1 Grundlagen und Grundfragen
1.1 Was ist Orthographie?
Auf diese Frage hat Julius Georg Schottelius 1676 folgende Antwort gegeben:
Abbildung 1: »Rechtschreibung« bei Julius Georg Schottelius (1676: 16)
So einfach die Antwort klingt, so schwierig ist es, das zu tun, was sie besagt, nämlich »eine jede Letter an gehörigem Orte« zu setzen. Was ist »recht schreiben«?
Die Schwierigkeit beginnt bereits mit dem Wort Orthographie. Denn mit der Entscheidung für die Schreibung <Orthographie> begibt man sich mitten in eine Diskussion um das richtige Schreiben und man könnte sagen, dass damit schon der Kern dieses Buches, seiner Inhalte und seiner Nutzung getroffen ist. Gleichzeitig erweist sich dadurch die Auffassung, bei der Orthographie handle es sich um den am einfachsten zu bewältigenden Bereich sprachwissenschaftlicher, sprachdidaktischer oder unterrichtlicher Arbeit, als unzutreffend. Was bewegt eine Verfasserin oder einen Verfasser eines Schriftstücks, <Orthographie> zu schreiben und nicht etwa <Orthografie>? Und was hindert sie oder ihn daran, eine der folgenden Schreibungen zu verwenden?
*orthographie – *orthografie – *Ortographie – *Ortografie – *ortographie – *ortografie
Die Antwort, so einfach sie aussehen mag, bringt zugleich einen weiteren Aspekt des komplexen Bereiches der Sprache in den Blick: Entscheiden konnte sich die Verfasserin dieser Zeilen für <Orthographie> und gegen <Orthografie>, da ihr die amtlichen Regeln (Deutsche Rechtschreibung 2006) die Wahl erlauben, und sie sich ferner in einer Publikation für den Bildungsbereich im Rahmen ebendieser amtlichen Regeln bewegen muss. Die Schreibungen *orthographie – *orthografie – *Ortographie – *Ortografie – *ortographie – *ortografie scheiden damit aus, selbst wenn die Verständlichkeit der Aussagen, die in dem Schriftstück getroffen werden, durch die Entscheidung für eine dieser Varianten nicht gefährdet wäre. Dies wäre erst der Fall, wenn es zu einer völligen Entstellung des Wortes käme. Dabei sind jedoch die Grenzen fließend, und das tatsächliche Verständnis wie auch die Toleranzgrade sind je nach Rezipient oder Rezipientengruppe unterschiedlich: Durch die Lektüre von Schülertexten beispielsweise erwerben Lehrerinnen und Lehrer eine spezifische Verstehenskompetenz, auch solche sprachlichen Erscheinungen zu verstehen, die mit dem amtlichen Regelwerk (Deutsche Rechtschreibung 2006) nicht konform sind, dürfen sie aber qua Bildungsauftrag nicht auch schon in Akzeptanz umsetzen. Das amtliche Regelwerk gilt als Zielvorgabe vor allem für sie. Die deutschsprachige Öffentlichkeit schreibt häufiger <Orthographie> als <Orthografie>. Am 11.03.2014 spielt das DeReKo des Instituts für Deutsche Sprache, Mannheim (Wöffentlich – Archiv der geschriebenen Sprache) folgende Treffer zurück:1
Tabelle 1: Häufigkeit der Schreibungen Orthographie/Orthografie
Die Zahl der Treffer für <Orthografie> sind klar in einen zeitlichen Zusammenhang mit der jüngsten deutschen Orthographiereform zu bringen. Die Variante taucht vor dem Jahr 1995 im W-Archiv nicht auf.
Entschieden hat sich die Verfasserin dieses Arbeitsheftes für die amtlich zugelassene Variante <Orthographie>, da sie um die Bestandteile dieser Variante als Zusammensetzung weiß und die Herkunftssprache der beiden Komponenten kennt: Altgriechisch bedeutet ὀρθός ›richtig‹ und γράφειv ›schreiben‹. Das griechische Schriftzeichen <θ> wird in der lateinischen Schrift als <th> realisiert, das Schriftzeichen <φ> als <ph>. Es wäre höchst merkwürdig, wollte man für den ersten Bestandteil von <Orthographie> die Herkunftssprache noch signalisieren und damit ein etymologisches Verschriftungsprinzip geltend machen, für den zweiten hingegen nicht.
Zieht man vorläufig Bilanz, so kann Folgendes bereits festgehalten werden:
– Die Verständlichkeit ist sicherlich ein wichtiges Kriterium für Schriftstücke, alleine reicht sie jedoch nicht aus. Denn das Kriterium ist ›weich‹, d.h. verschiedene Kommunikationspartner können unter ›Verständlichkeit‹ Unterschiedliches verstehen.
