidende Merkmal die Verarbeitung beeinflusst. In einem ähnlichen Experiment mit Wörtern und einzelnen Buchstaben ergibt sich z. B., dass Versuchspersonen einen bestimmten Buchstaben besser erkennen, wenn er innerhalb eines Worts präsentiert wird, als wenn er isoliert erscheint (vgl. Reicher 1969). Dieser ›word superiority effect‹ bedeutet, dass Menschen beim Lesen nicht nur einzelne Buchstaben wahrnehmen, sondern sich Buchstaben in der Wahrnehmung zu Wortbildern zusammenfügen.
Wie ausgeführt, war die Entstehung der Kognitiven Psychologie eine Antwort auf Grenzen des Behaviorismus. Dass kognitive Prozesse nicht direkt beobachtbar sind, ist aber auch in der Kognitiven Psychologie der Fall. Dies stellt dann ein Problem dar, wenn sich gewisse kognitive Prozesse allein durch Unterschiede in Reaktionszeit oder Genauigkeit der Verhaltensantwort nicht auseinanderhalten lassen. Eine Kombination experimenteller Methoden und der Messung von Hirnfunktionen hat deshalb das Potenzial, hier weitere Klärung zu bringen.
3Neurobiologie der Kognition
3.1Einführung
Das Gehirn ist die zentrale Steuereinheit unseres Verhaltens. Einfache und komplexe Verhaltensweisen, wie z. B. Laufen, Denken, Sprechen, Lesen, Erinnern und Emotionen, werden letztlich durch die koordinierte Aktivität einer großen Anzahl Nervenzellen bestimmt und ermöglicht. Wie das Nervensystem aufgebaut ist und auf molekularer, zellulärer und systemischer Ebene funktioniert, erforscht die Neurobiologie. Die Kognitiven Neurowissenschaften ergründen dagegen die neuronalen Mechanismen und erarbeiten neurobiologische Modelle, die unserer Kognition zugrunde liegen. Wie wir im vorherigen Abschnitt gesehen haben, sind kognitive Funktionen mentale Prozesse, die uns helfen, unser Verhalten zu steuern. Durch die Kombination der neurobiologischen Forschung und den experimentellen Methoden der Kognitiven Psychologie werden kognitive Modelle verbessert, um auch individuelle Unterschiede in den kognitiven Fähigkeiten der Menschen während der Entwicklung oder bei Krankheiten und Störungen besser zu verstehen: »Die größte Herausforderung der Neurowissenschaften besteht darin, zu verstehen, wie das Gehirn die bemerkenswerte Individualität hervorbringt, die für menschliches Verhalten typisch ist« (Kandel u. a. 1995, S.3).
3.2Aufbau des Gehirns
Das menschliche Gehirn hat sich über Jahrmillionen entwickelt und ist einzigartig in Komplexität und Funktion. Geschätzte 100 Milliarden (vgl. Kandel u. a. 1995) Nervenzellen (Neuronen) und ein Vielfaches von Verbindungen sorgen dafür, dass Sinneseindrücke verarbeitet und komplexe Handlungen ausgeführt werden können. Die Neuronen können als »Signalübertragungseinheiten der Verhaltensreaktion« (Kandel u.a. 1995, S.28) bezeichnet werden, die Informationen erhalten, integrieren und über ihre Fortsätze weiterleiten. Sie bestehen in der Regel aus einem Zellkörper mit vielen kurzen (Dendriten) und normalerweise einem langen Fortsatz (Axon). Die Dendriten nehmen Signale von anderen Zellen auf, während das Axon Signale zu benachbarten oder auch entfernten Zellen weiterleitet. Dadurch kommunizieren Neuronen untereinander und bilden komplexe, ausgedehnte funktionelle Netzwerke. Die meisten Nervenzellkörper befinden sich in Schichten an der Oberfläche des Gehirns, in der Hirnrinde (Kortex) des Groß- und Kleinhirns, oder sammeln sich in klar abgegrenzten Kernen weiter in der Tiefe. Aufgrund der Graufärbung bei Präparaten spricht man auch von der ›grauen Substanz›. Die Nervenfasern (Axone), die auf Präparaten weiß erscheinen und das gesamte Gehirn durchspannen, bilden das Mark bzw. die ›Weiße Substanz‹. An den Kontaktstellen der Neuronen, den sog. Synapsen, werden Signale meist durch chemische Botenstoffe weitergegeben. Gliazellen unterstützen die Neuronen bei ihrer Arbeit. Während man ursprünglich der Meinung war, dass die Gliazellen vor allem als ›Leim‹ oder Stützgerüst für die Neuronen agieren, weiß man heute, dass Gliazellen eine Vielzahl von weiteren Aufgaben haben. Unterschiedliche Gliazelltypen garantieren den Neuronen ein optimales Milieu, indem sie Stoffwechsel (Nährstoffe und Botenstoffe) und Transportprozesse regulieren sowie Nervenfasern isolieren und dadurch bei der Weiterleitung und Verarbeitung von Reizen mitwirken.
