Strafrechts- und Kriminalitätsgeschichte der Frühen Neuzeit
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Strafrechts- und Kriminalitätsgeschichte der Frühen Neuzeit

  1. 214 Seiten
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Strafrechts- und Kriminalitätsgeschichte der Frühen Neuzeit

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Inhaltsverzeichnis
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Über dieses Buch

Kriminalität, Strafrecht und Strafjustiz haben sich in den letzten Jahrzehnten als wichtige Felder der internationalen historischen Forschung etabliert. Der Band gibt einen Überblick über die Vielfalt der einschlägigen Quellen und Methoden und die damit verbundenen Themenfelder, Konzepte und Kontroversen der neueren Strafrechtsgeschichte und der historischen Kriminalitätsforschung. In dieser interdisziplinären Perspektivierung werden exemplarische Forschungsfelder unter Einbeziehung aktueller transnationaler, kultur- und mediengeschichtlicher Forschungsperspektiven vorgestellt.

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Information

Jahr
2017
ISBN
9783110396676
Auflage
1
Teil 1:Einführung

1Überblick zur Forschungsgeschichte

Die Geschichte von Kriminalität, Strafrecht und Strafjustiz wird sowohl von der Rechts- als auch der Geschichtswissenschaft erforscht, die trotz einer allgemeinen Annäherung thematisch und methodisch unterschiedliche Schwerpunkte setzen und in den letzten Jahrzehnten unterschiedliche Forschungsergebnisse erbracht haben. Das erste, einführende Kapitel gibt daher zunächst einen getrennten Überblick über die Forschungsgeschichte von Strafrechtsgeschichte und historischer Kriminalitätsforschung und stellt wesentliche Themenfelder, Methoden und Ergebnisse beider Disziplinen auch im Hinblick auf interdisziplinäre Überschneidungen knapp vor. Das folgende zweite Kapitel fasst die für beide Forschungsrichtungen grundlegenden Begriffe und Konzepte von Kriminalität, Strafrecht und Strafjustiz zusammen, insbesondere im Hinblick auf einen historischen Kriminalitäts- und Rechtsbegriff und die Konzeptualisierung des Systems der Strafjustiz mit seinen unterschiedlichen Akteuren, Institutionen, Verfahren und Praktiken. Die Berücksichtigung von zwei produktiven Forschungsrichtungen macht eine räumliche und zeitliche Beschränkung auf das frühneuzeitliche Heilige Römische Reich deutscher Nation nötig. Diese wird im dritten Kapitel begründet und im Hinblick auf die sich überlappenden, interdependenten Räume und Ebenen von Strafrecht und Strafjustiz als eine wesentliche methodische Voraussetzung der Forschung diskutiert. Ausgehend von dem Problem der Periodisierung der Frühen Neuzeit als einer mehr oder weniger eigenständigen Epoche der Strafrechts- und Kriminalitätsgeschichte wird abschließend eine gedrängte Darstellung der Geschichte von Kriminalität, Strafrecht und Strafjustiz gegeben, die auf die Perioden beschleunigten Wandels zwischen spätem Mittelalter, Frühneuzeit und Moderne fokussiert und grundlegende Entwicklungslinien skizziert.

