Schlafende Nutzerinnen und Nutzer
Eine Ruhepause kann dem, der in einer Bibliothek gelesen und geistig gearbeitet hat, neues Konzentrationsvermögen oder Kreativitätsschübe bescheren. Solange ein Nutzer nicht laut schnarcht oder es sich zu gemütlich macht, ist dagegen wohl nichts zu sagen. Jedem können mal die Augen zufallen. Wer allerdings zum Schlafen in die Bibliothek kommt oder dort über einen längeren Zeitraum schläft, der ist eher fehl am Platz. Wecken Sie den Nutzer, aber fassen Sie ihn dabei keinesfalls an. Wer geweckt wird, braucht meist einen Moment, bis er wieder orientiert ist. Wenn Sie einen schlafenden Menschen wachrütteln, kann das zu unliebsamen, aggressiven Reaktionen führen. Es ist besser, den Schlafenden mit ruhiger Stimme anzusprechen. Will er nicht aufwachen, so heben Sie zur Not Ihre Stimme und werden Sie lauter. Vielleicht lassen Sie auch einen geeigneten Gegenstand in seiner Nähe fallen, der nicht zu viel Lärm verursacht – oder besser noch: Klopfen Sie auf den Tisch oder rücken Sie den Tisch leicht, falls er seinen Kopf darauf abgelegt hat. Ist der Nutzer erwacht, so sprechen Sie leise mit ihm und geben Sie sich sogleich als Bibliotheksmitarbeiter zu erkennen. Fragen Sie als Gesprächseröffnung: „Geht es Ihnen nicht gut?“
Sollte der Nutzer partout nicht aufwachen, und Sie können sicher sein, dass er wirklich schläft, so rufen Sie ohne Hemmungen die Polizei. Bestehen Zweifel, ob er „nur“ schläft, so könnte auch ein medizinischer Notfall vorliegen und ein Rettungswagen vonnöten sein. Ihr Ersthelfer wird wissen, was zu tun ist.
Ist der Nutzer aufgewacht, so sehen Sie nach einiger Zeit noch einmal nach ihm. Sollte er erneut eingeschlafen sein, so fordern Sie ihn unmissverständlich auf, die Bibliothek zu verlassen.
Als in der Bibliothek schlafende Nutzer fallen des Öfteren wohnungs- oder obdachlose Menschen auf, die ihre Aufenthaltsorte nach den Handlungsmöglichkeiten aussuchen, die sich ihnen bieten. Bibliotheken sind warm, trocken, eignen sich theoretisch zum Ruhen und stellen zudem Medien zur Nutzung bereit. Viele obdachlose Menschen genießen die Atmosphäre und auch das Lesen in der Bibliothek. Autoren aus der Erwerbslosenbewegung empfehlen Bibliotheken ausdrücklich als Aufenthaltsorte, um im Winter eigene Strom- und Heizungskosten zu sparen.
Vergegenwärtigen Sie sich, dass obdachlose Menschen eine besondere Nutzergruppe darstellen: Ihr Leben ist hart, sie sterben deutlich früher als der Durchschnittsbürger, sie haben kaum Privat- und Intimsphäre. Obdachlose Menschen sind psychisch wehrloser als „normale“ Menschen. Gewalt zählt zu ihren Alltagserfahrungen. Auch in Deutschland sterben jeden Winter nicht wenige obdachlose Menschen den Kältetod. Obdachlose Menschen sind unterm Strich besonders schutz- und wehrlos.
Die American Library Association hat bereits 1986 ein Programm über den Umgang mit obdachlosen Menschen vorgelegt. In den USA richten Bibliotheken bisweilen spezielle Räume für sie ein. Aber auch hier sind sie dann wieder von der Gesellschaft ausgeschlossen. Nahezu jeder zweite männliche Obdachlose habe einen schweren Hirnschaden, verursacht von Gewalt in der Kindheit, Verbrechen oder Unfällen, berichtet Windmann. Im selben Spiegel-Artikel stellt sie die Zustände in der Zentralbibliothek von San Francisco dar. Von den täglich 5000 Nutzern ist eine gehörige Anzahl obdachlos: „In einer der reichsten Städte der Welt treffen sich die Ärmsten, die Abgehängten des digitalen Kapitalismus ausgerechnet in einer Bibliothek, in einem Museum der toten Bücher“, meint sie Ironie auszumachen. Der Ansturm liege daran, dass es in der Stadt verboten sei, zwischen 7 und 23 Uhr auf der Straße zu sitzen oder zu liegen. Das Sicherheitspersonal der Bibliothek sei sogar ausgestattet mit Handfesseln und Elektroschockern. „Probleme aber machen nur die Neuen, denen die Regeln noch fremd sind“, räumt ein Mitarbeiter ein. „Vor Kurzem hat die Bibliothek ihre Besucherregeln verschärft. Shirts und Schuhe sind Pflicht, Einkaufswagen, Drogenhandel und Schlafen verboten, Sex auch. Und: Besucher und Mitarbeiter dürfen nicht angestarrt werden.“ Um die Konflikte etwas abzufedern, wurden gar eine Therapeutin sowie vier Sozialarbeiter angestellt.
