Stehen bleiben – es wäre der Tod, nachahmen – es ist schon eine Art Knechtschaft, eigne Ausbildung und Entwicklung – das ist Leben und Freiheit.
Leopold v. Ranke, Zur Geschiche Deutschlands und Frankreichs im 19. Jahrhundert, hrsg. 1887
1.1. Thematische Hinführung
Adelsreformen als Spielart eines dritten Weges der Elitenformierung
Die Sehnsucht nach „dritten Wegen“ im Prozess des gesellschaftlichen Wandels der Neuzeit hat in der deutschen Geschichte eine lange Tradition. Insbesondere seit der Krise des Absolutismus im ausgehenden 18. Jahrhundert und der einsetzenden Auflösung der ständischen Gesellschaft finden sich im deutschen Raum vielfältige intellektuelle Strömungen, die, oft in Abgrenzung zu zeitgenössischen Vergleichsgesellschaften, zwischen radikalem Wandel und starrer Verharrung einen „maßvollen“, d.h. Innovation und Tradition integrierenden, eben einen „dritten Weg“ gesellschaftlicher Anpassungsleistungen suchten.
Um eine elitenorientierte Spielart solcher „Dritte Wege“-Vorstellungen handelt es sich auch bei den Vorschlägen zu einer „Reform“ oder „Erneuerung“ des Adels in Deutschland, die seit dem Ausgang des „ancien régime“ im Alten (deutschen) Reich bis ins 20. Jahrhundert zu finden sind. Ausgelöst wurde der Ruf nach einer „Adelsreform“ durch die seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts allgemein empfundene „Adelskrise“, manifest in einer umfassenden bürgerlichen Adelskritik, deren intellektuelles Zentrum in Frankreich lag. Die vorgebliche Insuffizienz des Adels in der Erfüllung gesamtgesellschaftlicher Aufgaben und dessen aus dieser Perspektive unbegründbaren Privilegien bildeten die Hauptziele dieser Kritik. Die Erschütterungen der französischen Revolution und der Siegeslauf der napoleonischen Armeen ließen um 1800 das Problem neuer Führungsschichten für die meisten kontinentaleuropäischen Gesellschaften dringlich werden. Vor diesem Hintergrund wurde von aufklärerisch-bürgerlicher Seite den überkommenen Führungsansprüchen des Adels der Begriff der „Elite“ entgegengestellt, der im Kern auf allein meritokratische, nicht geburtsständische Vorstellungen von Führungslegitimation zielte. Denn anders als der Adel, der sich in der vormodernen Gesellschaft über Erblichkeit als Herrschaftsschicht rekrutierte und legitimierte, muss sich eine Elite in jeder Generation neu über nachweisbare Leistungen ausweisen, um sich an der gesellschaftlichen Spitze positionieren zu können.
Indessen fällt auf, dass die deutschen Auseinandersetzungen über die künftige Rolle gesellschaftlicher Führungsgruppen stark am Adelsvorbild orientiert blieben, nicht zuletzt auf Seiten beteiligter Bürgerlicher. Deren Vorhaben, erneuerte und leistungsfähigere Führungsgruppen in der nachständischen Gesellschaft zu schaffen, grenzte sich einerseits von altständischen Legitimationsvorstellungen und Lebensidealen adliger Führungsschichten ab; andererseits wurde die Entwicklung einer „konsequent alternativ zum Adel verstandenen „élite“ als „bürgerlichem Projekt“ vermieden. Vielmehr forderten zahlreiche Stimmen während des ganzen 19., ja noch bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts die Bildung eines „Neuen Adels“, einer „neuen Aristokratie“, die dem alten Adel die angestammte Rolle eines Elitenreservoirs zuerkannten, vorausgesetzt, dieser akzeptierte die neue bürgerliche Konkurrenz und deren Leistungskriterien. Mit anderen Worten: moderne Leistungs- und Verdienstkriterien bei der Elitenauswahl sollten mit den Prinzipien der Geburtsauslese ständischer Gesellschaften in Einklang gebracht werden. Denn noch lange wurde dem Adel teils freiwillig, teils unwillig eine Überlegenheit an Prestige, Alltagskultur (mit vorbildhaftem Sozialverhalten), Lebensklugheit und Herrschaftswissen zugestanden, auf die auch eine sich verbürgerlichende Gesellschaft nicht einfach verzichten zu können glaubte. Nicht zuletzt bürgerliche Intellektuelle und Künstler bewunderten am Adel dessen spezifische Lebensformen, die ein der künstlerischen und intellektuellen Persönlichkeit günstigeres (mäzenatisches) Klima versprachen, als das wirtschaftsbürgerliche „Schaffen und Raffen“. In der poetischen Romantik des frühen 19. Jahrhunderts kam diese Sehnsucht in einer künstlerisch äußerst fruchtbaren Symbiose bürgerlicher wie adliger Künstler und Autoren zu ihrem wirkungsvollsten Ausdruck.
