Gewährleisteter christlicher Glaube
eBook - ePub

Gewährleisteter christlicher Glaube

  1. 642 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
eBook - ePub

Gewährleisteter christlicher Glaube

Angaben zum Buch
Buchvorschau
Inhaltsverzeichnis
Quellenangaben

Über dieses Buch

Mit "Gewährleisteter Christlicher Glaube" liegt nun endlich die deutsche Übersetzung des Hauptwerkes von Alvin Plantinga vor ("Warranted Christian Belief"), dem einflussreichsten Religionsphilosophen der letzten Jahrzehnte. Mit dem schwer übersetzbaren Ausdruck "warrant" (in etwa: Gewährleistung) meint Plantinga diejenige Eigenschaft, die eine wahre Überzeugung von Wissen unterscheidet. Genauer gesagt ist eine Meinung von S warranted, wenn S' auf Wahrheit ausgerichtetes Erkenntnisvermögen in einer angemessenen Umwelt bauplanmäßig funktioniert; und Plantingas Hauptthese lautet, dass religiöse Überzeugungen warrant haben können. Das religiöse Erkenntnisvermögen erläutert Plantinga als (erweitertes) Aquinas/Calvin-Modell: Menschen verfügen demnach über einen Sensus Divinitatis, der allerdings durch die Erbsünde verdorben sei, so dass sie der Hilfe des Heiligen Geistes bedürften. Dass eine (religiöse) Überzeugung warrant hat, heißt nicht, dass sie nicht widerlegt werden könnte; solchen Widerlegungsmöglichkeiten (Projektionstheorien, die historisch-kritische Bibelwissenschaft, Postmodernismus, Pluralismus, Theodizeeproblem) widmet Plantinga einen großen Teil seines Buches.

Häufig gestellte Fragen

Gehe einfach zum Kontobereich in den Einstellungen und klicke auf „Abo kündigen“ – ganz einfach. Nachdem du gekündigt hast, bleibt deine Mitgliedschaft für den verbleibenden Abozeitraum, den du bereits bezahlt hast, aktiv. Mehr Informationen hier.
Derzeit stehen all unsere auf Mobilgeräte reagierenden ePub-Bücher zum Download über die App zur Verfügung. Die meisten unserer PDFs stehen ebenfalls zum Download bereit; wir arbeiten daran, auch die übrigen PDFs zum Download anzubieten, bei denen dies aktuell noch nicht möglich ist. Weitere Informationen hier.
Mit beiden Aboplänen erhältst du vollen Zugang zur Bibliothek und allen Funktionen von Perlego. Die einzigen Unterschiede bestehen im Preis und dem Abozeitraum: Mit dem Jahresabo sparst du auf 12 Monate gerechnet im Vergleich zum Monatsabo rund 30 %.
Wir sind ein Online-Abodienst für Lehrbücher, bei dem du für weniger als den Preis eines einzelnen Buches pro Monat Zugang zu einer ganzen Online-Bibliothek erhältst. Mit über 1 Million Büchern zu über 1.000 verschiedenen Themen haben wir bestimmt alles, was du brauchst! Weitere Informationen hier.
Achte auf das Symbol zum Vorlesen in deinem nächsten Buch, um zu sehen, ob du es dir auch anhören kannst. Bei diesem Tool wird dir Text laut vorgelesen, wobei der Text beim Vorlesen auch grafisch hervorgehoben wird. Du kannst das Vorlesen jederzeit anhalten, beschleunigen und verlangsamen. Weitere Informationen hier.
Ja, du hast Zugang zu Gewährleisteter christlicher Glaube von Alvin Plantinga, Joachim Schulte im PDF- und/oder ePub-Format sowie zu anderen beliebten Büchern aus Philosophie & Religionsphilosophie. Aus unserem Katalog stehen dir über 1 Million Bücher zur Verfügung.

