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Teil I: Fetale Alkoholspektrumstörungen (FASD) – eine Herausforderung für die Betroffenen und für die Versorgungssysteme
Klaus Hennicke, Michael Klein, Gela Becker
1 Gesundheitliche Versorgung von Menschen mit Fetalen Alkoholspektrumstörungen (FASD)
1.1 Zur Komplexität des Problems FASD
Mütterlicher Alkoholkonsum während der Schwangerschaft führt häufig zu Schäden beim ungeborenen Kind. Intrauterine Alkoholexposition kann Auffälligkeiten des Wachstums, cranio-faciale, cardiale, renale, ossäre und okuläre Malformationen, Störungen der Entwicklung, der Kognition und des Verhaltens sowie Einschränkungen in Teilleistungen und somit globale Einschränkungen im Alltag bewirken. Schädigungen, die durch intrauterine Alkoholexposition hervorgerufen werden, werden unter dem Oberbegriff Fetale Alkoholspektrumstörungen (FASD, engl.fetal alcohol spectrum disorders) zusammengefasst (S3-Leitlinie: Diagnostik des Fetalen Alkoholsyndroms, 2013). Zu den Fetalen Alkoholspektrumstörungen gehören das Vollbild Fetales Alkoholsyndrom (FAS, engl.fetal alcohol syndrome), das Partielle Fetale Alkoholsyndrom (pFAS, engl.partial fetal alcohol syndrome), die Alkohol-bedingte Entwicklungsneurologische Störung (ARND, engl.alcohol related neurodevelopmental disorder) und die Alkohol-bedingten Geburtsdefekte (ARBD, engl. alcohol related birth defects).
Aus aufsuchenden Studien an italienischen Schulen wurde abgeleitet, dass circa 4 pro 1.000 Kinder das Vollbild eines Fetalen Alkoholsyndroms (FAS) und 19 pro 1.000 Kinder eine andere alkoholbedingte Spektrum-Störung (FASD außer FAS) aufweisen (May et al. 2006 und 2010). Auf Deutschland bezogen würde das bedeuten, dass ca. 1.500.000 Menschen von dieser Störung betroffenen sind. Somit wäre fetale Alkoholexposition eine der häufigsten Ursachen für angeborene Erkrankungen (vgl. Landgraf et al., 2013). Die Bundesdrogenbeauftragte, Frau Marlene Mortler, MdB, geht für Deutschland daher aufgrund der hohen Dunkelziffer von ca. 10.000 Neugeborenen jährlich aus, die während der Schwangerschaft Alkohol mit schädigenden Folgen ausgesetzt werden.
Nur ein kleiner Teil der exponierten Kinder entwickelt das Vollbild des Fetalen Alkoholsyndroms, die allermeisten Kinder zeigen diskretere äußerliche, neuropsy-chologische und kognitive Beeinträchtigungen. Dieser Sachverhalt ist von erheblicher Bedeutung, da diese Symptome schwerer zu erkennen sind und daher seltener korrekt diagnostiziert werden.
Zunächst wird wahrscheinlich bei einer Vielzahl der Kinder und Erwachsenen aufgrund der unsicheren Symptomatik das Störungsbild nicht erkannt und daher in der weiteren Versorgung nicht berücksichtigt, d. h. sie können von den durchaus vorhandenen und teilweise auch angebotenen pädagogischen und therapeutischen Angeboten aufgrund ihrer neuropsychologischen und kognitiven Defizite nicht oder nicht in Gänze profitieren. Zudem werden sie möglicherweise mit anderen nicht adäquaten primären psychiatrischen Diagnosen belegt (z. B. ADHS F90, Störung des Sozialverhaltens F91 und F92, Hirnorganische Störung n. n. b. F0; globale Intelligenzminderung) und danach „störungsspezifisch“ behandelt. Allerdings kommen diese und andere Störungsbilder in erheblicher Häufigkeit als Komorbiditätenbei FASD vor. Bei ca. 40 % der Betroffenen findet sich zudem noch eine zusätzlicheIntelligenzminderung, die die FASD-typischen neuropsychologischen Defizite überdeckt („overshadowing“), so dass sie nicht als solche wahrgenommen werden.
