Hartmut Dickhaus
1 Einführung in die Medizinische Informatik
1.1 Historische Entwicklung des Fachgebiets
1.2 Lehre und Ausbildung, Fachgesellschaften
1.3 Gesellschaftliche Aspekte der Medizinischen Informatik
1.4 Herausforderungen und zukünftige Entwicklungen
1.5 Inhalte und Gliederungdes Bandes
Zusammenfassung: Die Medizinische Informatik hat sich in den letzten fünfzig Jahren parallel mit der Einführung von Computern und elektronischer Datenverarbeitung als eigenständiges Fachgebiet entwickelt. Schon bald wurde ihre Bedeutung für die vielfältigen administrativen und klinischen Aufgaben in allen Bereichen des Gesundheitswesens deutlich. Aufgrund der zunehmenden Digitalisierung und fast vollständigen Durchdringung unserer Gesellschaft mit Computern unterschiedlichster Größe und Leistung sind unzählige Anwendungen der Medizinischen Informatik in der ambulanten und stationären Versorgung wie auch in der Forschung zur Selbstverständlichkeit geworden.
Abstract: In keeping with the invention and increasing application of computers and electronic data processing over the past fifty years, medical informatics has developed as an independent scientific discipline. It did not take long to discover its important role in various administrative and clinical fields of our health care system. To date, our society has almost completely been saturated by an increasing digitalization thanks to computers of varying size and performance, which have turned out as basic equipment for inpatient and outpatient treatment as well as medical research.
Die Medizinische Informatik ist ein Fachgebiet, das von der entsprechenden Fachge sellschaft in Deutschland wie folgt charakterisiert wird [GMDS 2015]:
Die Medizinische Informatikwird als „die Wissenschaft der systematischen Erschließung, Verwal tung, Aufbewahrung, Verarbeitung und Bereitstellungvon Daten, Informationen und Wissen in der Medizin und im Gesundheitswesen“verstanden.
Weiter heißt es: „Sie ist von dem Streben geleitet, damit zur Gestaltung der bestmög lichen Gesundheitsversorgung beizutragen. Zu diesem Zweck setzt sie Theorien und Methoden, Verfahren und Techniken der Informatik und anderer Wissenschaften ein und entwickelt eigene“.
Gegenstand der Medizinischen Informatik sind somit Daten, Information und Wissen mit Anwendungsbereich in der Medizin und im Gesundheitswesen. Beispiele sind Daten im Rahmen der Registrierung eines Elektrokardiogramms (EKG) oder der Computertomographie (CT), Informationen eines Patienten über sein Krankheitsbild und Wissen über die bestmögliche Behandlung einer Erkrankung. Zu ihrer Verar beitung wird das Methodenspektrum der Informatik und anderer Wissenschaften genutzt [van Bemmel 2008].
In diesem Buch wird also ein Fachgebiet thematisiert, das sich in hohem Maße an wendungsorientiert definiert und sich mit Problemstellungen im Kontext der Lebens wissenschaften bzw. des Gesundheitswesens beschäftigt. Das Verständnis für multi disziplinäre Ansätze und deren gesellschaftliche Auswirkungen ist eine wichtige Vor aussetzung dafür. Durch die hohe Dynamik in den Bereichen Medizin und Technik sind auch die zu bearbeitenden Fragestellungen einem stetigen Wandel unterworfen. Im Kontext schnelllebiger Veränderungen, pluralistischer Wertvorstellungen, globali sierter Arbeitswelten und einer zunehmenden Vernetzung bei gleichzeitiger Betonung der Individualisierung sind Konzepte für die zukünftige Gestaltung eines adäquaten Gesundheitsversorgungssystems eine große Herausforderung. So erwartet unsere Ge sellschaft die operationale und finanzielle Garantie von ausgewogenen Leistungsan sprüchen auf hohem medizinischen Niveau [Dierks 2008]. Auch hierzu sollte die Me dizinische Informatik einen Beitrag leisten.
Wenn die Digitalisierung heute zunehmend als Innovationstreiber verstanden und gefördert wird, der nicht zuletzt Wachstum und Fortschritt ermöglichen soll [Digitale Agenda 2014–2017], müssen auch die gesellschaftlichen Konsequenzen bis ins private Verhalten hinein bedacht und angemessen berücksichtigt werden. Dazu gehört unter anderem der Schutz der Privatsphäre und personenbezogener Daten vor Missbrauch.
