1 Verhöre im Camp Ashcan in Bad Mondorf (Luxemburg)
Am 30. Juni 1945 übergab Lawrenti Berija148, Volkskommissar für Innere Angelegenheiten, einen Bericht des Kommissars der Staatssicherheit Iwan Serow149 über die Verhöre von Göring150, Dönitz151, Keitel152 und anderen deutschen Generalen, die sich bei den Westalliierten befanden, an Josef Stalin153, Vorsitzender des GKO154, Staatliches Komitee für Verteidigung, und den Vorsitzenden des Rats der Volkskommissare der UdSSR, Wjatscheslaw Molotow155.
1.1 Mitteilung des Bevollmächtigten des NKWD156 der UdSSR bei der 1. Belorussischen Front über die Verhöre der deutschen Generale, die sich bei den Alliierten befinden, Berlin, 25. Juni 1945
An den Volkskommissar für Innere Angelegenheiten der UdSSR, Genosse Berija, L. P.
Während des Besuches von Genosse Schukow157 in Eisenhowers158 Stab159 anlässlich der Überreichung der Orden des Sieges160 erhielt Genosse Oberst der Staatssicherheit Korotkow161 im Gespräch mit dem Abwehrchef in Eisenhowers Stab, Generalleutnant der britischen Armee Strong162, gemäß unseres Auftrages das Einverständnis, einige Kriegsgefangene der deutschen Armee zu verhören.
In diesem Zusammenhang wurde uns am 16. Juni 1945 eine Gruppe von Offizieren zur Fahrt in Eisenhowers Stab zugeteilt. Diese Gruppe führte Oberst der Staatssicherheit Potaschew163 (Leiter der Untersuchungsabteilung der Transportverwaltung des NKGB164 der UdSSR), Oberst Smyslow165 (Abwehrabteilung des Front-Stabs), Hauptmann Besymenskij166 (Frontstab), Oberst der Marine Frumkin167 und als Übersetzerin Majorin der Staatssicherheit Frenkina168.
Dieser Gruppe von Offizieren war eine mit der Unterschrift des Chefs [des Stabes] der Front – Genosse Malinin169 – versehene, an die Adresse von Eisenhowers Stabschef, Generalleutnant Smith170, gerichtete Notiz mitgegeben worden. In ihr war ausgeführt, dass sie auf Grund der Absprachen mit General Strong gekommen sind, um Kriegsgefangene der deutschen Armee zu verhören.
Oberst der Staatssicherheit Genosse Potaschew hatte die Aufgabe, Keitel, Göring und andere über von den Deutschen für den Kampf gegen die Rote Armee gebildete Untergrundorganisationen, die sie auf unserem Territorium zurückgelassen hatten, zu befragen. Er sollte auch den Aufenthaltsort der Organisatoren herausfinden. Weiterhin sollte er Personen aus der deutschen Armee und den Straforganen ermitteln, die persönlich die Anwerbung und Einschleusung von Agenten in die Sowjetunion betrieben haben und wo sich diese Personen derzeit aufhalten. Den Offizieren des Frontstabs war aufgetragen worden, eine Reihe von militärischen Fragen zu klären.
Nach seiner Ankunft in Frankfurt am Main171 wurde Genosse Potaschew von Eisenhowers Stabschef, Generalleutnant Smith, empfangen. Er teilte ihm nach einem kurzen Gespräch mit, dass Strong nicht dazu bevollmächtigt war, solche prinzipiellen Fragen zu entscheiden, und auch nicht das Recht hatte, sein Einverständnis zum Verhör der Kriegsgefangenen zu erteilen. Außerdem bemerkte Smith, dass sich Moskau sehr oft über unabsichtliche Überflüge anglo-amerikanischer Flugzeuge über die Grenzen beschwert und auch wegen einiger Armeeangehöriger der alliierten Truppen auf dem Territorium, das von sowjetischen Streitkräften kontrolliert wird.