Ebenfalls noch wenig bekannt ist, dass ein substantieller Teil der FASD-Betrof-fenen eine Suchtproblematik entwickelt (29 % der 12- bis 20-Jährigen und 46 % der Erwachsenen; Streissguth et al. 1996, 2004). Der Anteil von Menschen mit FASD an der Gesamtgruppe der Alkoholabhängigen könnte damit – bislang meist unerkannt – im zweistelligen Bereich liegen. Auch bei Menschen mit vergleichbaren hirnorganischen Beeinträchtigungen anderer Verursachung (Genetische Veränderungen, Prä-und perinatal erworbene Schäden, Schädel-Hirn-Traumen) dürften die Zahlen für Suchtprobleme und riskanten Konsum im Kontext der Normalisierung der Lebensbedingungen, der Integration in die Gemeinde und seit einigen Jahren durch inklusive Angebote auf die gesamtgesellschaftlichen Werte ansteigen (siehe Kap. 4.3).
Schließlich wachsen FASD-Betroffene häufig in prekären familiären und sozialen Verhältnissen auf, die im Zusammenwirken mit den neuropsychologischen Beeinträchtigungen und den sekundären psychischen Auffälligkeiten und Störungen (einschließlich Suchtproblemen) für das hohe Risiko verantwortlich sind, in den Teufelskreis einer „dissozialen“ Entwicklung zu geraten.
Menschen mit FASD aller Altersgruppen stellen somit die sozialpädagogischen, psychologisch-psychiatrischen und medizinischen Fachkräfte, Forscher wie Praktiker, vor enorme fachliche Herausforderungen, um die Diagnostik und Differentialdiagnostik der verschiedenen primären und sekundären Beeinträchtigungen und Störungen zu leisten. Vor allem aber sind die Hilfesysteme gefordert, angemessene und passende Unterstützungsszenarien und Therapiemodalitäten anzubieten.
1.2 Allgemeine Versorgungsprobleme
1.2.1 Eingliederungshilfe für Behinderte
Zunächst kann man davon ausgehen, dass die meisten Menschen mit FASD, die grundlegende Hilfen und Unterstützung bekommen, zum Personenkreis der Eingliederungshilfe für Behinderte gemäß §§ 53, 54 SGB XII gehören.
Nach deutschem Sozialrecht sind Menschen behindert,
„… wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Sie sind von Behinderung bedroht, wenn die Beeinträchtigung zu erwarten ist (§ 2 SGB IX). Personen, die durch eine Behinderung im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 des Neunten Buches wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, erhalten Leistungen der Eingliederungshilfe, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalles, insbesondere nach Art oder Schwere der Behinderung, Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann. Personen mit einer anderen körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung können Leistungen der Eingliederungshilfe erhalten.“ (§ 53 SGB XII)
Wird dies offiziell (i. d. R. amtsärztlich) bestätigt und vom Sozialamt anerkannt, kann der Betroffene Eingliederungshilfe für Behinderte beantragen. Dies gilt für alle Altersgruppen und umfasst Hilfearten, die die Behinderung oder deren Folgen beseitigen oder abmildern sollen, um so die Chancen zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu verbessern. Die Hilfen dienen immer der individuellenRehabilitation. Bei Kindern und Jugendlichen können daher zusätzlich Hilfen gem. §§ 27–35 SGB VIII (Hilfen zur Erziehung im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe) beantragt werden, die die Familie in ihren Erziehungskompetenzen unterstützen, wenn sie aufgrund der Behinderung des Kindes und der vielfältigen Folgen (z. B. Verhaltensauffälligkeiten) an ihre erzieherischen Grenzen kommen. Sollten diese seelischen Störungen darüber hinaus einen erheblichen Schweregrad angenommen haben und von längerer Dauer sein, kann die Zugehörigkeit zum Personenkreis des § 35a SGB VIII (Seelisch behinderte Kinder und Jugendliche) in Frage kommen, in dessen Rahmen sowohl Hilfen zur Erziehung wie Hilfen zur individuellen Rehabilitation geleistet werden können.
Auch wenn die rechtliche Seite relativ eindeutig geregelt scheint, kann es in der Praxis schwierig sein, das individuell passende Versorgungsangebot zu finden. Denn innerhalb des Versorgungssystems„Eingliederungshilfe für Behinderte“ differenzieren sich die Angebote in stationäre, teilstationäre und ambulante Settings mit jeweils unterschiedlichen Aufträgen und Betreuungsdichten für alle Formen von Behinderungen, teilweise mit zusätzlichen Subspezialisierungen. So verfügt jede Region über ein mehr oder weniger breites und differenziertes Angebot. Dennoch fehlt es an tragfähigen und qualifizierten Angeboten für Menschen, die aufgrund von Verhaltensauffälligkeiten und psychischen Störungen oder anderen Besonderheiten wie z. B. bei FASD-Betroffenen die durchschnittlichen Betreuungsmöglichkeiten in der Behinderten- und Suchthilfe „sprengen“ (vgl. Vorbohle, 2009; Seidel, 2011). Das durchaus kritisch zu diskutierende Angebot der sogenannten Intensivbetreuung in der Behindertenhilfe versucht, diesem Personenkreis gerecht zu werden (Glasenapp u. Hennicke, 2013).