In Deutschland wurde schon früh in den Anfängen des Fachgebietes diskutiert, ob die Medizinische Informatik eine eigenständige Wissenschaft sei. Hierzu fehlt laut WINGERT aber die Abgrenzung einer eigenständigen Methodik, ein Merkmal der klassischen Definition eines wissenschaftlichen Faches [Wingert 1979]. So definier ten dann auch Fachvertreter in den siebziger Jahren die Medizinische Informatik eher durch ihre Anwendungsbereiche und methodischen Werkzeuge, die auf die jeweiligen Probleme zugeschnitten werden müssen. REICHERTZ betonte, dass die Medizinische Informatik ein Denken in Systemen erfordere und die Integration un terschiedlicher Wissensbereiche für Problemlösungen benötige [Reichertz 1978]. Van BEMMEL formulierte in den achtziger Jahren:
Medical Informatics comprises the theoretical and practical aspects of information processing and communication, based on knowledge and experience derivedfrom processes in medicine and health care [van Bemmel 1984].
Auch hier finden wir eine Fokussierung auf das Anwendungsgebiet mit der Betonung auf die methodische Ausrichtung der Informationsverarbeitung.
Daten, Information und Wissen
B. BLUM, der in den frühen sechziger Jahren einer der Pioniere der Informatik in den USA war und seit 1976 hauptsächlich mit medizinischen Fragestellungen bei der NASA betraut wurde, begann seine Betrachtungen gerne mit der Trias von Daten, Information und Wissen [Blum 1990] (
Abb. 1.1). Unabhängig von der Komplexität einer An wendung der Medizinischen Informatik lässt sich ihr Gegenstand immer auf Daten, Information und Wissen zurückführen. Dabei geht es meist um deren Verknüpfung, Verarbeitung, Speicherung, Bereitstellung oder Übertragung. Entsprechend bieten Informations und Kommunikationstechnologien die wesentlichen technischen Grund lagen im Zusammenwirken mit Methoden der Informatik.
Daten können als symbolische Abbildungen von Sachverhalten bzw. als Zeichen ketten angesehen werden, z. B. der Messwert des systolischen Blutdrucks, der Nach name eines Patienten oder die Farbe der Augen. Informationen sind hingegen kon textualisierte Daten, d. h. die Daten stehen in einem inhaltlichen Zusammenhang und machen in diesem eine Aussage. Häufig haben Informationen eine beobachterabhän gige Bedeutung, die auch mit der Auftrittswahrscheinlichkeit zusammenhängt. So ist die Aussage, dass bei einer Medikamentenstudie unter kontrollierten Bedingungen die Mortalität bei Einnahme der Wirksubstanz einen bestimmten Prozentsatz beträgt, eine Information.
Wissen hingegen repräsentiert beispielsweise Fakten, Regeln oder Gesetzmäßig keiten, die als gültig erkannt wurden. Dabei wird häufig nochmals zwischen verschie denen Formen von Wissen unterschieden, wie z. B. explizites und implizites, exaktes oder empirisches Wissen.
Der Übergang zwischen Wissen und Information ist häufig fließend. So kann durch Analyse und Verknüpfung von Informationen Wissen generiert werden. Die Auswertung mehrerer Studien mit der gleichen Wirksubstanz unter identischen Be dingungen kann in der vergleichenden Beurteilung einer Metaanalyse Wissen über die verabreichte Substanz erzeugen. Wissen wird häufig durch eine abstrakte Formu lierung mittels Regeln, Formeln oder Heuristiken gewonnen.
Abb. 1.1: Daten, Information und Wissen. Daten können gesammelt werden. Durch Zusammen fassung und Strukturierung der Daten kann Information gewonnen werden. Durch Analysieren und Verknüpfen von Information und Wissen kön nen Entscheidungen getroffen werden; verändert nach [TTI Tectran 2015].