Nebenbei interessierte sich Smith auch dafür, welche Reiseroute unsere Gruppe von Offizieren nimmt, und wo die Überprüfung der Dokumente durch die amerikanischen Posten stattfindet. Danach rief General Smith bei General Strong an und sprach mit ihm mit erhobener Stimme. Wie aus dem Gespräch zwischen Smith und Strong hervorging, rechtfertigte sich der Letztere damit, dass er keinesfalls sein Einverständnis zum Verhör der deutschen Kriegsgefangenen durch russische Offiziere erteilt habe. Er habe lediglich gesagt, dass man Verhandlungen über die Möglichkeit von Verhören auf der Basis des gegenseitigen Austausches dieser Verhöre [d. h. der Verhörprotokolle] führen kann. Nach dem Gespräch mit Strong erklärte Smith, dass für die Offiziere des Marschalls Schukow alles erlaubt ist, und er deshalb Strong eine entsprechende Anweisung erteilen wird.
Am nächsten Tag war Genosse Potaschew mit den Offizieren bei General Strong, der sich sofort erregte und erklärte, dass er sich gerade mit Oberst Korotkow über die Wünsche hinsichtlich der Organisation der Verhöre ausgetauscht habe, aber nicht über die zur Durchführung der Verhöre eintreffenden sowjetischen Offiziere. Dadurch, dass die sowjetischen Offiziere bereits eingetroffen waren, legte er eine Liste mit [den Namen von insgesamt] zehn deutschen Kriegsgefangenen vor, die sie befragen könnten. Dabei fragte er, ob er darauf zählen könne, dass Schukows Stab seinen Offizieren erlauben würde, Verhöre mit Kriegsgefangenen durchzuführen, die für sie [die Amerikaner, Anm. d. Ü.] interessant sind und sich bei uns befinden.
Genosse Potaschew antwortete, dass man diese Frage mit Marschall Schukow klären müsse. Am Ende des Gesprächs äußerte Potaschew gegenüber Strong den Wunsch, auch Ribbentrop172 verhören zu dürfen, der am Vorabend von den Alliierten gefangen genommen worden war. Diese Bitte schlug Strong kategorisch ab, indem er erklärte, dass es sich bei Ribbentrop nicht um einen Militär handele173, und er nur bevollmächtigt sei, die Zustimmung zum Verhör von Kriegsgefangenen zu erteilen. Dabei fügte Strong noch hinzu, dass Ribbentrop erst in zwei bis drei Tagen nach Luxemburg überstellt werde. Faktisch gesehen befand sich Ribbentrop bereits in dem Lager, in dem sich die Deutschen aufhielten und traf dort mit anderen Gefangenen, darunter Göring und Keitel, zusammen. Göring und Keitel sagten das Potaschew während des Verhörs. Strong versuchte, auch die Bitte von Genosse Potaschew, der Göring verhören wollte, abzulehnen, indem er erklärte, dass es sich bei Göring auch nicht um einen Militär handele.
Nach der Klärung aller Fragen stellte Strong folgende Bedingungen für unsere Offiziere: Die Arbeit sollte nach zwei Tagen (48 Stunden) beendet sein, es dürften keine Informationen, die sie von den Kriegsgefangenen erhalten, publiziert werden. Die Kopien aller Protokolle sollten ihm übergeben werden. An den Verhören nehmen zwingend amerikanische Offiziere teil, die sie durch alle [von den Amerikaner und Briten] besetzten Gebiete begleiten.