Information

Jahr
2015
ISBN
9783110431889
Teil III: Gewährleisteter christlicher Glaube

6 Gewährleisteter Glaube an Gott

Es gibt eine gewisse allgemeine und undeutliche Gotteserkenntnis, die sich wohl bei allen Menschen findet …
Thomas von Aquin
Seit Erschaffung der Welt wird seine unsichtbare Wirklichkeit an den Werken der Schöpfung mit der Vernunft wahrgenommen, seine ewige Macht und Gottheit …
Paulus
Bei dem Dejure-Einwand gegen den christlichen (bzw. den theistischen) Glauben handelt es sich,wie wir gesehen haben, um die Behauptung, ein solcher Glaube sei irrational, unvernünftig, ungerechtfertigt oder in irgendeiner anderen Hinsicht zu Recht negativer epistemischer Kritik ausgesetzt. Diese Auffassung steht in Kontrast zu dem De-facto-Einwand, dem zufolge dieser Glaube falsch ist. So formuliert, klingt der Dejure-Einwand ziemlich vage und allgemein, und sein Wert lässt sich kaum beurteilen, solange keine klarere und spezifischere Formulierung vorliegt. Doch wie wir gesehen haben, fällt es nicht leicht, die Dejure-Kritik in klarer und vernünftiger — und zudem nicht offensichtlich falscher — Weise zu artikulieren. Im vorigen Kapitel jedoch sind wir mit der Betrachtung des F&M (Freudund-Marx)-Einwands ein Stück vorangekommen. Im Grunde läuft dieser Einwand auf die These hinaus, der christliche oder sonst ein theistischer Glaube sei insofern irrational, als er auf kognitive Fehlfunktionen zurückgehe (Marx), oder insofern, als die kognitive Funktion zwar einwandfrei sei, aber auf etwas anderes als die Wahrheit abziele (Freud) — auf Trost vielleicht oder auf die Fähigkeit, in dieser entsetzlichen Welt, in der wir leben, tapfer durchzuhalten. Anders ausgedrückt, besagt die These: dieser Glaube geht nicht aus gut funktionierenden kognitiven Vermögen hervor, die erfolgreich auf die Erzeugung wahrer Überzeugungen gerichtet sind. Noch anders formuliert, besagt der Einwand, dass der theistische bzw. der christliche Glaube nicht gewährleistet sei.
Um auf diesen Einwand zu antworten, werde ich in diesem Kapitel zunächst ein Modell präsentieren, das auf eine von Thomas ebenso wie von Calvin vertretene These zurückgeht und zeigen soll, inwiefern der theistische Glaube gewährleistet sein kann. Sobald das erkannt ist, wird auch die Vergeblichkeit des F&M-einwands und seiner modernen Nachfolger sichtbar. In den übrigen Kapiteln des III. Teils werde ich das Modell so erweitern, dass es den spezifisch christlichen Glauben abdeckt. Das 7. Kapitel wird von der Sünde und ihren noetischen Resultaten handeln. Dabei ist der Begriff des Glaubens eine entscheidende Voraussetzung des erweiterten Modells. Im Anschluss an Thomas und Calvin werde ich geltend machen, dass der Glaube sowohl eine intellektuelle als auch eine affektive Komponente hat. Dementsprechend wird das 8. Kapitel die Art und Weise untersuchen, in der die bedeutenden Wahrheiten des Evangeliums »unserem Geist offenbart« sind (wie Calvin sagt),während es im 9. Kapitel um die Frage geht, inwiefern sie »unserem Herzen aufgeprägt« sind (um nochmals Calvin zu zitieren). Im 10. Kapitel werde ich sodann auf Einwände gegen das ursprüngliche und das erweiterte Modell eingehen und antworten.
I Das Thomasvon-Aquin/Calvinmodell
A Modelle