– Daher gibt es Festlegungen, die eine Sprechergemeinschaft trifft, um allgemein die Verständlichkeit der schriftlichen Kommunikation sicherzustellen. Diese Vereinbarungen zu formulieren, wird mittlerweile Experten als Aufgabe übertragen, um zu gewährleisten, dass Entscheidungen wissenschaftlich erfolgen – nicht etwa willkürlich oder durch bestimmte, möglicherweise ideologisch geprägte Interessen getroffen werden. Nicht immer war dies so.
– Bei diesen Festlegungen gibt es Spielräume, auch und gerade innerhalb des gegenwärtig im deutschen Sprachraum bzw. in der Bundesrepublik Deutschland gültigen amtlichen Regelwerkes (Deutsche Rechtschreibung 2006).
– Kriterien für Entscheidungen, die Verfasser von Schriftstücken innerhalb der Spielräume treffen müssen, erfordern die Kenntnis von Orthographieprinzipien. Am Beispiel von <Orthographie>/<Orthografie> betrifft dies das etymologische und ästhetische Prinzip: Ersteres beruht auf Wissen, Letzteres auf Geschmack und Gewohnheit.
– Auf jeden Fall hat der Bereich Orthographie auch eine nicht zu vernachlässigende historische Komponente. Zu unterschiedlichen Zeiten waren die Vereinbarungen unterschiedlicher Art, und bei einer Orthographiereform werden auch nicht notwendigerweise alle bisherigen Publikationen umgeschrieben. Die Mitglieder einer Sprechergemeinschaft stoßen daher im Alltag immer wieder auch auf Varianten, die nicht dem gegenwärtig gültigen amtlichen Regelwerk (Deutsche Rechtschreibung 2006) entsprechen – auch und gerade Kinder, wenn sie Büchereien nutzen oder einander Bücher ausleihen.
– Daher ist es wichtig, sich noch einmal klar zu machen, was Sinn und Zweck von Orthographie, orthographischem Wissen und Können ist.
1.2 Sinn und Zweck von Orthographie, von orthographischem Wissen und Können
1.2.1 Schreibkompetenz
›Orthographie‹ bedeutet schlichtweg nichts anderes als richtig zu schreiben. Es geht also darum, dass jemand etwas aufschreibt, das von anderen gelesen werden kann, und dass er sich dabei an die vorgegebenen Festlegungen hält, die mittlerweile die meisten Sprechergemeinschaften in unterschiedlich verbindlicher Form getroffen haben. Es wäre unsinnig, etwas falsch zu schreiben oder nicht – nach Möglichkeit – zu garantieren, dass der Verfasser selbst oder ein anderer zu gegebener Zeit das Aufgeschriebene wieder lesen kann. Um dies zu gewährleisten, benutzt ein Verfasser die in seiner Sprachgemeinschaft üblichen Zeichen bzw. lernt die einer anderen, um ggf. kommunikativ erfolgreich handeln zu können, und nutzt sie so, dass er die Verständlichkeit im oben beschriebenen Sinne garantiert. Auf der anderen Seite steht derjenige, der auf ein Schriftstück trifft und seinerseits mit den Zeichen und Zeichenkombinationen vertraut sein muss, um tatsächlich auch das verstehen zu können, was er verstehen soll oder will. Schrift, verstanden als potentiell Sinn generierender Zeichenvorrat, dessen Elemente ausgewählt und kombiniert werden, um tatsächlich Sinn zu schaffen, ist eine kulturelle Errungenschaft und hat eine Reihe von Funktionen. Es sind dies private, öffentliche und eine Verschränkung von beiden. Die Gewährleistung von Verständlichkeit ist unabdingbar für alle Funktionen von Schrift. Darin liegt auch die Begründung für die Notwendigkeit, um die Orthographie, d.h. das richtige und Verständlichkeit gewährleistende Verfassen von Schriftstücken, zu wissen, und dieses Wissen auch anwenden zu können (vgl. Hinney 2011: 195). Orthographie dient dazu, dass jemand etwas so schreibt, dass er und andere es lesen können, und zwar dauerhaft. Dies betrifft alle Funktionen des Schreibens.
1. Die Funktion des richtigen Schreibens für ein Individuum
Nur wenn jemand ausschließlich für sich etwas schreibt oder aufschreibt, wäre es ihm vollkommen selbst überlassen, so zu schreiben, wie er will. Falls er jedoch zu einem späteren Zeitpunkt sein Schriftstück wieder lesen möchte, muss er im Falle einer völligen Missachtung aller Regeln, Konventionen – auch ggf. selbst gesetzter – ein großes Erinnerungsvermögen haben, um noch zu wissen, was er geschrieben hat. Ein Kind in der so genannten ›Kritzelphase‹ (vgl. Kapitel 4.2.2) wird möglicherweise spontan erklären, was es aufgeschrieben hat, wird aber nach Wochen nicht unbedingt mehr dieselben Erklärungen geben (Karg 2008: 137ff.). Die völlige Idiosynkrasie mit keinerlei Kommunikationsfunktion wäre als einzige Situation denkbar, in der richtiges Schreiben nicht von Bedeutung wäre.