1.1Strafrechtsgeschichte

Die bereits im 19. Jahrhundert einsetzende juristische Strafrechtsgeschichte behandelt überwiegend die Entwicklung strafrechtlicher Normen und des gelehrten Rechts unter Einbeziehung theoretischer und dogmatischer Themenstellungen. Einen Schwerpunkt bilden auch die Strafgerichtsbarkeit und ihre Institutionen sowie das Strafverfahren, insbesondere der Inquisitionsprozess mit zentralen Verfahrenselementen wie Folter und Geständnis. Strafgerichtsbarkeit und Strafverfahren werden meist aus normativen Quellen und dem gelehrten Recht rekonstruiert, während die Praxis der Strafjustiz oder die Kriminalitätsentwicklung kaum aufgrund von Gerichts- und Kriminalakten untersucht werden. Neben wenigen Überblicksdarstellungen entstanden zahlreiche Studien zur normativ-dogmatischen Entwicklung der Strafgesetzgebung, einzelner Delikte und des Strafverfahrens sowie Biographien und Werkanalysen einflussreicher Juristen und ihrer Lehren im rechtswissenschaftlichen Kontext (Hausmann 2002; Kesper-Biermann 2010). Obwohl das gelehrte Recht und seine Autoren einen Schwerpunkt bilden, fehlt eine moderne Wissenschaftsgeschichte des Strafrechts, die Rechtswissenschaft, Autoren/Gelehrte, Universitäten/Ausbildung und dogmatische Themen verknüpft und beispielsweise methodisch als juridischen Diskurs rekonstruiert und in die zeitgenössischen gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen einbettet. Insbesondere in den stärker dogmatisch orientierten Darstellungen fungiert die Strafrechtsgeschichte noch häufig als vorgeschaltete „Einleitungshistorie“ und empirische Beschreibung, um „mit dem gewonnenen Wissen eine historisch angeleitete Bewertung des geltenden Rechts vornehmen“ zu können (Vormbaum 2009, 1).
Überblicksdarstellungen
Die erstmals 1947 und zuletzt 1995 in mehreren Auflagen bzw. Nachdrucken erschienene Einführung von Eberhard Schmidt ist aufgrund ihrer Materialfülle und der Einbeziehung des Strafverfahrens bzw. der „Strafrechtspflege“ noch immer kaum verzichtbar (Schmidt 1965). In ihrer Fixierung auf Dogmatik und Staat und in ihren Deutungen ist sie allerdings überholt; zudem spielt die Praxis der Strafjustiz gegenüber Normen, gelehrtem Recht und Verfahren eine untergeordnete Rolle und wird lediglich aus normativen Quellen rekonstruiert. Auch die Behandlung von „Kriminalität“ und „Verbrechen“ – in Anlehnung an den bereits 1931 konzipierten Versuch einer historischen Kriminologie von Radbruch und Gwinner (1951) – folgt teils fragwürdigen sozial-ätiologischen Interpretationsmustern, die die moderne Kriminologie hinter sich gelassen hat. Den aktuellsten, knappen Überblick über die historische Entwicklung vom fränkischen Mittelalter bis zur Zeitgeschichte bietet der inzwischen in sechster, überarbeiteter Auflage erscheinende Grundriss der Strafrechtsgeschichte (Rüping/Jerouschek 2011), der für die Frühe Neuzeit die Bereiche „forensische Praxis“ und „Kriminalität“ einbezieht. Sie wird ergänzt durch das zweibändige Studien- und Quellenbuch zur Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, das ausführliche einleitende Kapitel enthält und ein umfangreiches Quellen- und Literaturverzeichnis bietet (Sellert/Rüping 1989, 191–273, 347–378), und eine ebenfalls in mehreren Auflagen vorliegende Einführung in die moderne Strafrechtsgeschichte, die mit der Aufklärung im 18. Jahrhundert einsetzt und das 19. und 20. Jahrhundert behandelt (Vormbaum 2009). Ergänzend berücksichtigen einige aktuelle Forschungsberichte auch die Strafrechtsgeschichte, wobei insbesondere die regelmäßigen Literaturberichte in der Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft von Jerouschek und Rüping einen guten Überblick über aktuelle Entwicklungen bieten und auch historische Kriminologie und Kriminalitätsforschung einbeziehen (1994, 163–183; 1995, 171–188; 1996, 166–180; 1998, 143–165; 2001, 369–389; 2006, 462–486). Wer sich über die Entwicklung der internationalen Forschung und interdisziplinäre Anknüpfungspunkte im Bereich des Strafrechts informieren möchte, kann auf Handbücher wie das Handbook of Criminal Law (Dubber/Hörnle 2014) oder die aktuelle Darstellung von Knepper (2016, 5–29) zurückgreifen. Der Leser wird allerdings mit dem Problem konfrontiert, dass diese überwiegend auf das angloamerikanische Strafrechtssystem abstellen, das sowohl bezüglich der Rechtspraxis als auch im Hinblick auf die methodischen Probleme teilweise deutlich von der kontinentaleuropäischen Entwicklung abweicht.