Im vorliegenden Kapitel werde ich, wie gesagt, anhand eines Modells vorführen, was es heißt, dass der theistische Glaube gewährleistet ist. Aber was ist eigentlich ein Modell? Und wozu soll es gut sein? Es gibt viele verschiedene Arten von Modellen: Modellflugzeuge, Modelle, die sich malen lassen, Modelle im Sinne von Vorbildern und das Modell des modernen Generalmajors. Darüber hinaus gibt es das Modell im logischen Sinn, in dem sich z. B. jede widerspruchsfreie Theorie erster Stufe so interpretieren lässt, dass sie in den natürlichen Zahlen ein Modell hat. Ich gebrauche den Ausdruck so, dass er abstrakter ist als die Beispiele der ersten Gruppe, aber konkreter als der logische Begriff. Dabei schwebt mir ungefähr folgendes vor: Wenn man ein Modell einer Aussage oder eines Sachverhalts S anführt, zeigt man, wie es sein kann, dass S wahr ist bzw. besteht. Das Modell selbst ist eine andere Aussage (oder ein anderer Sachverhalt), so dass klar ist, (1) dass sie möglich ist und (2) dass, sofern sie wahr ist, die Zielaussage ebenfalls wahr ist. (Entsprechendes gilt für das Modell eines Sachverhalts.) Aus diesen beiden Gegebenheiten folgt natürlich, dass die Zielaussage möglich ist. Im vorliegenden Kapitel werde ich ein Modell — das Thomasvon-Aquin/Calvin- (A/C?) Modell — dafür präsentieren, dass der theistische Glaube gewährleistet ist. Anschließend werde ich das A/Cmodell in den Kapitel 7, 8 und 9 so erweitern, dass auch der spezifisch christliche Glaube in ausgeprägter Form gewährleistet ist.
Für diese beiden Modelle nehme ich vier Dinge in Anspruch: Erstens, sie sind möglich und zeigen daher, dass die Gewährleistung des theistischen und des christlichen Glaubens ebenfalls möglich ist. Der Sinn, in dem hier von »Möglichkeit« die Rede ist, entspricht allerdings nicht der grob gesprochen logischen Möglichkeit. Denn in diesem Sinn sind auch offenkundig falsche Aussagen wie »China hat weniger als tausend Einwohner« möglich. Vielmehr geht es hier um »Möglichkeit« in einem anspruchsvolleren Sinn. Nach meiner Behauptung sind diese Modelle epistemisch möglich, d. h.: Sie sind mit dem, was wir wissen, vereinbar, wobei »was wir wissen« das ist, worüber sich alle (oder die meisten) Diskussionsteilnehmer einig sind.1
Zweitens möchte ich behaupten (und diese Behauptung steht mit der ersten in Zusammenhang), dass es keine stichhaltigen Einwände gegen das Modell gibt, also gegen die Aussage, das Modell sei wirklich wahr oder habe Bestand. Genauer gesagt: Es gibt keine stichhaltigen Einwände philosophischer oder naturwissenschaftlicher (oder sonst einer) Art, die gegen das Modell sprechen und nicht zugleich auch überzeugende Einwände gegen den Theismus bzw. das Christentum sind. Um es anders zu formulieren: Jeder stichhaltige Einwand gegen die Wahrheit des Modells wird auch ein überzeugender Einwand gegen den Theismus bzw. gegen das Christentum sein. Des weiteren werde ich die These vertreten: Ist der christliche Glaube wirklich wahr, ist auch das betreffende Modell (bzw. ein ganz ähnliches Modell) wahr. Sofern meine Argumentation erfolgreich ist, wird sich also ergeben, dass es keinen tragfähigen Dejure-Einwand (im Gegensatz zu einem etwaigen De-facto-Einwand) gegen den Theismus oder das Christentum gibt. Es gibt keinen vernünftigen Einwand gegen die Rationalität, gegen die rationale Rechtfertigung oder die Gewährleistung des christlichen Glaubens, der nicht zugleich ein Einwand gegen die Wahrheit des Christentums wäre. Das heißt, es gibt keinen Dejure-Einwand, der von jedem De-facto-Einwand unabhängig wäre. Das wiederum bedeutet, dass eine besonders beliebte Form der Kritik am christlichen Glauben — beispielsweise von Seiten der Belegtheorie, des F&M-einwands, vieler Formen der Argumentation aus der Existenz des übels und sonstiger Einwände — nicht wirklich trägt. Dabei handelt es sich um Einwände der folgenden Form: »Ich weiß nicht, ob der christliche (bzw. der theistische) Glaube wahr ist — wie soll man denn dergleichen wissen können? Aber ich weiß tatsächlich, dass dieser Glaube irrational, rational inakzeptabel, ungerechtfertigt oder ohne Gewähr (bzw. in irgendeiner anderen epistemischen Hinsicht fragwürdig) ist.« Falls ich mit meiner Argumentation richtig liege, kann kein Einwand dieser Art etwas ausrichten.