2. Die Funktion des richtigen Schreibens für die Alltagskommunikation
Selbst bei einem vollkommen idiosynkratisch verfassten Einkaufszettel, für dessen Abfassung auf den ersten Blick gesehen keine Kenntnis der Orthographie erforderlich zu sein scheint, müssen Festlegungen einer Sprechergemeinschaft zu den schriftsprachlichen Normen bedacht werden. Andernfalls kommt es beim Abgleich mit den Waren im Supermarkt möglicherweise zu Irritationen. Denn in dem Moment, in dem der Verfasser eines Schriftstücks sich in der Öffentlichkeit bewegt und mit anderen in Kontakt tritt, kann er auf Regelungen, Vereinbarungen und ihre Beachtung nicht gänzlich verzichten. Menschen tauschen Botschaften aus – mittlerweile auch wieder eher schriftlich bzw. in einer besonderen Schriftform per Fax und E-Mail als per Telefon. Auch wenn sich dabei in der Schreibkultur ein historischer Wandel vollzogen zu haben scheint und in den westlichen Kulturen zumindest die Kalligraphie zugunsten der Orthographie an Bedeutung verliert, so spielt doch auch bei einem mit dem Textverarbeitungsprogramm verfassten Schriftstück die Optik zumindest keine unerhebliche Rolle. Ganz abgesehen davon wäre es nachlässig, sich voll und ganz auf die Orthographieprüfung des Textverarbeitungsprogramms zu verlassen.
3. Die Funktion des richtigen Schreibens als ›kulturelle Teilhabe‹
Über die unmittelbar nützliche Alltagskommunikation hinaus ermöglicht die Kenntnis der Schrift und ihres konventions- und vereinbarungsgemäßen Einsatzes eine weitergehende kulturelle Beteiligung derjenigen Menschen, die schreiben können. Nur in einer Schriftkultur kann die Existenz und die Weitertradierung eines ›kulturelles Gedächtnisses‹ (Assmann) garantiert werden. Schrift hat die Chance, Bestand und Dauer zu schaffen. Neben der Auswahl eines stabilen Trägermediums gehört dazu wiederum die Verständlichkeit, und wo sie nicht (mehr) unmittelbar gegeben ist, die Möglichkeit, sie herzustellen. Dass die Nachwelt Botschaften vergangener Kulturen ›lesen‹ konnte, hatte zur Voraussetzung, dass die einstigen Verfasser regelhaft und systematisch ihre Zeichen gesetzt haben. Durch die Kenntnis und Nutzung von Schrift schreibt sich jeder Verfasser in das kulturelle Geschehen der Gegenwart ein und trägt dazu bei, dass davon etwas bewahrt werden kann. Lässt die deutsche Bezeichnung ›Analphabetismus‹ für Schreibunkundige dabei an eine allgemeine Unkenntnis der Buchstaben denken, so liegt die englische Bezeichnung illiterate für Personen, die des Lesens und Schreibens unkundig sind, näher bei dem lateinisch-mittelalterlichen Unterschied zwischen literatus und illiteratus und weist auf Teilhabe an der Schriftkultur hin: Wer das Können hat, gehört zu einer Gruppe, die sich durch ebendieses Können von anderen unterscheidet. Für demokratisch sich verstehende Gemeinschaften kann diese Teilhabe kein Privileg sein, das bestimmten Gruppierungen vorbehalten ist. Orthographie ist kein Zusatz, sondern die Voraussetzung jeder gesellschaftlichen Teilhabe. Der systematische Gebrauch vereinbarter Zeichen der Schriftkultur verleiht dem menschlichen Dasein demnach Bedeutung über die Flüchtigkeit des Alltags hinaus. Orthographie unterstützt in nicht unerheblichem Maße diese Bedeutungsgenerierung und -bewahrung. Eine Orthographiereform ist, so besehen, eine Störung in der Kontinuität schriftlicher Zeugnisse. Es gibt Sprachen bzw. Sprechergemeinschaften, die möglicherweise aus diesem Grund den bewahrenden Charakter ihrer Schrift ernster nehmen als andere und keine Orthographiereformen durchführen (vgl. Kapitel 5.1.1 und 5.1.2).
4. Die Funktion des richtigen Schreibens in der ›kognitiven Biographie‹ eines Menschen
Die Schrift zu lernen und sie nutzen zu können ist ein wichtiger Schrit...