1 Einleitung
1.1 Ziel und Gegenstand der Untersuchung
Im Zentrum dieser Untersuchung steht der Vergleich der Kommentierungsstrategien der Renaissance-Gelehrten Cristoforo Landino und Denis Lambin im Umgang mit ihrem kommentierten Autor Horaz sowie dem daraus ableitbaren Verhältnis zwischen Text und Kommentar bzw. Autor und Kommentator. Dabei wird sich zeigen, in welcher Distanz und in welcher Verantwortung sich die beiden Kommentatoren gegenüber ihrem commentandum begreifen1 und wie sich dieses Verständnis in der Kommentierung der einzelnen Stellen darstellt, insbesondere dann, wenn für den Rezipienten problematische Passagen im Horaztext behandelt werden.
Dabei stellt sich immer wieder die Frage, wer in dieser Konstellation die stärkere Autorität besitzt.2 Einerseits ist der Kommentator eine mächtige Instanz, wie in der Beschreibung Karlheinz Stierles, der feststellt, dass der Kommentator in zwei Welten, der des Texts und der des Lesers, lebe und diese Dualität verhandele.3 Andererseits gilt die Feststellung von Rainer Stillers, der immer eine Gegenseitigkeit im Verhältnis von Kommentator und Autor ausmacht. Er bezeichnet dies als „doppelgesichtige Funktion des humanistischen Kommentars“.4 Genau diese Gegenseitigkeit ist für dieses Thema wesentlich, da die problematischen Stellen im Horaztext den Kommentator herausfordern, sich gegenüber dem Text zu positionieren und dann mit verschiedenen Methoden seine Kommentierung vorzunehmen. Die für die Rezeptionszeit kritischen Stellen zwingen ihn häufig5 dazu, den Text zu rechtfertigen, seine Bedeutung umzuformen.6 Daraus wird überdies das Verhältnis des Kommentators zu seinen Rezipienten sichtbar.
Für dieses Vorgehen werden, nach rahmenden Bemerkungen zum Umfeld des Kommentators, anhand der Betrachtung von problematischen (obszönen und epikureischen) Passagen die Strategien der Kommentatoren analysiert. Neben den Forschungserkenntnissen zu Landino und Lambin, deren Horazkommentaren und ihren kommentatorischen Techniken und Spielräumen innerhalb dieses Genres ergeben sich damit Einblicke in die Horazrezeption ihrer Zeit. Nicht zuletzt kann mittels der Betrachtung dieser beiden wichtigen Kommentare unser eigener Zugang zum antiken Dichter neu überdacht werden.7
1.1.1 Warum Horaz?
Die Studie widmet sich dem Vergleich von Kommentaren zum Gesamtwerk des Quintus Horatius Flaccus. Die Wahl dieses antiken Autors (und nicht etwa Vergils, Ovids oder Tibulls) lässt sich nicht nur durch die bereits vorhandene Auswahl in der Forschungsliteratur erklären, sondern hat besondere Gründe: Die Horazrezeption ist, wie Charles Brink systematisch gezeigt hat, in drei verschiedene Facetten gebrochen: den Horaz der Oden, Horatius lyricus, den Horaz der Satiren und Episteln, Horatius ethicus, und den Horaz der Ars poetica, den Horatius magister.8 Das Werk des Horaz ist generisch vielfältig und die dahinterstehende Stimme zwar stark persönlich aufgeladen, doch oft in sich selbst widersprüchlich.9 Diese Widersprüchlichkeit oder eher Polyphonie der Stimmen des Horaz sorgt für eine vielfältige Rezeptionskultur, die häufig selek tiv bestimmte Aspekte in den Vordergrund stellt, andere unterdrückt oder umformt. Charles Martindale formuliert diese kaleidoskopartige Wirkung des horazischen Œuvres so:
But which Horace are we talking about? „Fat, beery, beefy Horace“, as one English scholar called him, or the more elegant courtier and lover preferred by several French critics. Horace has done duty as a quasi-Christian moralist, as a hedonistic enthusiast for „a generous bottle and a lovesome she“, as an English landowner and country gentleman. […] „Horace“, it could be argued, is a construction, by readers and reading communities, in terms of specific reading practices, and there are no final grounds, no ultimate courts of appeal, to which we can have recourse to establish the „true“ or the „real“ Horace among the various images.10
Durch diese Qualität des Horaztexts lassen sich der Einfluss seiner Rezipienten und das jeweils dahinterstehende Programm hervorragend erkennen. Hinzu kommt, dass genau diese Vielschichtigkeit des Horazwerks, das hohe Dichtung wie die Römischen Oden oder die Ars poetica, aber ebenso obszöne Gedichte wie die Epoden 8 und 12 enthält, seine Kommentatoren dazu zwingt, sich nicht nur mit autoritären, sondern auch entautorisierenden Passagen auseinanderzusetzen.11 Dabei wird sich das Zusammenspiel von Kommentator und kommentiertem Text besonders gut beobachten lassen. Ein dritter Aspekt ergibt sich aus der Kommentarforschung: Anthony Grafton hatte festgestellt, dass Kommentare schon seit Galen, besonders aber in der Renaissance, die Möglichkeit zu einer „quasi kalifornischen Selbstoffenbarung“ (Californian self-revelation) boten.12 In Bezug auf die Selbstdarstellung des Horaz, die sehr persönlich stilisiert ist,13 ergibt sich hier ein Ineinandergreifen der Ich-Aussagen des Autors und der zu untersuchenden selbstbezogenen Aussagen des Kommentators.14 Nicht zuletzt muss erwähnt werden, dass Horaz einer der bedeutendsten klassischen Autoren für die Renaissance ist.15
1.1.2 Horazpersona und Kommentatorpersona
Die Bezeichnungen „Horaz“ und „Landino“ und „Lambin“ müssen einleitend differenziert werden, da es sich im Medium des Dichtungskommentars in der Renaissance um ein besonderes Fallbeispiel der (Selbst-)Stilisierung von Autor und Kommentator handelt.