Drittens bin ich der Überzeugung, dass die hier präsentierten Modelle nicht nur möglich und philosophisch tadellos, sondern überdies wahr — oder zumindest wahrheitsähnlich bzw. wahrheitsnah — sind. Dennoch beanspruche ich keineswegs zu zeigen, dass sie wahr sind. Das liegt daran, dass das A/Cmodell die Wahrheit des Theismus und das erweiterte A/Cmodell die Wahrheit des klassischen Christentums implizieren.Würde man zeigen, dass diese Modelle wahr sind, so hieße das, dass man zugleich die Wahrheit des Theismus und des Christentums nachweist. Doch ich weiß nicht, wie man es anstellen soll, in irgendeinem vernünftigen Sinn von »zeigen« zu zeigen, dass der Theismus oder das Christentum wahr ist. Ich glaube zwar, dass es eine Vielzahl (mindestens zwei Dutzend) triftiger Argumente für die Existenz Gottes gibt, doch keines dieser Argumente lässt sich wirklich als Nachweis oder demonstratives Zeigen auffassen. Was nun das klassische Christentum betrifft, sind die Aussichten noch geringer, dass man die Wahrheit dieser Lehre nachweisen könnte.2 Das spricht natürlich nicht gegen ihre Wahrheit oder ihre Gewährleistung. Nur sehr wenig von dem, was wir für wahr halten, lässt sich »nachweisen« oder »zeigen«.
Viertens gibt es eine ganze Reihe von Modellen für die Gewähr des christlichen Glaubens, die alle voneinander verschieden, aber zugleich dem A/C- bzw. dem erweiterten A/Cmodell ähnlich sind. (Mit meiner These, dass die von mir prä-sentierten Modelle wahrheitsnah sind, behaupte ich, dass sie zu dieser Reihe von Modellen gehören.) Der vierte Punkt besagt nun, dass eines dieser Modelle höchstwahrscheinlich wahr ist, sofern der klassische christliche Glaube tatsächlich wahr ist. Ersatzweise gilt: Für jemanden, der den christlichen Glauben für wahr hält, ist mindestens eines dieser Modelle (wenn nicht mehrere bzw. deren Disjunktion) dazu angetan, die Gewähr für den christlichen Glauben zu erfassen.
B Das Modell
Thomas von Aquin und Johannes Calvin sind übereinstimmend der Meinung, dass es so etwas wie eine natürliche Gotteserkenntnis gibt. (Und allem, worüber Calvin und Thomas einer Meinung sind, sollten wir Aufmerksamkeit schenken.) Hier möchte ich ein Modell vorschlagen, das auf Calvins Lesart dieser Meinung beruht. Mein Ansatz geht nicht deshalb von Calvin aus, weil er von allen Theologen bewundert werden sollte, sondern weil er den fraglichen Gedanken auf besonders interessante Weise entfaltet. Hier — wie auf einigen anderen Gebieten — kann es nützlich sein, Calvins Lesart als eine Meditation über ein von Thomas angestimmtes Thema sowie als Durchführung dieses Themas aufzufassen. Nach Thomas gilt: »Von Natur eingepflanzt ist uns die Erkenntnis vom Dasein Gottes, insofern der Mensch nur in Gott selig werden kann.«3 In den Anfangskapiteln der Institutio Christianae Religionis4 stimmt Calvin zu und sagt ebenfalls, dass es so etwas wie eine natürliche Gotteserkenntnis gibt. Dabei erweitert er das Thema zu einem Vorschlag darüber, inwiefern Überzeugungen, die Gott betreffen, Gewähr haben können. Dieser Vorschlag bezieht sich auf die Beschaffenheit des Vermö-gens oder des Mechanismus, durch den wir Gott betreffende Überzeugungen erwerben. Calvins Idee lässt sich auch als Fortführung dessen ansehen, was der Apostel Paulus im 1. Kapitel des Römerbriefs sagt:
Der Zorn Gottes wird vom Himmel herab offenbart wider alle Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der Menschen, die die Wahrheit durch Ungerechtigkeit niederhalten. Denn was man von Gott erkennen kann, ist ihnen offenbar; Gott hat es ihnen offenbart. Seit Erschaffung der Welt wird seine unsichtbare Wirklichkeit an den Werken der Schöpfung mit der Vernunft wahrgenommen, seine ewige Macht und Gottheit. Daher sind sie unentschuldbar.(Römer 1, 18 — 20)5