Allerdings ist das soziale Netz in den USA auch nicht mit unserem zu vergleichen. Verlieren Sie also nicht aus dem Blick, dass es in der Bundesrepublik abgestufte Hilfesysteme für wohnungs- und obdachlose Menschen gibt. Um nicht tatenlos zu sein, könnten Sie in Erfahrung bringen, welche niederschwelligen Beratungsangebote und ambulanten Dienste es für obdachlose Menschen in der Nähe Ihrer Bibliothek gibt, wo Suppenküchen, Kleiderkammern oder Schlafstätten sind.
Schneider geht mit hohem Anspruch an das Thema Obdachlose und Bibliotheken heran: „Grundsätzlich hat die Bibliothek die Möglichkeit, Obdachlose wieder mit anderen Mitgliedern der Gesellschaft (‚Normalbürgern‘) zusammenzubringen und ihnen in Zusammenarbeit mit kompetenten Partnern zu helfen, in ein normales und geregeltes Leben zurückzufinden.“ Sie kommt aber auch zu dem Schluss: „Eine Bibliothek kann es sich im Allgemeinen nicht leisten, besondere Projekte und Programme für Randgruppen zu entwickeln und anzubieten, wenn sie dadurch den Großteil ihrer anderen Benutzer verliert.“
Übel riechende Nutzerinnen und Nutzer
„Sie haben heute einen starken Körpergeruch, was bringen Sie damit zum Ausdruck? “ mag ein Therapeut fragen, – der Bibliothekar indes nicht. Der Grund hat ihn nicht zu interessieren, die andauernde Belästigung für die übrigen Nutzer sehr wohl.
Ebberfeld hat sich in ihren Forschungen intensiv mit Gerüchen befasst und bringt es auf den Punkt: „Gerüche sind wie kein anderes Mittel geeignet, uns ad hoc ins Mark unserer Gefühle zu treffen. Ohne Vorwarnung können Düfte Verlangen oder Aversionen auslösen, abschrecken oder uns in längst vergangene Zeiten versetzen … Ferner sind wir Gerüchen hilflos ausgeliefert, weil wir atmen müssen.“
Mitunter riechen Bibliotheksnutzer derart übel, dass sich Mitarbeiterinnen spontan übergeben müssen. So etwas passiert leider. Menschen können einen Geruch verströmen, der anderen buchstäblich Tränen in die Augen treibt und einen Würgereiz auslöst.
Das Hygieneempfinden ist unter den Menschen unterschiedlich ausgeprägt und wird von bestimmten Faktoren beeinflusst. Um dies zu verdeutlichen, zwei Beispiele: In Deutschland benutzen 90 % der Frauen, jedoch nur 60 % der Männer ein Deodorant. Nach dem Toilettengang waschen sich 90 % der Frauen, jedoch nur 60 % der Männer die Hände. Die Prozentzahlen sind identisch, – ob es sich jedoch um jeweils dieselben Personen handelt, ist unbekannt.
Ein besonderer, weil schwer zu fassender Konfliktfall stellt sich ein, wenn ein Nutzer übel riecht. Denn was bedeutet „übel riechen“? Bis auf welche Distanz muss der üble Geruch wahrnehmbar sein, um einen Nutzer zum Gehen aufzufordern? Was ist mit stark nach Knoblauch oder Zigarettenrauch riechenden Nutzern, was mit sehr stark parfümierten?