2010 wurden ca. 1,02 Millionen Leistungen der Eingliederungshilfe für ca. 770.000 Menschen gewährt (d. h. 1,3 Leistungen pro Person) in einem Kostenumfang von 12,5 Milliarden Euro. Dies macht 58 % der Sozialhilfeausgaben insgesamt aus (Statistisches Bundesamt, 2013). Diese zunächst exorbitant erscheinenden Kosten rechnen sich als durchschnittlicher Leistungsumfang von ca. 16.200 € pro Jahr und Person (= 1.350 €/Monat). Fast die Hälfte der Kosten entfällt auf die stationären Unterbringungen, obwohl sie nur ein Drittel der Einzelleistungen ausmachen. Jeweils ein Viertel sind Leistungen und Kosten für die Werkstätten (Tab. 1.1).
Tab. 1.1: Eingliederungshilfe für Behinderte Einzelleistungen und Kostenverteilung 2010, Quelle: Statistisches Bundesamt (Hrsg.) 2013: Statistik der Sozialhilfe.
Leistungsart | Verteilung der EinzelLeistungen | Verteilung der Kosten |
Hilfen zum selbstbestimmten Leben in betreuten Wohnmöglichkeiten | 33 % | 49 % |
Leistungen in anerkannten Werkstätten für behinderte Menschen | 25 % | 27 % |
heilpädagogische Leistungen für Kinder | 16 % | 7 % |
übrige Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft | 12 % | 5 % |
Hilfen zu einer angemessenen Schulbildung | 7 % | 7 % |
übrige Leistungen | 7 % | 6 % |
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Der Umgang mit den primär durch die Funktionsbeeinträchtigungen bzw. Behinderungen bedingten Verhaltensproblemen ist genuine Aufgabe der Eingliederungs-bzw. Behindertenhilfe. Ggfls. müssen zusätzliche Kenntnisse erworben oder zusätzliches spezialisiertes pädagogisch-therapeutisches Personal eingestellt werden, um den besonderen Bedarfen gerecht zu werden. Dies trifft im Falle der Betreuung von Menschen mit FASD sicher zu.
Sekundär auftretende Verhaltensauffälligkeiten und psychische Störungen müssen, falls notwendig, im Rahmen des allgemeinen Gesundheitswesens gem. SGB V durch niedergelassene Ärzte sowie Psychotherapeuten und in den Krankenhäusern diagnostiziert und behandelt werden. Im Prinzip gilt das auch für Menschen mit Suchterkrankungen, für die primär das psychiatrische Versorgungssystem zuständig ist. Daneben oder positiv gesehen in Ergänzung bestand seit jeher das spezialisierte „Sonderversorgungssystem“ Suchtkrankenhilfe für alle Altersgruppen und Suchtformen. Es spielt in unserem Kontext eine besondere Rolle, da wie oben erwähnt, ca. ein Drittel der Jugendlichen und bis zur Hälfte der Erwachsenen mit FASD eine Suchtproblematik entwickeln.
1.2.2 Suchthilfe, FASD und Intelligenzminderung
Das Arbeitsfeld Suchthilfe besteht vor allem aus den Teilgebieten Suchtprävention, Suchtberatung und Suchttherapie. Der Arbeitsbereich Suchtprävention ist mit der Verhinderung des Auftretens von Suchtproblemen und -störungen befasst. Noch sehr selten wird auch die Prävention von FAS/FASD als Aufgabenfeld der Suchtprävention praktisch durchgeführt (Ausnahme z. B. die Materialien „Blau im Bauch“ von Wig-wamzero in Berlin; www.wigwamzero.de/blauimbauch/). Suchtberatung und -therapie befassen sich mit der Modifikation von problematischem Konsum, Missbrauch und Abhängigkeit in Bezug auf Suchtmittel bzw. süchtiges Verhalten. Das gesamte Arbeitsfeld der Suchthilfe hat, vor allem wegen der zu leistenden präventiven Aufgaben sowie den Tätigkeiten in Beratung und Therapie, in den letzten Jahren in Medizin, Psychologie und Sozialer Arbeit erheblich an Bedeutung gewonnen. Dies resultiert auch aus einer Zunahme substanzbezogener Störungen in der Gesamtbevölkerung, wie z. B. Missbrauch und Abhängigkeit von Alkohol, ab den frühen 1960er Jahren sowie von psychotropen Medikamenten und illegalen Drogen ab den 70er Jahren.
In einer neuen repräsentativen Bevölkerungsstudie (DEGS1) fan...