Was unser Anliegen betrifft, besagt Calvins Hauptthese, dass es so etwas wie einen Instinkt — eine natürliche Tendenz des Menschen, eine Neigung, einen Drang - gibt, unter diversen Bedingungen und in diversen Situationen Überzeugungen zu bilden, die Gott betreffen. So heißt es in seinem Kommentar zu der angeführten Stelle aus dem Römerbrief:
Gott hat es ihnen offenbart, will sagen: der Mensch ist geschaffen, um den Weltbau zu betrachten; er hat Augen empfangen, damit der Anblick dieses herrlichen Bildes ihn zum Schöpfer selbst führe.6
In der Institutio führt er diesen Gedanken weiter aus und schreibt:
Daß der menschliche Geist durch natürliches Ahnvermögen eine Art Empfindung für die Gottheit besitzt, steht für uns außer allem Streit. Denn Gott selbst hat allen Menschen eine Kenntnis seiner Gottheit zu eigen gemacht, damit ja niemand den Vorwand der Unwissenheit als Entschuldigung anführe. […] Und wenn die Menschen doch alle miteinander darum wissen, daß ein Gott sei und daß er ihr Schöpfer ist, so sollen sie sich durch ihr eigenes Zeugnis verdammen, weil sie ihm keinen Dienst erweisen und seinem Willen ihr Leben nicht zum Opfer darbringen. […] Aber, wie schon ein heidnischer Denker fragt: Kein Volk ist so barbarisch, kein Stamm so verwildert, daß nicht die Überzeugung fest eingewurzelt wäre: es ist ein Gott. […] Da also seit Anbeginn der Welt kein Gebiet, keine Stadt, ja nicht ein Haus war, das der Religion entbehren konnte, so liegt in dieser Tatsache ein stillschweigendes Eingeständnis, daß allen Herzen ein Empfinden um die Gottheit eingeschrieben ist.(Institutio, I, iii, 1, S. 5)7
Calvin fährt fort und behauptet, dass viele Ablehnungen Gottes oder Versuche, ohne ihn auszukommen, eigentlich ebenfalls das Vorhandensein dieser natürlichen Neigung bezeugen:
Es werden also alle, die recht urteilen, stets darin einig sein: es ist wirklich im Herzen des Menschen ein Empfinden für die Gottheit gleichsam eingemeißelt, das unzerstörbar ist. Ja gerade der hartnäckige Widerspruch der Gottlosen, die sich trotz ihres heftigen Widerstrebens der Furcht Gottes nicht entwinden können, ist ein Beweis dafür, daß jene Überzeugung vom Dasein eines Gottes allen Menschen angeboren und geradezu in ihrem Innersten fest verwurzelt ist. […] Daraus wird ganz deutlich: es handelt sich hier nicht um eine Lehre, die man erst in der Schule lernen müßte; sondern jeder ist hierin von Geburt an sein eigener Lehrmeister, und die Natur selbst verhindert das Vergessen, so sehr auch viele Menschen alle Kräfte anspannen, um von dieser Lehre loszukommen.(I, iii, 3, S. 6)
Sieht man von der überspanntheit der Ausdrucksweise ab, die Calvin manchmal auszeichnet, ist der Grundgedanke vermutlich der, dass es ein Vermögen bzw. einen kognitiven Mechanismus gibt — einen sensus divinitatis, wie Calvin sagt, also einen Gottessinn -, der unter mannigfaltigen Umständen Überzeugungen in uns hervorruft, die Gott betreffen. Diese Umstände setzen, wie man sagen könnte, die Disposition zur Bildung der relevanten Überzeugungen in Gang; sie stellen die Gelegenheit dar, bei der diese Überzeugungen entstehen. Unter diesen Umständen entwickeln oder bilden wir theistische Überzeugungen — oder vielmehr: diese Überzeugungen werden in uns gebildet. Im Regelfall entscheiden wir uns nicht bewusst für diese Überzeugungen. Es ist eher so, dass wir diese Überzeugungen in uns vorfinden — genauso wie wir Wahrnehmungs- und ErinnerungsÜberzeugungen in uns vorfinden. (Es ist weder faktisch so noch überhaupt möglich, dass man einfach entscheidet, eine bestimmte Überzeugung zu haben und sie sich auf diese Weise zu eigen zu machen.)8 Die angeführten Stellen deuten an, dass dieses Bewusstsein von Gott etwas Natürliches ist, etwas Weitverbreitetes, das nicht ohne weiteres vergessen, außer acht gelassen oder zerstört werden kann. Bestätigt wird diese These durch den Umstand, dass sich die Marxisten in der früheren Sowjetunion siebzig Jahre lang entschlossen bemüht haben, das Christentum auszumerzen, ohne dass es ihnen gelungen wäre.9
