1 Einleitung
In den modernen Wissenschaften wird Wissen in Form von Theorien präsentiert. Die Mathematik kennt die Zahlentheorie ebenso wie eine Theorie der Transformationsgruppen oder Euklidische und nicht-Euklidische Geometrien. Die Physik behandelt die Newtonsche Mechanik, die allgemeine Relativitätstheorie oder die Quantenmechanik. In der Psychologie gibt es unterschiedliche Theorien der geistigen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen, wie den psychoanalytischen und den psychosozialen Ansatz (vgl. Oerter und Montada, 2002); die Biologie setzt sich mit Evolutions- sowie (historisch) miteinander konkurrierenden Gentheorien, z.B. von Mendel, Galton und Castle, auseinander (vgl. Mayr, 1984, S. 620 ff). Aufgrund dieser und weiterer Beispiele ist die Frage nach Beschaffenheit und Aufbau wissenschaftlicher Theorien im 20ten Jahrhundert immer mehr ins Interesse philosophischer Untersuchungen gerückt.
Eine Vielzahl der in diesem Kontext zu nennenden Autoren haben sich in bester philosophischer Manier darauf konzentriert, einen weiteren der für das Überleben unserer Zunft so notwendig erscheinenden Ismen in die Welt zu setzen. Dies gilt verstärkt für die logischen Positiv isten des Wiener Kreises, deren Ziel unter anderem die Einheitswissenschaft war, also die formale Rekonstruktion aller oben aufgeführter und weiterer Einzelwissenschaften „aus einem Guss“ (vgl. Carnap, 1929, 1936c). Die Waffe der Wahl war die durch Frege neu entwickelte Prädikatenlogik, der Feind die Gemeinschaft der Fachwissenschaftler, die Taktik lang anhaltende Diskussionen in Schützengräben, die dem Schutz vor Unannehmlichkeiten wie Unvollständigkeit und wissenschaftlicher Praxis dienten.
Eine Sonderrolle bei diesen Bemühungen nahm die Physik ein (vgl. u.a. Carnap, 1931b). Ein Grund war mit Blick auf den Positivismus, dass ihr Fundament aus Tatsachenbehauptungen zu bestehen schien. Zudem erweckte die zentrale Bedeutung der Mathematik die Hoffnung einer vollständigen prädikatenlogischen Rekonstruktion – eine Fiktion, die im Fahrwasser von Freges und Russells Logizismus aufgekommen war. Und auch wenn diese Hoffnung durch Gödels Unvollständigkeitssatz enttäuscht wurde, empfiehlt sich die Physik weiterhin als vielversprechender Kandidat zur Anwendung formalisierender Ansätze. Der Grund sind historische Teilerfolge, die in diesem Bereich erzielt werden konnten, denn „[t]he most successful examples of fruitful axiomatization come from physics, and include the axiomatizations of such theories as classical particle and rigid body mechanics, relativistic mechanics, and so on by McKinsey, Suppes and others.“ (Suppe, 1974, S. 66)
Mit einer glaubwürdigen Rekonstruktion bzw. Axiomatisierung können auch einige philosophische Fragen unter einem formalen Blickwinkel angegangen werden. Etwa die Frage nach wissenschaftlich-theoretischem Fortschritt, d.h. einem Fortschritt, der sich unmittelbar aus der Weiterentwicklung der beteiligten Theorien ergibt und der in Richtung einer einheitlicheren und präziseren Beschreibung der Phänomene weist – so jedenfalls die Idealvorstellung.1 Beispielsweise können Keplers Gesetze zur Beschreibung der Planetenbahnen und Galileis Fallgesetz durch die Newtonsche Mechanik vereinheitlicht werden (vgl. Scheibe, 1997, S. 166 ff / 201 ff; Vollmer, 1989). Diese beschreibt Bewegungen schneller Teilchen wiederum schlechter als Einsteins spezielle Relativitätstheorie.
