1Über dieses Buch
Im vorliegenden Band der Reihe „Praxiswissen“ werden die Themen der NS-Provenienzforschung und der Restitution an Bibliotheken auf eine für ein breiteres Publikum allgemein verständliche Weise dargestellt. Dabei werden alle wesentlichen Aspekte von NS-Provenienzforschung und Restitution an Bibliotheken unter Berücksichtigung der aktuellen Forschungsergebnisse auf diesem Gebiet berücksichtigt.
Ziel ist es, in klarer und verständlicher Weise das essentielle Basiswissen für eine Beschäftigung mit dieser Problematik zu vermitteln. Während sich die zahlreichen Publikationen zu dem Thema – Einzelpublikationen und einige Kongress- bzw. Sammelbände – bisher an FachwissenschaftlerInnen und SpezialistInnen richten, soll hier interessierten Laien, BibliothekarInnen, BibliotheksmitarbeiterInnen, aber auch BibliotheksbenutzerInnen essentielles Einstiegswissen und ein Grundverständnis für die Problematik geboten werden, indem die Thematik prägnant zusammenfasst wird.
Dabei werden die diversen Handreichungen und Checklisten, die eher technokratisch für SpezialistInnen verfasst sind (vgl. etwa die Handreichung zur Umsetzung der „Erklärung der Bundesregierung, der Länder und der kommunalen Spitzenverbände zur Auffindung und zur Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgutes, insbesondere aus jüdischem Besitz“ vom Dezember 1999 vom Februar 2001, überarbeitet im November 2007), nicht als Konkurrenz, sondern vielmehr als Ergänzung dieser Publikation gesehen.
NS-Provenienzforschung und Restitution wurde in den letzten Jahren an vielen Bibliotheken in Deutschland und Österreich in diversen Projekten thematisiert. Die bisherigen Erfahrungen zeigen allerdings, dass NS-Provenienzforschung und Restitution keine Themen sind, die als Projekte abgeschlossen werden können. Vielmehr führen neue Erkenntnisse an einzelnen Bibliotheken zur Notwendigkeit, auch an anderen Bibliotheken Sachverhalte neu zu bewerten. Daher scheint es notwendig, die NS-Provenienzforschung für ein breiteres Publikum zu öffnen: sowohl für die BibliothekarInnen und BibliotheksmitarbeiterInnen als auch für die BenutzerInnen der Bibliotheken.
In einer Bibliothek sind die Exemplarspezifika Ausdruck der Herkunft und Geschichte eines bestimmten Buches. Sie transportieren über den reinen Inhalt hinaus wichtige (Meta-)Informationen und bilden die Grundlage für die Provenienzforschung, die diese Evidenzen deutet, dokumentiert und in Ergänzung mit anderen Informationsquellen aus Archiven, Foren usw. nutzbar macht.
VorbesitzerInnen historischer Buchbestände haben Spuren unterschiedlichster Art in ihren Büchern hinterlassen: Namen, Kauf- und Geschenkeinträge, Preise, Orts-und Datumsangaben, Titel- und Funktionsbezeichnungen, Ordenszugehörigkeiten, Motti, Merkverse, Alltagsnotizen, Widmungen, Zensurvermerke usw. Im Rahmen der exemplarspezifischen Erschließung von Drucken des 16. bis 19. Jahrhunderts beschäftigen sich BibliothekarInnen schon lange mit diesen Gebrauchsspuren. Eine besondere Form, die neu hinzugekommen ist, sind die Gebrauchs- und Raub- sowie Verwertungsspuren der NS-Zeit und deren spätere Überlagerungen. Das Lesen, Zuordnen und Interpretieren solcher schriftlichen Einträge ist selbst für ausgewiesene NS-ProvenienzforscherInnen und BibliothekarInnen mühsam und schwierig.
Mit diesem Buch werden aber auch Bibliotheken, die Bücher mit Erscheinungsjahren bis 1945 weiterhin in Form von Geschenken oder antiquarisch erwerben, angesprochen, um diese Neuzugänge standardmäßig der NS-Provenienzforschung zu unterziehen.