Zugleich verband sich mit der Idee einer solchen Adelsreform die Hoffnung, die Dynamisierung aller sozialen und politischen Ordnungsbereiche der nachabsolutistischen, „entsicherten Ständegesellschaft“ bremsen und steuerbar machen zu können. Das grundlegende Motiv bildete die Revolutionsabwehr. Gesellschaftliche Stagnation und Rückständigkeit wie im Alten Reich sollten ebenso ausgeschlossen werden wie der radikale Traditionsbruch des revolutionierten Frankreich. Es galt, den seit der Französischen Revolution als zerstörerisch erkannten Elitenkonflikt zwischen Adel und Bürgertum zu entschärfen. Auf dieser Grundlage verhandelten Adelsreformvorschläge die Potentiale und Inhalte adlig-bürgerlicher Bündnisse. Welche Konzessionen der jeweiligen Seite waren denkbar? Wie weit durfte die Zurücknahme eigener Positionen gehen, und welche Reichweite sollten die erzielten Kompromisse haben?
Und das Phänomen „Adelsreform“ hatte als „Dritte-Weg“-Vorstellung alternativer Entwicklungsmöglichkeiten noch eine dritte, staats- und ordnungspolitische Dimension: zeitlich wie räumlich wurden Adelsreformideen in das Ideal einer übergreifenden politischen Ordnungsvorstellung eingebunden, die den absolutistisch-bürokratischen Zentralismus des 18. Jahrhunderts überwinden wollte, um doch niemals in der sich abzeichnenden Konstitutionalisierung unter demokratischem Vorzeichen zu enden. Diese ideal-imaginierte Ordnung wurde so zwischen überwundenem Absolutismus wie befürchtetem Konstitutionalismus verzeitlicht und zugleich räumlich assoziiert: zwischen Russland, dem zentralistisch-absolutistisch-bürokratischen Staat in despotischer Reinform im Osten, und dem post-ständisch konstitutionalisierten, schon teildemokratisierten Frankreich im Westen; oder, in den knapp sarkastischen Worten Otto v. Bismarcks von 1849: zwischen „wohltuendem Säbelregiment und Jakobinerherrschaft“.
Untersuchungsgebiet und Untersuchungszeitraum
Forderungen und Initiativen einer Adelsreform traten im gesamten Gebiet des Alten Reiches und des 1815 auf dem Wiener Kongress gegründeten Deutschen Bundes auf. Die vorliegende Untersuchung konzentriert sich jedoch auf Adelsreformdiskussionen, welche die Situation des Adels in Preußen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Ausgangs- und Bezugspunkt ihrer Überlegungen machten. Auch wenn anders als z.B. in Bayern eine staatlich-administrative Adelsreform in Preußen schließlich nicht umgesetzt wurde, gibt es für diese Wahl gute Gründe.
Nach den wiederholten militärischen Niederlagen gegen das napoleonische Frankreich, der Auflösung des Alten Reichs 1806, der Gründung des Rheinbundes und der preußischen Niederlage bei Jena und Auerstedt wurde in Preußen die veränderte Rolle des Adels in einer neuen Gesellschaft, bzw. die Rolle eines neuen Adels für die Gesellschaft diskutiert. Der schwer erschütterte historische Adel war auch nach der Niederwerfung Napoleons 1814/15, darin waren sich die maßgeblichen politischen Kräfte einig, in seinen altständischen Formen nicht mehr zu konservieren oder gar zu restaurieren. Aber der Adel als soziale Erscheinung wie als Korporation sollte sich auch nicht einfach in der verbürgerlichenden Gesellschaft auflösen. Dies wurde in Preußen selbst von der Mehrheit der liberalen Wegbereiter der nachständischen Gesellschaft anerkannt. Vielmehr wurde ihm noch einmal das Angebot gemacht, als Teil einer Elitenressource in der beabsichtigten Staatsreform berücksichtigt zu werden. Staatsreform verband sich deshalb in Preußen in enger Weise mit der Idee einer Adelsreform. So finden sich in Preußen Initiativen, Forderungen und Beiträge zu Fragen einer Adelsreform seit den Reformen ab 1806 bis in die Zeit des Vormärz, über die Zäsur der Revolution von 1848 hinweg bis in die Restaurationsepoche, und selbst noch im zweiten Deutschen Kaiserreich.
Die dichteste und konsequenteste Diskussion um eine Adelsreform wurde aufgrund der persönlichen Initiative König Friedrich Wilhelms IV. allerdings in den 1840er Jahren geführt. Doch wäre es irreführend, die Ursachen dafür allein in einer persönlichen Marotte dieses Monarchen zu sehen, wie es die bisherige Forschung überwiegend tat. Vielmehr griffen die darin anklingenden Motive und Lösungsvorschläge die Diskussionen der Reformepoche wieder auf und verweisen so auf langfristige sozialkulturelle und verfassungspolitische Problemlagen im Preußen zwischen Reform und Revolution.