Die Charakterisierung theoretischen Fortschritts muss über die Untersuchung des formalen intertheoretischen Zusammenhangs der beteiligten Theorien verlaufen. Ist dieser hinreichend stark, spricht man auch von einer Reduktion, was dem Begriff nach zunächst Zurückführung bedeutet. Sind beide Theorien axiomatisiert, besteht auch hier berechtigte Hoffnung auf eine formale Darstellung:
To begin, realise, that theories in physics are mathematical; they are formal systems, embodied in equations. Therefore we can expect questions of reduction to be questions of mathematics: how are equations, or solutions of equations, of one theory, related to those of another? (Berry, 1994, S. 598)
Folgend werde ich mich auf die Betrachtung physikalischer Theorien beschränken. Mein Ziel ist ein Beitrag zum besseren Verständnis der Rolle mathematischer Axiomatik und theoretischer Modelle in der Physik als empirische Wissenschaft. Wie schaffen es physikalische Theorien, Aussagen über die Welt zu machen? Was ist der Zusammenhang von Formalismus und beschriebenem Phänomenbereich? Wir werden sehen, dass die Antwort an der Frage nach der Rolle wissenschaftlicher Modelle nicht vorbei kommt.
Zur Beantwortung der Fragen werde ich in Kapitel 2 zunächst der Rekonstruktion physikalischer Theorien nachgehen. Nach einer kurz gehaltenen historischen Einleitung beginne ich mit der Darstellung des received view of theories der logischen Positivisten und des sich historisch anschließenden semantic approach. Dem folgt die Wiedergabe des Formalisierungsansatzes nach Erhard Scheibe. Ich werde dafür argumentieren, dass dieser dem semantic approach nahe steht, an zentraler Stelle aber Unterschiede aufweist. Erst dadurch wird eine adäquate Beschreibung der Rolle wissenschaftlicher Modelle möglich. Scheibe schafft es insgesamt, die zentralen Kritikpunkte an den Vorgängerpositionen zu vermeiden und eine sinnvolle Grundlage zum Verständnis des Zusammenspiels von Phänomenen, Modellen und Theorien zu liefern.
In Kapitel 3 folgt die Auseinandersetzung mit der Reduktion physikalischer Theorien. Dies geschieht angelehnt an die meines Wissens nach zur Zeit ausführlichste Arbeit über Theorienreduktionen nach Erhard Scheibe (1997, 1999). Scheibe zeigt eine Vielzahl intertheoretischer Beziehungen auf, die ich weitestgehend mit den aus der historischen Debatte erwachsenen Konzepten identifizieren werde. Da Scheibe auf dem zuvor dargestellten Theorienkonzept aufbaut, wird sich ergeben, dass Philosophen, die über Theorienreduktionen in der Physik arbeiten, gut damit beraten sind, Scheibes Ansatz als Ausgangspunkt zu wählen.
In Kapitel 4 bringe ich mit der Modellierung der Fermi-Beschleunigung erster und zweiter Ordnung sowie der Modellierung aktiver galaktischer Kerne die Erkenntnisse der beiden vorangegangenen Kapitel zur Anwendung. Mit der Modellierung der Fermi-Beschleunigung werde ich zeigen, dass die Reduktionsarten nach Scheibe notwendig für das pragmatische Vorgehen der Astroteilchenphysiker sind. Anhand der aktiven galaktischen Kerne stelle ich heraus, dass sie dennoch nicht hinreichend für die Modellierung sind. Neben einem Beitrag zur Philosophie der Physik im Allgemeinen habe ich damit auch einen Beitrag zum Verständnis der Astroteilchenphysik geliefert, jenem jungen Teilgebiet der Physik, in dem von der kosmischen Strahlung auf deren Quellen zurück geschlossen wird. Ich werde einige der von den Astroteilchenphysikern verwendeten pragmatischen Vorgehensweisen und deren Grenzen aufzeigen und erläutern können.
2 Physikalische Theorien
Bevor ich in Kapitel 3 auf Reduktionen als intertheoretische Beziehungen eingehen werde, muss ich Klarheit schaffen, was unter einer Theorie zu verstehen ist. Das Ziel des vorliegenden Kapitels ist die historische und systematische Aufarbeitung des Ansatzes zur Rekonstruktion physikalischer Theorien nach Erhard Scheibe.