Da wir uns mit unserer Publikation aber in erster Linie nicht an die ausgewiesenen ExpertInnen der NS-Provenienzforschung wenden, sondern vielmehr an alle MitabeiterInnen an Bibliotheken sowie BibliotheksbenutzerInnen, um auch bottomup Initiativen zu ermöglichen, ist es notwendig, die Inhalte in didaktisch besonders aufbereiteter Form vorzulegen.
So sollen z. B. ErweberInnen, KatalogisiererInnen und SacherschließerInnen das notwendige Problembewusstsein und ein einführendes Rüstzeug erhalten, um zu erkennen, ob ein Buch, das als „Neuzugang“ (antiquarisch oder als Geschenk) oder im Zuge der Retrokatalogisierung bearbeitet wird, eine bedenkliche Herkunft aufweist bzw. NS-Raubgut darstellen könnte.
Aber auch für BibliotheksbenutzerInnen wird damit eine einführende Anleitung gegeben, um z. B. bei der Benutzung auffallenden Provenienzhinweisen nachgehen zu können und so in qualifizierter Weise auf in der Bibliothek vielleicht nicht bekannte Fälle hinweisen zu können.
Die Verbreitung des Wissens um NS-Provenienzforschung und Restitution auch beim regulären Bibliothekspersonal und bei den BenutzerInnen wird in den kommenden Jahren an Bedeutung gewinnen. Daher ist das Buch auch für Bibliotheksleiterlnnen sowie Mitarbeiterlnnen von PR-Abteilungen hilfreich, weil es in komprimierter Form ein Basiswissen zu einem auch in der öffentlichen Wahrnehmung immer bedeutender werdenden Thema vermittelt.
Wir als Autoren des Bandes beschäftigen uns in verschiedenen Rollen schon seit Jahren mit der NS-Provenienzforschung und Restitutionen in Bibliotheken. Den Ausgangspunkt unserer Überlegungen bildet dabei unsere Arbeit an verschiedenen Wiener Bibliotheken und in österreichischen Arbeitsgruppen sowie internationalen Netzwerken. Dieses Praxiswissen wollen wir auch für andere nutzbar machen – wohl wissend, wie wichtig die internationale Vernetzung in diesem Tätigkeitsbereich ist, aber auch, wie vielfältig und schwer überschaubar der Bereich der NS-Provenienzforschung in den letzten Jahren geworden ist.
Ein solches Buch ist ohne das Engagement vieler in unterschiedlichen Bereichen tätiger Personen nicht möglich. Für ihre Unterstützung wollen wir daher Olivia Kaiser, Christina Köstner-Pemsel, Markus Lenhart, Walter Menzel, Christian Mertens, Elke Pophanken, Birgit Scholz, Maria Seissl, Margot Werner und Alexander Zartl herzlich danken. Auch dem Verlag und der Geduld Claudia Heyers sind wir ebenso zu Dank verpflichtet wie unseren Provenienzforschungs-KollegInnen im In- und Ausland.
Wien, September 2016
2Erste Schritte
2.1Wen betrifft der Themenbereich NS-Raubgut und Provenienzforschung?
2.1.1Erste Hinweise – Handlungsbedarf erkennen
„Allein, eine ‚späte Geburt‘ ist kein hinreichender Beweis dafür, dass sich keine durch die Nationalsozialisten zwischen 1933 und 1945 konfiszierte Literatur in den Bibliotheken befindet.“ (Narewski 2013, S. 410)
Ihre Bibliothek gab es vor 1945 noch gar nicht? Oder es gab sie, aber von NS-Raubgut in den Beständen weiß niemand etwas? Eine erste Überprüfung hat keine Hinweise ergeben? Oder es wurde schon alles in den Nachkriegsjahren restituiert?
Es gibt viele gute Gründe anzunehmen, dass eine Bibliothek mit der Thematik NS-Raubgut, Provenienzforschung und Restitution (oder auch Beutegut) nicht viel zu tun hat. Ebenso gute Gründe gibt es, sich die Sache noch einmal ganz genau anzusehen. Und sei es nur, weil jeden Tag ein Buch mit fragwürdigen Stempeln auftauchen kann und jemand am Infopult wissen will, was es damit auf sich hat.