Wenn Sie sich zum Handeln gezwungen sehen, nehmen Sie ruhig Ihr eigenes Empfinden als Maßstab. Falls Sie in der Lage sind, sich zusätzlich mit einem Kollegen zu beraten, so nutzen Sie diese Möglichkeit. Denn dann können Sie sicher sein, dass Ihre Nase momentan nicht überempfindlich ist. Jedenfalls ist der ordnungsgemäße Betrieb der Bibliothek ganz eindeutig gestört, falls sich ein anderer Nutzer beschwert. In diesem Fall sollte ein Einschreiten erlaubt sein, um zu verhindern, dass die Geruchsbelästigung andere Nutzer aus der Bibliothek treibt und diese somit in ihrer Freiheit einschränkt. Daneben fällt ins Gewicht, dass Bibliotheksmitarbeiter die Bibliothek nicht ohne Weiteres verlassen können, wenn sie einer Geruchsbelästigung ausgesetzt sind. Außerdem ist ein Verdacht anderer Nutzer nicht angenehm, der aufkommen könnte: Es riecht so übel in der Bibliothek, weil ein Bibliotheksmitarbeiter nachlässig mit der Hygiene umgeht. Der betroffene Nutzer geht, sein Geruch bleibt.
Wie können Sie vorgehen? Am besten nimmt sich eine Kollegin des Problems an, wenn eine Nutzerin betroffen ist, und ein Kollege macht sich auf den Weg, wenn ein Nutzer betroffen ist.
Bleiben Sie wie stets höflich, aber sprechen Sie das Problem unumwunden an: „Verzeihen Sie, gerade hat sich ein anderer Nutzer bei uns beschwert. Er hat beklagt, dass Sie einen strengen Geruch verströmen. Sie sind uns wieder willkommen, wenn sich das geändert hat. Jetzt muss ich Sie jedoch auffordern, die Bibliothek zu verlassen!“ Sie sprechen also einen Hausverweis aus, weil Ihnen der ordnungsgemäße Betrieb der Bibliothek gestört scheint.
Wenn Sie einleiten mit: „Was ich Ihnen jetzt sagen muss, fällt mir sehr schwer …“, werden Sie merken, dass Ihnen die dann folgende Aussage viel leichter von der Zunge geht. Ist die Angst erst einmal ausgesprochen, ist sie nur noch halb so groß. Außerdem gibt es dann kein Zurück mehr.
Wenn wohnungslose Menschen Unterkünfte in Anspruch nehmen, so bestehen viele Träger als Erstes darauf, dass sich die Gäste waschen. Viele psychisch kranke Menschen werden wohnungslos, und viele obdachlose Menschen werden psychisch krank. Unter großen seelischen Qualen schaltet das menschliche Hirn sozusagen auf ein Notprogramm. Das „Phänomen der schlechten Pflege in Krankheits- oder Trauerphasen wurde schon überall auf der Welt von Anthropologen, Sozialarbeitern und Gesundheitsdiensten festgestellt. Wenn wir betrübt oder krank sind, werden Körperpflege und äußeres Erscheinungsbild schnell vernachlässigt … Wenn jemand wirklich krank oder traumatisiert ist, setzt das Gehirn bestimmte Prioritäten, zu denen Körperpflege nicht gehört.“
Nicht immer, aber manchmal handelt es sich bei ungepflegten Personen um obdachlose Menschen. Bringen Sie deshalb für solche Vorkommnisse schon im Vorfeld in Erfahrung, wo Waschgelegenheiten in Ihrer Stadt bzw. in Ihrem Kreis angeboten werden, wo es Kleiderkammern gibt und zeigen Sie ggf. diese Möglichkeit freundlich auf.
Sie können kaum verlieren, wenn Sie sich ein Herz fassen und gegen übel riechende Nutzer vorgehen. Was soll geschehen? Wenn der Nutzer beleidigt die Bibliothek verlässt und nie wiederkommt, haben Sie Ihrer Bibliothek einen Dienst erwiesen. Wenn der Nutzer einsichtig ist und nur noch gepflegt erscheint, haben Sie Ihrer Bibliothek ebenfalls einen Dienst erwiesen. Das kommt gar nicht selten vor! „Unsere Nase funktioniert anders als Auge oder Zunge: Man gewöhnt sich an Gerüche und nimmt sie irgendwann nicht mehr wahr.“ Betroffenen fällt eine Geruchsbeeinträchtigung selbst also nicht unbedingt auf. Wenn sich der Nutzer an höherer Stelle wegen Ihrer „Unverschämtheit“ beschwert, können Sie wohl darauf vertrauen, dass auch andere Nasen den Vorfall einzuschätzen wissen.