Selbstredend ist das Ergebnis der Selbstdarstellung, der fiktive „Horaz“, für den modernen Leser von der dahinterstehenden historischen Persönlichkeit zu unterscheiden.16 Ebenso muss diese Unterscheidung zwischen Horaz und seiner persona bei seinen Kommentatoren geschehen. Die Trennung von Autor und seiner Vita fand in der Renaissance selten statt.17 Für die Kommentatoren soll sie hier dennoch Gültigkeit haben, schon da der moderne Leser nicht mehr hinter dieses Verständnis zurückkommt. Außerdem soll vermieden werden, von der Art der Kommentierung in irgendeiner Form positivistisch auf die Persönlichkeit des Kommentators zurückzuschließen. Daher wird hier die Selbstdarstellung des Kommentators im Kommentar als eine Kommentatorpersona begriffen, die sich selbst stilisiert.
Wenn im Folgenden von Horaz, Landino18 und Lambin gesprochen wird, so sei darauf verwiesen, dass damit ihre Manifestationen in ihren Texten gemeint sind, die jedoch häufig mit außertextlichen Informationen, besonders zum gelehrten Umfeld der Protagonisten, unterlegt werden können. Die Kommentatorpersona ist damit wahrscheinlich näher an der historischen Person zu verorten als die poetische persona. Sie bleibt nichtsdestotrotz eine von den Kommentatoren geschaffene fiktive Persönlichkeit.
1.1.3 Warum Landino und Lambin?
Die beiden hier ausgewählten Kommentatoren Landino und Lambin wurden aus einer Vielzahl von Gründen aus der großen Menge von Horazkommentatoren der Renaissance ausgewählt.19 Ein wichtiger Grund ergibt sich bereits aus der Geschichte der Horazrezeption für diese Epoche: Zunächst ist der Kommentar Landinos der erste gedruckte Kommentar zu Horaz. Im Gegenzug zeichnet sich der Kommentar Lambins durch seine lange Rezeptionsdauer, immerhin bis ins neunzehnte Jahrhundert hinein, aus. Zwischen den Kommentaren liegen 79 Jahre. Beiden ist gemeinsam, dass sie Horaz nicht nur für den Schulgebrauch kommentieren, sondern sich intensiver und dabei sehr unterschiedlich mit dem antiken Autor befassen. Sie sind in ihrem Vorgehen und ihrer Nähe und Distanz zu Horaz oft diametral verschieden, was durch die historische Distanz, das jeweilige intellektuelle Umfeld, Florenz und Paris, Entwicklungen im Bereich des Kommentars und persönliche Präferenzen erklärt werden kann.
Landino schreibt seinen Horazkommentar am Ende seines Lebens. Damit ist besonders dieses Werk, neben seinem Vergilkommentar, ein Konglomerat und Kondensat aller seiner reiferen poetischen und philosophischen Schriften. Sein Ansatz im Umgang mit Horaz ist ein integrativer, glättender, wie sich besonders anhand der obszönen und epikureischen Stellen zeigen wird. Lambin hingegen eröffnet mit dem Horazkommentar in gewissem Sinne seine professorale Laufbahn und lässt die vermehrten Wiederauflagen in mancher Hinsicht zu Zeugnissen seiner akademischen Entwicklung werden. Im Gegensatz zum Horazbeschützer Landino zeichnet sich sein Kommentieren eher durch Brüche und Distanznahme zu Horaz aus.
Nicht zuletzt mangelt es bislang an umfassenden Forschungen zu beiden Kommentaren, insbesondere zu Lambin. Beide Kommentatoren werden zwar immer häufiger ...