Dass NS-Raubgut unerkannt in den Beständen einer Bibliothek schlummert, kann viele Gründe haben. Frühere Recherchen erweisen sich oft als lückenhaft, weil das Wissen über die Methoden und Ergebnisse der NS-Provenienzforschung, das sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten entwickelt hat, fehlte. Besonders Informationen über Raubgut aus zweiter Hand („sekundäres Raubgut“), das etwa durch Bestandsübernahmen, Rückwärtsergänzungen, Bibliothekszusammenlegungen etc. in die Bibliothek kam und ein ‚zweites Zeitfenster‘ für die Einarbeitung von NS-Raubgut öffnete, ermöglicht neue Funde und Ergebnisse. Es gilt also, über die Zugangsjahre 1933 bis 1945 und unmittelbare Raubgutlieferanten hinaus zu denken und zu suchen.
Abb. 1: Mögliche Zugangswege von NS-Raubgut in Bibliotheksbestände
Erste Fragen können erste Hinweise auf bedenkliche Erwerbungen im Zusammenhang mit der NS-Zeit geben:
Gab/gibt es …
…Bestandsübernahmen aus anderen Bibliotheken?
…(systematische) Rückwärtsergänzungen der Bestände?
…Übernahmen von Nachlässen, Sammlungen oder Schenkungen mit „älteren“ Büchern?
…unbearbeitete Rückstände aus der NS-Zeit?
…Restitutionen in den Nachkriegsjahren? Und wurde dabei bestimmt nichts übersehen?
…antiquarische Ankäufe?
…aktuell oder in Zukunft Neuerwerbungen von „Altbeständen“?
Diese Hinweise auf mögliche Zugangswege, indirekt und unentdeckt Aufgenommenes, sollen den Blick auf den Großteil des Raubguts nicht verstellen. Die zentrale Aufgabe ist die Auseinandersetzung mit dem, was in den Jahren 1933 bis 1945 passiert ist, und den entsprechenden Beständen – also mit Themen wie Einlieferungen der Gestapo, Käufen bei „Judenauktionen“, Übernahmen der Reichstauschstelle und ähnlichem.
2.1.2Warum ist/bleibt das Thema aktuell?
Im Bibliotheks- alltag können jederzeit Fragen oder Hinweise zu NS-Raubgut auftauchen. Erwerbung und Erschließung, Informations-und Benutzungsdienste, Digitalisierung, Sammlungen u.v.m. können betroffen sein!
Warum passiert es immer noch, dass betroffene Bücher falsch behandelt, gedankenlos aufgenommen oder ausgeschieden werden? Das Erkennen und richtige Behandeln von NS-Raubgut ist eine Aufgabe, die nicht isoliert von den anderen Geschäftsgängen der Bibliothek erledigt werden kann – schließlich betrifft sie die Bereiche Erwerbung und Erschließung genauso wie Benutzungs- und Informationsdienste.
Bei antiquarischen Ankäufen und Übernahmen von Schenkungen, Sammlungen oder Nachlässen können auch in Zukunft noch betroffene Bücher auftauchen. Benutzer können jederzeit nach einem merkwürdigen Stempel oder Exlibris fragen oder wissen wollen, was es mit NS-Stempeln oder -eintragungen in den Beständen auf sich hat. Und bei Korrektur- oder Rückarbeiten mit Autopsie nehmen KatalogisiererInnen Bücher in die Hand, die vielleicht noch nie so genau untersucht wurden.
Institutionelle Umstrukturierungen, Zusammenlegungen und Auflösungen von Zweigstellen sind keine Einzelfälle. Sie fördern laufend Bestände zutage bzw. stellen jahrzehntelang wenig beachtete Medien in den Mittelpunkt der Bibliotheksarbeit, genauso wie alltägliche Aussonderungen.
Der richtige Umgang mit betroffenen Büchern muss also in die alltägliche Arbeitspraxis der BibliothekarInnen aufgenommen werden. In der Bearbeitung von antiquarischen Erwerbungen und Geschenken sind sie genauso zu berücksichtigen, wie bei der Aussonderung oder der Retroerfassung von Altbeständen.
Hinweis:
Nur ausreichend Informationen, Sensibilität für das Thema und ein einheitliches Vorgehen (Erwe...