Gleich zwei niederländische Universitäten versuchten gegen einen Philosophiestudenten vorzugehen, der nicht nur stark unter Schweißfüßen litt, sondern dagegen auch nichts unternahm und sich zudem regelmäßig seines Schuhwerks entledigte. Das Problem zog sich über viele Jahre und mündete in Anklagen wegen Hausfriedensbruchs. Aufgrund dessen brachte der Student auch keine entliehenen Bücher zurück. Kennen Sie die Redewendung: „Vor Gericht und auf hoher See ist man in Gottes Hand“? Der zuständige Richter ermöglichte es dem Studenten, an die Universität zurückzukehren, ohne, dass er sein Verhalten hat ändern müssen. Dies ist jedoch nur ein Beispiel, und es sollte Sie nicht davon abhalten, gegen dauerhaft übel riechende Nutzer vorzugehen.
Behalten Sie bitte im Blick, dass es auch gesundheitliche Gründe geben kann, dass Menschen übel riechen. Nur ein paar Beispiele: Es gibt eine Stoffwechselerkrankung namens Trimethylaminurie, die dazu führt, dass Menschen den Geruch alten Fischs verströmen und nichts dagegen machen können. Nicht selten führt dies zum Suizid der Betroffenen. Aber auch Harnvergiftung (Urämie), Krankheiten der Schweißdrüsen (z. B. Bromhidrose), Angststörungen oder Insulinmangel bringen eine Geruchsentwicklung mit sich.
In einer wissenschaftlichen Bibliothek in Osthessen sorgte eine Nutzerin für Aufregung. Weil es dort technisch möglich war, lieh sie wahllos 1000 Medien aus, darunter mehrmals dieselben Mehrfachexemplare. Wie sich später herausstellte, war sie am sogenannten Messie-Syndrom erkrankt. Die entliehenen Medien nahmen in der verwahrlosten Wohnung der Frau Schaden. Nach langem Hin und Her konnte nur ein Drittel wieder in den Bestand übernommen, der Rest musste makuliert werden.
Gerade auch, weil Medien mitunter in erbärmlichem Zustand in die Bibliothek zurückkehren, sollten an jeder Theke Einweghandschuhe und Desinfektionsmittel parat sein. Wenn Sie Medien zurückerhalten, die ihrerseits übel riechen, so hilft es, diese vorübergehend und weitestgehend „frei schwebend“ in einen leeren Waschpulverkarton zu legen. Ebenso kann Ihnen gemahlener Kaffee helfen. Textilerfrischer oder auch Katzenstreu dienen dort, wo z. B. Polster verschmutzt wurden.
Auffällige Jugendgruppen, auffällige Kinder
„So hat die Bibliothekarin oder der Bibliothekar keinen leichten Stand. Selbständig,
selbstbewußt, frühreif tritt ihnen die Großstadtjugend – wenigstens in ihren typischen
Erscheinungen – am Schalter der Bücherei gegenüber.“
Helene Nathan (1929)
„Ich bin dann froh, dann sind sie raus, und dann kommt auch bald der Sommer.“
“Kids are kids and I don’t care if the 14 year old kid is 6 ft. tall, he is still 14 and is thinking
like a kid.”
Schon das Lehrbuch kündet von den „gravierenden Problemen“, die jugendliche Nutzerinnen und Nutzer in eine Bibliothek tragen können.
Im Jahr 1980 konstatierte Reich noch: „Oft genügt schon ein Blick“, um auffällige Jugendliche in der Bibliothek zur Räson zu rufen, und Kormann weiß im selben Jahrzehnt aus Düsseldorf zu berichten: Einer „Jugendbibliothekarin wurde eine Spinne auf den Kopf gesetzt“. Der Bibliotheksmitarbeiter schreibt aber auch schon von Schusswaffen, die in der Jugendbibliothek zum Einsatz kamen.
Und heute? „Die Jugendlichen werden doch immer schlimmer!“, höre ich in vielen Seminaren in öffentlichen Bibliotheken. Schümann pointiert hierzu: „Jugend-Bashing gibt es, seit es Jugend gibt. Jugend ist aus Sicht der Alten immer irgendwie aufsässig, renitent, tut dies, unterlässt jenes, ist respektlos, rebellisch, faul, arbeitsscheu und lu...