Danach fuhr Genosse Potaschew in Begleitung des Majors der amerikanischen Armee McKasski174 und Leutnant Bertolius175 nach Luxemburg (an der Grenze zwischen Frankreich und Belgien), wo sich die deutschen Kriegsgefangenen aufhielten. Es stellte sich heraus, dass die Gefangenen, die Mitglieder der deutschen Regierung und Militärführer Deutschlands gewesen waren, sich in Mondorf (15 km von Luxemburg entfernt), einem der besten Kurorte, aufhielten. Sie lebten in einem hervorragend ausgestatteten vierstöckigen Gebäude. Die Fenster waren nur mit schwachen Gittern versehen. In diesem Gebäude hat jeder Gefangene sein eigenes Zimmer mit einem guten Bett und anderen Annehmlichkeiten des Alltags. Die Isolation des einen vom anderen ist nur bedingt gegeben, denn im Laufe des Tages haben sie mehrmals die Möglichkeit, einander zum Essen zu treffen, aber auch während einer Schachpartie oder anderer Spiele. Keine der verhörten Personen macht den Eindruck eines Gefangenen, der bereit ist, für seine Verbrechen Verantwortung zu tragen. Sie sehen alle gut aus und sind gebräunt wie Kurgäste. Alle sind in vollständiger Uniform gekleidet, mit Dienstgradabzeichen und dem Hakenkreuz. Es herrscht im Grunde keine Isolation. Es besteht die Möglichkeit, sich mit allen über alle Fragen auszutauschen, natürlich auch hinsichtlich der Aussagen [in den Verhören].
Wie Genosse Potaschew mitteilt, haben die Wachen und Gitter rein dekorativen Charakter, als dass sie eine Möglichkeit darstellen, eine Flucht zu verhindern. Nachts werden die Zimmer überhaupt nicht beleuchtet, so dass eine ständige Beobachtung dessen, was dort vor sich geht, nicht stattfindet. Für die Verhöre bat Potaschew darum, die Gefangenen voneinander zu isolieren.
Auf Grund der Forderung Strongs, ihm die Kopien der Verhörprotokolle auszuhändigen, entschied Genosse Potaschew, keine offiziellen Protokolle anzufertigen, sondern sich auf Vermerke zu besonders beachtenswerten Aussagen zu beschränken.
Im Endergebnis des achttägigen Aufenthalts von Genosse Potaschew in Luxemburg wurden folgende Personen verhört, die Strong vorgeschlagen hatte:
1. | Göring, Hermann, Reichsmarschall, Reichsminister, Reichsluftfahrtminister in der Hitlerregierung. |
2. | Dönitz, Karl, Großadmiral der Kriegsmarine. Durch testamentarische Verfügung Hitlers Regierungsoberhaupt Deutschlands. |
3. | Keitel, Wilhelm, Generalfeldmarschall, ehemaliger Chef des Oberkommandos der Wehrmacht. |
4. | Jodl, Alfred, Generaloberst, ehemaliger Chef des Heeres176, war Hitler direkt unterstellt. |
5. | Warlimont, Walter, General der Artillerie177, ehemaliger Stellvertreter des Chefs des Generalstabs des Heeres178, seit dem 20. Juli 1944 nicht mehr im Dienst, da er beim Attentat auf Hitler verletzt worden war. |
6. | Kesselring, Albert, Generalfeldmarschall, vorher Kommandeur der deutschen Truppen in Afrika179, in den letzten Tagen der Hitlerregierung wurde er zum Kommandeur der Südwestfront ernannt. |
7. | Lindemann, Georg, Generaloberst180, ehemaliger Kommandeur einer deutschen Armee bei Leningrad. |
8. | Blaskowitz, Johannes, Generaloberst, ehemaliger Befehlshaber der Besatzungstruppen in Dänemark181. |
9. | Bötticher, Friedrich, Generalleutnant182, vor dem Krieg war er Militärattaché in Amerika, wurde dann zum General berufen für Aufträge unter Keitel. |
10. | Bürkner, Leopold, Vizeadmiral183, ehemaliger Leiter der Informationsabteilung im Stab von Jodl. |
Uns wurden außerdem, nach Absprache mit dem Leiter des Lagers, Oberst Andrus184, der Konteradmiral Wagner, Gerhard185, Admiral für besondere Aufträge unter Dönitz sowie Neurath, Walter186, der Korvettenkapitän und ehemaliger persönlicher Adjutant von Dönitz war, vorgeführt, um die Aussagen von Dönitz zu präzisieren.
Die Bedingungen für die Untersuchung waren allerdings so, dass von den Arrestanten keine ernsthaften Bekenntnisse zu erwarten waren. Die ständige Anwesenheit anglo-amerikanis...