Des weiteren klingt es so, als sei die Gotteserkenntnis nach Calvin etwas Angeborenes, so dass wir von Geburt an darüber verfügen und sie sozusagen mit der Muttermilch einsaugen. Aber vielleicht will Calvin eigentlich keine dieser Andeutungen gelten lassen. Die Fähigkeit zu dieser Erkenntnis ist in der Tat angeboren, und zwar genauso angeboren wie die Fähigkeit zu arithmetischer Erkenntnis. Daraus folgt aber nicht, dass wir die Grundzüge der Arithmetik mit der Muttermilch einsaugen.Vielmehr bedarf es dazu einer gewissen Reife. Ich möchte vermuten, dass Calvin im Hinblick auf die Gotteserkenntnis das gleiche meint.Was man mit der Muttermilch einsaugt, ist nicht diese Gotteserkenntnis, sondern die Fähigkeit dazu.Was immer Calvin jedoch gemeint haben mag, es ist unser Modell; und diesem Modell zufolge setzt die Entwicklung des sensus divinitatis eine gewisse Reife voraus (obwohl er häufig auch von ganz jungen Kindern an den Tag gelegt wird).
Der sensus divinitatis ist eine Disposition bzw. eine Menge von Dispositionen, unter verschiedenen Umständen und in Reaktion auf jene Bedingungen oder Reize, die diesen Gottessinn in Gang bringen, theistische Überzeugungen zu bilden. Calvin dachte dabei vor allem an einige der großen Naturschauspiele. Er ließ sich in diesem Zusammenhang, ebenso wie Kant, besonders von den Herrlichkeiten des Himmelszelts beeindrucken:
Aber auch der Ungebildete und Unwissende, der nur Augen hat zu sehen, der muß ja die Größe göttlicher Kunst und Weisheit erschauen, die sich ganz von selbst in der unendlichen Mannigfaltigkeit des Heeres der Himmel, die doch so wohlgeordnet ist, ihm entgegenstellt. Da ist also niemand, dem der Herr seine Weisheit nicht reichlich offenbarte!(I, v, 2, S. 11)
Die glänzende Pracht des Firmaments erblickt man etwa von einem 4000 Meter hohen Berggipfel. Dort denkt man über diese unvorstellbaren Entfernungen nach und fühlt sich von ehrfürchtigem Staunen erfüllt, bis man die Überzeugung bildet, wie groß Gott doch sein muss, um dieses herrliche Heer der Himmel erschaffen zu haben. Aber es ist nicht nur die Mannigfaltigkeit des Heeres der Himmel, die Calvin hier ins Auge fällt:
Niemandem sollte der Zugang zur Seligkeit verschlossen bleiben; deshalb hat Gott nicht nur dem Menschenherzen das geschenkt, was wir den Keim der Religion nannten. Er hat sich auch derart im ganzen Bau der Welt offenbart und tut es noch heute, daß die Menschen ihre Augen nicht aufmachen können, ohne ihn notwendig zu erblicken. […] Aber er hat den einzelnen Werken zuverlässige Kennzeichen seiner Herrlichkeit eingeprägt […] wohin man die Augen blicken läßt, es ist ringsum kein Teilchen der Welt, in dem nicht wenigstens irgendwelche Fünklein seiner Herrlichkeit zu sehen wären!(I, v, 1, S. 10)10
Was Calvin hier vorschwebt, ist folgendes: Der sensus divinitatis wird durch ganz verschiedene Umstände in Gang gebracht, unter anderem auch durch einige Naturschön...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Preface
  5. Foreword
  6. Content
  7. Teil I: Gibt es überhaupt eine Frage?
  8. Teil II: Was besagt die Frage?
  9. Teil III: Gewährleisteter christlicher Glaube
  10. Teil IV: Bezwinger?
  11. Bibliographie
  12. Register
  13. Fußnoten