Abgesehen von der kurz gehaltenen Darstellung der Genese des Theorienbegriffs seit der griechischen Antike (Abschnitt 2.1), die der Einbettung des Folgenden in einen gesamt-philosophischen Kontext dient, liegt der Schwerpunkt der historischen Betrachtung bei der Darstellung von zwei der einflussreichsten Formalisierungsansätze des 20ten Jahrhunderts: Dem received view of theories der logischen Positivisten (Abschnitt 2.2) 2 und dem semantic approach in der auf Wolfgang Balzer, Ulisses C. Moulines und Joseph D. Sneed zurückgehenden Version (Abschnitt 2.3). Das gewählte Vorgehen ist sinnvoll, da ich hierdurch auf die zentralen Kritikpunkte und Probleme beider Rekonstruktionsansätze hinweisen kann, an denen sich auch die Arbeit von Scheibe messen lassen muss.
Ich werde die Kritik am received view bereits bei seiner Aufarbeitung einfließen lassen. Da Balzer, Moulines und Sneed ihren semantic approach ausdrücklich als Alternative zum received view konzipiert haben, überrascht es kaum, dass sie auch explizit versuchen, Lösungen für dessen zentrale Probleme zu finden. Auch ich werde den semantic approach in Abgrenzung vom received view darstellen.
Die zentrale Kritik am semantic approach wurde stark gemacht von Nancy Cartwright, Mary Morgan, Margaret Morrison und Daniela Bailer-Jones, indem sie auf Schwächen hinwiesen bezüglich der Rolle, die Modelle in ihm einnahmen. Ich werde nachweisen, dass der Ansatz von Scheibe dem semantic approach nahe genug steht, um die Probleme des received view zu umgehen, dass er aber auch hinreichend viele Neuerungen beinhaltet, um die Modellrolle adäquat zu beschreiben (Abschnitt 2.4). Dies ist schon für sich genommen ein nicht zu unterschätzender Beitrag zur aktuellen Diskussion in Teilen der Wissenschaftsphilosophie. Insgesamt werde ich zeigen können, dass ein Theorienverständnis nach Scheibe adäquater ist als dessen Vorgängerkonzepte (Abschnitt 2.5). Es ist eine solide Grundlage für die sich in Kapitel 3 anschließende Auseinandersetzung mit der Reduktion physikalischer Theorien.
2.1 Historische Entwicklung des Theorienbegriffs
Es folgt ein rudimentärer Überblick der historischen Grundlagen des heutigen Theorienbegriffs. Für den grundlegenden Aufbau der Darstellung antiker und neuzeitlicher Positionen orientiere ich mich an Thiel (1996) und Mittelstraß (1996). Bei den Ausführungen erhebe ich keinen Anspruch auf Vollständigkeit, da für die thematisch zentralen Abschnitte der vorliegenden Arbeit Theorien in erster Linie unter formalen Gesichtspunkten von Interesse sein werden. Damit liegt es nahe, ausgehend von der Antike, wo die Ursprünge des heutigen Theorienbegriffs zu finden sind, einen möglichst klaren roten Faden zu spinnen, der in den ersten formalistischen Ansätzen des 20ten Jahrhunderts mündet. Dass diese stark positivistisch waren, hat auch meine Auswahl der bei der historischen Betrachtung herangezogenen Autoren bestimmt. So finden etwa Leibniz und Kant keine Erwähnung, wohl aber Bacon, Whewell und Mill.
Der Pythagoräismus ist nach Russell (2009, S. 55) der Grund dafür, dass der aus orphischer Tradition stammende Begriff ϑεωρία nicht mehr als rein emotionale, sondern als in mathematische Erkenntnis mündende, intellektuelle Einfühlung, verstanden wurde. Damit war der Grundstein für eine Bedeutungsverschiebung gelegt, die in unserem heutigen Verständnis resultierte. Das in Form von theoretischen Sätzen und Beweisen gegebene Wissen wurde von den Vorsokratikern schnell als Begründungswissen verstanden, das jedoch noch nicht von der sinnlichen Wahrnehmung gelöst war (Mittelstraß, 1996, S. 259; Wimmer und Blasche, 1996).
In der platonischen Zweiweltenlehre tritt der konstituierende Charakter theoretischer Erkenntnis besonders deutlich hervor. Durch Einführung der vollkommenen und unveränderlichen Ideen wird der Bereich des Theoretischen zudem vom rein Weltlichen gelöst. Di...