Schädelknochen, Hirnhäute und Zerebrospinalflüssigkeit umgeben das Gehirn und dienen unter anderem als Schutz vor mechanischer Beschädigung. Ein dichtes und fein verästeltes Netzwerk von Blutgefäßen sorgt dafür, dass das Gehirn ausreichend mit Nährstoffen und Sauerstoff versorgt wird.
Vereinfacht kann das Gehirn in die vier Bereiche Hirnstamm, Kleinhirn (lat. cerebellum), Zwischenhirn und Großhirn (lat. ›cerebrum‹) unterteilt werden. Letzteres ist von besonderer Bedeutung für höhere kognitive Funktionen wie das Lesen. Aufbau und Funktion des Großhirns werden später in diesem Kapitel detaillierter beschrieben. Die Funktionen der anderen Bereiche seien hier kurz erwähnt: Die verschiedenen Strukturen des Hirnstamms und des Zwischenhirns sind vor allem für unbewusste Funktionen wichtig. Dazu gehören lebenswichtige Funktionen, wie z. B. Atmung, Verdauung, Herzschlag, Reflexe (z. B. Schluck- und Niesreflex) sowie SchlafWachrhythmus, Wachheit und Temperaturregulation. Das Kleinhirn ist mitunter beim Erlernen von Bewegungen von Bedeutung. Das Zwischenhirn schlussendlich beherbergt einige Kerne, welche durch die Produktion von Hormonen die Funktionen des vegetativen Nervensystems und damit lebenswichtige Funktionen steuern. Speziell erwähnt werden soll der Thalamus, der als Schaltstelle für die Weiterleitung von sensorischer und motorischer Information an die Großhirnrinde dient und als Filter in kognitiven Netzwerken kritisch involviert ist. Für weitergehende Informationen wird auf die Lektüre der einschlägigen Literatur verwiesen (vgl. Purves u. a. 2013; Gazzaniga u. a. 2009).
Das Großhirn steuert höhere kognitive Funktionen wie Denken, Handeln, Assoziieren, Emotionsverarbeitung, soziales Verhalten, aber auch die Verarbeitung von Sprache und Schrift. Es ist in zwei Hälften (Hemisphären) geteilt, die durch Querbahnen von Fasersträngen, wie z. B. dem Balken, verbunden sind. Die Großhirnrinde zeichnet sich durch Furchen (lat. ›sulci‹), Spalten (lat. ›fissurae‹) und Windungen (lat. ›gyri‹) aus, welche der Oberflächenvergrößerung dienen.
Aufgrund der charakteristischen Spalten und Furchen wird die Großhirnrinde in vier Lappen unterteilt (siehe Abb.3: E). Die Zentralfurche trennt den Frontallappen (Stirnlappen) vom angrenzenden Parietallappen (Scheitellappen), während die Sylvische Fissur den Temporallappen (Schläfenlappen) vom Parietallappen und Frontallappen abgrenzt. Der Okzipitallappen (Hinterhauptslappen) deckt den posterioren Teil der Gehirns ab und grenzt an den Temporal- und den Parietallappen. Weiter zählen zum Großhirn auch einige tiefer liegende Strukturen und Kerne wie das limbische System, die Insel und die Basalganglien.
3.3Funktionelle Kartierung des Gehirns
Schon Ende des 18. Jahrhunderts gab es erste Versuche, bestimmte geistige Fähigkeiten und Charaktereigenschaften einzelnen Regionen des Gehirns zuzuordnen. Der Neuroanatom Franz Joseph Gall begründete die Lehre der Phrenologie, in welcher er einen Zusammenhang zwischen der Schädelform und der Persönlichkeit eines Menschen herstellte (vgl. Purves u.a. 2013). Dieser aus heutiger Sicht etwas kurios anmutende Versuch wurde allerdings einige Jahrzehnte später durch die Äquipotenzialtheorie abgelöst, wonach das gesamte Gehirn gleichermaßen für geistige Fähigkeiten zuständig ist. Ende des 19. und anfangs des 20.Jahrhunderts fand aber die funktionelle Gliederung des Gehirns wieder Akzeptanz, unter anderem durch die Befunde des Arztes Paul Broca, der bei einem seiner Patienten eine Läsion in einem klar abgegrenzten Bereich des linken, inferioren Frontallappens mit einer Störung des Sprechens, aber nicht des Sprachverständnisses, in Verbindung brachte. Dieses Areal wird noch heute als ›Broca-Areal‹ bezeichnet und gilt als motorisches Sprachzentrum. Etwas später beschrieb der Neurologe und Psychiater Carl Wernicke ein Areal im linken, posterioren, dorsalen Temporallappen, welches bei einer Läsion das Sprachverständnis beeinträchtigt (vgl. Kandel u. a. 1995). Auch dieses Areal trägt noch heute oft die Bezeichnung ›Wernicke-Areal‹ und ist eine Schlüsselregion in der Sprachverarbeitung. Weitere Befunde zugunsten der Lokalisationstheorie wurden in der Folge durch Tierversuche oder ...