Denn jenseits der situativen, taktischen und personalen Motive der jeweils Handelnden schienen die preußischen Rahmenbedingungen das Bedürfnis zur Bildung neuer überregionaler Eliten in besonderen Maße hervorzurufen: im Verband der „preußischen Staaten“, welcher wie die habsburgische Monarchie Gebiete innerhalb und außerhalb des Alten Reiches, bzw. des späteren Deutschen Bundes umfasste, stießen äußerst unterschiedliche Adelsformationen aufeinander. Eine gesamtstaatlich orientierte Elitenpolitik, die in gleichen Maßen auf diese unterschiedlichen Adelslandschaften als Elitenreservoir zurückgreifen wollte, kam nicht umhin, eine Homogenisierung und Synchronisierung dieser unterschiedlichen Adelsstrukturen anzustreben – woraus sich fast zwingend ein erstes Motiv für einen staatlichen Eingriff in die historisch überkommenen Adelsverhältnisse Preußens, also eine Adelsreform, ergab.
Entsubstanzialisierung und Metaphorisierung des Adelsbegriffs
Paradoxerweise, so die über den eigentlichen Zeithorizont dieser Untersuchung hinausweisende These der Arbeit, bereiteten die wiederholten Auseinandersetzungen um einen erneuerten Adel den Boden für eine Radikalisierung adliger Identität in der Eigen- wie Fremdzuschreibung: ursprünglich als ausgleichende, antizipatorische Lösungsstrategie latenter Elitenkonflikte entworfen, werden die in Preußen-Deutschland der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gehäuft auftretenden Adelsreformideen als Bestandteile einer ideengeschichtlichen Antezedenz verstanden, welche allerdings erst Jahrzehnte später in einer spezifischen, völkisch konnotierten Radikalisierung des Adelsbegriffs ihre volle Wirkung entfalten sollte. Denn Adelsreformideen sind nicht nur als Folge einer fortgeschrittenen „Entsubstanzialisierung“ der adligen Lebenswelt in der nachständischen Gesellschaft zu verstehen, sondern sie forcierten und strukturierten ihrerseits diese „Entsubstanzialisierung“. Denn durch ihren utilitaristischen gesellschaftspolitischen Ansatz nahmen sie eine Selektion, Zuspitzung und Abstrahierung adliger Selbstzuschreibungen und Leistungsmerkmale vor, und lösten diese latent von der Lebenswirklichkeit der konkreten Sozialformation „Adel“ ab – objektivierbare Zugehörigkeitskriterien machten Platz, oder wurden gar nicht erst entwickelt zugunsten von „semantisierten“ und „metaphorisierten“ Zuschreibungen. In dieser diskursiv vorbereiteten und „popularisierten“ Semantisierung und Metaphorisierung „adelsgemäßer“ Verhaltens- und Zugehörigkeitskriterien im Prozess der fortschreitenden rechtspolitischen und materiellen Erosion des Adels darf der womöglich entscheidende Grund gesehen werden, warum es um 1900 dem zunehmend ökonomisch wie sozial marginalisierten preußischen Kleinadel der östlichen Provinzen gelingen konnte, eine Deutungshoheit über standeskonforme Verhaltensmaßstäbe, Haltungen und Werte zu erringen, und diese auch gegenüber materiell und gesellschaftlich besser gestellten Standesgenossen zu behaupten. Nicht zufällig verweisen die älteren Adelsreformideen mit ihrer Mischung und teleologischen Deutung von reformerischen, auf Veränderung abzielenden, und konservierend traditionalen Anliegen schon auffällig auf Denkmuster der deutschen Sonderwegsideologie und neurechter Strömungen um 1900. Ihren tragischen Höhe- und Endpunkt erreichte die Idee eines „Neuen Adels“ bekanntlich erst in den ominösen nationalsozialistischen Konzepten eines „Neuadel aus Blut und Boden“.
Diese wesentlich späteren Entwicklungen bleiben aber außerhalb des in dieser Arbeit betrachteten Zeithorizonts, der mit der Etablierung des preußischen Herrenhauses in der Mitte des 19. Jahrhunderts enden soll. Im Unterschied zu diesen späteren Entwicklungen sind Adelsreformprogramme in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch immer als Teil eines rationalen Diskurses anzusehen, der noch keineswegs in den „Metaphern“ und dem „wolkig-Ungefähren“ der Neuadelsideen um 1900 aufging. Bei aller partieller Phantasterei konnten diese älteren Ideen eines „Neuen Adels“ auf funktionstüchtige Monarchien hoffen, die den Adel zu stützen bereit und fähig waren, und darauf, dass der Adel noch immer stark im großen Grundbesitz verankert war. Die noch wirksamen rechtlichen Restbestände der altständischen Zeit und die relative Erinnerungsnähe zum ancien régime ließen zudem praktische Vergleiche und historische Bezüge aus eigener Erfahrung und Anschauung der Akteure und Diskutanten zu, und gaben dem Glauben an die Umsetzbarkeit eines solchen Vorhabens zumindest bis 1848 einen realen Gehalt.