1.1Abgrenzung der Rehabilitationstechnik
Medizintechnische Systeme zur Diagnostik und Therapie werden im Krankenhaus und in der ambulanten medizinischen Versorgung von ärztlichem oder pflegendem Personal eingesetzt. In einigen Fällen ist jedoch eine Behandlung mit vollständiger Genesung in diesen medizinischen Einrichtungen nicht möglich oder die Therapie erstreckt sich über sehr lange Zeiträume. Auch in diesen Fällen kann der Betroffene mit medizintechnischen Systemen unterstützt werden. Sie dienen ihm dann in seinem alltäglichen häuslichen Umfeld zu diagnostischen Zwecken (z. B. zur Messung des Blutzuckerspiegels), zur Therapie (z. B. zur nächtlichen Überdruckbeatmung) oder zum Ausgleich funktioneller Defizite (z. B. als Ersatz für eine verlorene Gliedmaße). Einige dieser durch Patienten selbst genutzten Hilfsmittel unterscheiden sich wenig von den Geräten und Systemen, die durch medizinisches Personal eingesetzt werden (z. B. Blutdruckmessgerät, Beatmungsgerät). Diese stehen nicht im Fokus dieses Buches, sondern werden in anderen Bänden der Lehrbuchreihe, insbesondere ‣Band 5 (Biosignale und Monitoring) sowie ‣Band 9 (Automatisierte Therapiesysteme) behandelt. Im vorliegenden Band werden Systeme vorgestellt, die dem Ausgleich von Behinderungen dienen und sich in wesentlichen Merkmalen von klinisch oder ambulant durch medizinisches Personal eingesetzten Medizinproduktenunterscheiden. In der Biomedizinischen Technik bilden diese medizintechnischen Systeme ein eigenes Teilgebiet, die Rehabilitationstechnik. Diese hilft bei der Wiedereingliederung von behinderten und funktionell limitierten Menschen in ihr familiäres und berufliches Umfeld.
Um die Rehabilitationstechnik und die zugehörigen technischen Hilfsmittel gegenüber anderen Medizinprodukten abzugrenzen, sind zunächst die Begriffe Behinderung und Rehabilitation zu klären. Im deutschen Sozialrecht (§ 2 SGB IX [SGB IX]) wird der Begriff der Behinderung wie folgt definiert:
‣Behinderung (im Rahmen des deutschen Sozialrechts): Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist.
International ist der Begriff der Behinderung nicht auf den Zeitraum des Bestehens einer Einschränkung bezogen. So gilt gemäß der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) der Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization, WHO), zitiert in der Norm DIN EN ISO 9999 (Hilfsmittel für Menschen mit Behinderungen – Klassifikation und Terminologie [ISO 9999]):
Behinderung (gemäß internationaler Definition): Oberbegriff für Schädigungen, Beeinträchtigungen der Aktivität und Einschränkungen der Teilhabe, der auf die negativen Aspekte der Wechselwirkung zwischen einem Menschen (mit Gesundheitsproblem) und dessen Kontextfaktoren (Umweltfaktoren und personenbezogene Faktoren) hinweist.
Oft sind Menschen mit Behinderungen ihr Leben lang von Einschränkungen unterschiedlicher Art betroffen. Zu diesen behinderten Menschen gehören beispielsweise Personen, die mit einer anatomischen Fehlbildung geboren werden oder denen eine Gliedmaße amputiert werden musste. Das deutsche Sozialrecht gewährt behinderten Menschen nach § 10 SGB I [SGB I] ein Recht auf Hilfe „zur Förderung ihrer Selbstbestimmung und gleichberechtigten Teilhabe“. So wird dem Grundgesetz Rechnung getragen, das im Artikel 3 fordert: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“ [Grundgesetz 2012]. Näheres dazu regelt das Neunte Sozialgesetzbuch (SGB IX) „Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen“, welches bereits im Titel den Begriff der Rehabilitation enthält. Grundlegend für das heutige Verständnis von Maßnahmen zur Rehabilitation war die WHO-Definition im Technical Report 668/1981 [Bochdansky 2002]:
‣Rehabilitation umfasst den koordinierten Einsatz medizinischer, sozialer, beruflicher, pädagogischer und technischer Maßnahmen sowie Einflussnahmen auf das physische und soziale Umfeld zur Funktionsverbesserung, zum Erreichen einer größtmöglichen Eigenaktivität, zur weitestgehend unabhängigen Partizipation in allen Lebensbereichen, damit der Betroffene in seiner Lebensgestaltung so frei wie möglich wird.
In den „Standard Rules on the Equalisation of Opportunities for Persons with Disabilities“ der Vereinten Nationen [UN 1993] wird definiert, dass die Rehabilitation auf das Erreichen und Halten optimaler körperlicher, sensorischer, geistiger, psychischer oder sozialer Funktionen behinderter Menschen abzielt:
The term „rehabilitation“ refers to a process aimed at enabling persons with disabilities to reach and maintain their optimal physical, sensory, intellectual, psychiatric and/or social functional levels, thus providing them with the tools to change their lives towards a higher level of independence.
Im deutschen Sozialrecht regelt der § 26 des SGB IX [SGB IX], welche Leistungen der medizinischen Rehabilitation Behinderte und von Behinderung bedrohte Menschen in Anspruch nehmen können. Diese umfassen neben einer Behandlung durch Ärzte, Zahnärzte und Angehörige anderer Heilberufe noch weitere medizinische Leistungen sowie die Versorgungmit Arznei- und Verbandmitteln wie auch mit Heil- und Hilfsmitteln. Der Anspruch auf Hilfsmittel wird im§ 33 SGB V [SGB V] untermauert, wobei mit der Formulierung „Versicherte haben Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln“ anhand der genannten Beispiele eine Einordnung des Begriffes vorgenommen wird. Diese ist im Gesetzestext bewusst offen gehalten und wird durch die Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes, durch Verlautbarungen des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen und durch Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Verordnung von Hilfsmitteln in der vertragsärztlichen Versorgung konkretisiert. Zusammenfassend können die wichtigsten Eigenschaften von Hilfsmitteln folgendermaßen definiert werden ([Kamps 2002]; in geringfügig abweichender Formulierung auch in [SpiKa 2007]):
‣Hilfsmittel sind (im Rahmen der deutschen Sozialgesetzgebung) sächliche Mittel oder technische Produkte, die den Erfolg einer Krankenbehandlung sichern, eine Behinderung ausgleichen oder einer drohenden Behinderung vorbeugen sollen. Sie werden im allgemeinen Lebensbereich bzw. im häuslichen Umfeld des Betroffenen eingesetzt und dienen der Befriedigung der elementaren Grundbedürfnisse des täglichen Lebens. Sie sind transportabel und werden von Leistungserbringern an die Betroffenen abgegeben.
Im Versorgungsanspruch von Versicherten der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) mit Hilfsmitteln gemäß der Hilfsmittelrichtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses [GBA 2012] finden sich die in der Definition enthaltenen Charakteristika eines Hilfsmittels wieder. Demnach werden sie verordnet, wenn sie im Einzelfall erforderlich sind, um:
–„den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern,
–einer drohenden Behinderung vorzubeugen,
–eine Behinderung bei der Befriedigung von Grundbedürfnissen des täglichen Lebens auszugleichen,
–eine Schwächung der Gesundheit, die in absehbarer Zeit voraussichtlich zu einer ...