Die Informatik stellt mit dem Computer (Hardware) und den Algorithmen (Software) hervorragende Werkzeuge zur Verfügung, um die verschiedenen Entitäten wie Daten, Information und Wissen miteinander in Beziehung zu setzen. Daten werden ge sammelt, gespeichert und nach bestimmten Vorschriften zusammengefasst oder aus gewertet [Haux 2011]. Aber auch Informationen und Wissen können heute mit forma lisierten Regeln automatisch verarbeitet bzw. generiert werden. Man spricht von com putergestützter Wissensverarbeitung mit Methoden der künstlichen Intelligenz, der Heuristik und des automatischen Erkennens bzw. Schließens. Einerseits wer den Informationen aus Daten extrahiert und als Wissen gespeichert, andererseits wer den aus gespeichertem Wissen Informationen gewonnen, um z. B. sinnvolles Handeln und Entscheiden zu ermöglichen.
Neben diesen klassischen Methoden und Werkzeugen der computergestützten Verarbeitung erschließt die elektronische Vernetzung ganz neue Dimensionen, wie Internet oder World Wide Web [Naughton 2000]. Das Internet dient im weitesten Sinne als Kommunikationsvehikel für Daten, Informationen und Wissen. Aufgrund seiner Omnipräsenz und Geschwindigkeit ergeben sich revolutionäre Möglichkeiten zur Informierung und Kommunikation zu jeder Zeit, an jedem Ort und über fast alle denkbaren Sachverhalte.
Die hierdurch bereits erzielten und noch zunehmenden Auswirkungen, auch auf das Gesundheitswesen als wesentlicher Teil unserer Gesellschaft, sind noch nicht ab zusehen. Bereiche wie eHealth (electronic health; auchE Health) und mHealth (mobile health; auch M Health) stehen in ihrer Nutzung wohl erst noch am Anfang und stellen die Medizinische Informatik vor neue Herausforderungen, bieten aber auch zahlrei che faszinierende Möglichkeiten, die hoffentlich im Sinne einer höheren Effizienz und Qualität für die Patientenversorgung genutzt werden.
1.1 Historische Entwicklung des Fachgebiets
1.1.1 Medizinische Informatik in Deutschland
In Deutschland liegen die Wurzeln der Medizinischen Informatik in den sechziger Jahren. Fragestellungen zur Dokumentation und Aufbewahrung von Krankenakten, der Identifikation von Patienten während ihrer Behandlungen und Aufenthalte in Krankenhäusern sowie der Klassifikation von Krankheiten mit sogenannten Dia gnoseschlüsseln standen am Anfang der Medizinischen Informatik. Aufgrund der Einsicht, dass die damals neu aufkommenden Werkzeuge in Form von Computern mit entsprechenden Programmen auch für Aufgaben im Krankenhaus oder allgemein im Gesundheitswesen nützlich sein konnten, wurde ein eigenständiges, aufgabenge triebenes Arbeitsfeld entwickelt.
| Eine Dokumentation klinischer Basisdaten und Krankengeschichten wurde bereits im frühen 16. Jahr hundert, beispielsweise im St. Bartholomew’s Hospital in London oder durch den Nürnberger Stadt arztMAGENBUCH betrieben [Assion und Telle 1972]. |
Man erkannte schnell, dass auch administrative Prozesse und die damitverbundenen Tätigkeiten wirkungsvoll mit der in den sechziger und siebziger Jahren aufkommen den elektronischen Datenverarbeitung (EDV) unterstützt werden konnten. Schon bald wurden komplexere Systeme entworfen, die Eigenschaften von Managementsys temen aufwiesen und für verschiedene Aufgaben im Krankenhaus eingesetzt wurden. Wesentliches Merkmal dieser Systeme war die zentrale Erfassung, Speicherung und Bereitstellung von Patientendaten aus unterschiedlichen klinischen Bereichen und Prozessen während des Aufenthalts der Patienten im Krankenhaus. Daneben wur den logistische und administrative Aufgaben, wie z. B. das Bestellwesen und die Leis tungsabrechnung, in das System integriert. Derartige Softwareentwicklungen wur den schon damals als rechnerbasierte Krankenhausinformationssysteme (KIS) be zeichnet. Ihre Entwicklung wurde häufig in den neu eingerichteten universitären In stituten, die sich mit der klinischen Datenverarbeitung auseinandersetzten, strate gisch und operational vorangetrieben. Heute sind diese ...