Themen und Schwerpunkte
Der Schwerpunkt der deutschsprachigen Strafrechtsgeschichte liegt auf der Entwicklung von materiellem und Verfahrensrecht sowie der Strafrechtswissenschaft, die anhand wichtiger Texte bzw. Autoren behandelt werden. Methodisch werden Wirkung und historische Entwicklung meist anhand der Beiträge der Autoren zur Dogmatik (z. B. zu den allgemeinen Lehren) bewertet, die allerdings stark aus moderner Perspektive konstruiert wird (Dorn 2002). Eine historische Kontextualisierung erfolgt durch biographisch ausgerichtete Studien, die einzelne bedeutende Autoren wie Benedict Carpzov, Hanns Ernst von Globig, Gallus Aloys Kleinschrod oder Paul Johann Anselm von Feuerbach und deren Beiträge zum Strafrecht (Lehren, Lehrbücher, Kodifikationsentwürfe) behandeln. Allerdings liegt auch diesbezüglich der Schwerpunkt auf der Aufklärungsepoche und der Entstehung des modernen Strafrechts (Jerouschek/Schild/Gropp 2000; Schmidt 1990; Koch/Kubiciel/Löhnig/Pawlik 2014). Ein von der Strafrechtsgeschichte bis in die jüngste Zeit in monografischen Studien immer wieder aufgegriffenes Thema bilden der Strafprozess sowie einzelne Verfahrenselemente wie Verhör, Folter, Geständnis und Verteidigung. Trotz detailreicher Rekonstruktionen und neuer Erkenntnisse, die die älteren Forschungskontroversen über den römisch-rechtlichen oder germanischen Ursprung des Inquisitionsprozesses hinter sich lassen, überwiegt diesbezüglich noch immer eine normative Herangehensweise, die auf der Basis der gemeinrechtlichen Literatur ein eher idealtypisches Bild des Verfahrens zeichnet und die Praxis kaum als konstitutiv für die rechtliche Ausformung einbezieht (Schmoeckel 2000; Ignor 2002; Schumann 2016). Dies gilt auch für die wenigen Untersuchungen zu Straftaten und Strafen im gelehrten Recht, die z. B. Tötung und Diebstahl aus der Perspektive des zeitgenössischen juridischen Diskurses unter dogmatischen Fragestellungen behandeln (Schnyder 2010).
Strafrechtspflege und historische Kriminologie
Nur einzelne Studien untersuchen ausführlicher forensische Praxis, Strafjustiz und Strafrechtspflege. So entstanden anknüpfend an die Pionierstudie von Ernst Boehm zu den Quellen des Leipziger Schöppenstuhls neuere Arbeiten, welche die konkrete Spruch- und Gutachtertätigkeit von Juristenfakultäten im Strafverfahren behandeln (Boehm 1940–42; Hahn 1989; Lück 1998; Kischkel 2016). Weitere Fallstudien haben die Strafrechtspflege einzelner Territorialstaaten unter Einbeziehung der Gerichts- und Strafvollzugspraxis umfassender anhand von Justiz- und Verwaltungsquellen untersucht (Krause 1991; Heydenreuter 2003). Nach ersten Ansätzen von Radbruch und Gwinner (1951), die eine eher impressionistische „täterzentrierte“ Geschichte des Verbrechens begründeten, entstanden im Kontext der Strafrechtsgeschichte auch empirische Fallstudien zur historischen Kriminologie, die historische Strukturen und Entwicklungen von Kriminalität mit modernen kriminalsoziologischen Konzepten und quantitativen Methoden erforschen und Kriminalitätsraten, Deliktverteilung und Sozialprofile der Delinquenten mit Bezug zu gesellschaftlichen und ökonomischen Faktoren analysieren. Einige Arbeiten beziehen die Praxis der Strafjustiz sowie Kriminalitätsbekämpfung und Kriminalitätspolitik mit ein (Roth 1997; Becker 2001; Moses 2006). Justizakten oder einzelne Fälle werden allerdings kaum herangezogen und der Schwerpunkt der Untersuchungen liegt auf dem 19. und 20. Jahrhundert, da die Quellenbasis meist aus zeitgenössischen, z. T. bereits statistisch erhobenen Daten besteht. Eine direkte Ausweitung der historischen Kriminologie in die vorstatistische Epoche der Frühen Neuzeit ist daher methodisch problematisch; sie bietet aber dennoch wichtige Ansatzpunkte für die historische Kriminalitätsforschung, um Fragen der „Kriminalstatistik“ oder der „Deliktkategorien“ kritisch zu reflektieren und neue Perspektiven für die traditionelle Strafrechtsgeschichte zu gewinnen (Romer 1992; Thome 1992).
Methodische Probleme
Der auch für die Binnenperspektive des Rechts wesentliche Bereich der Kriminalitätsverfolgung, Gerichts- und Strafpraxis wird folglich zwar gelegentlich empirisch einbezogen, bleibt aber insgesamt in der Strafrechtsgeschichte methodisch von eher sekundärer Bedeutung hinsichtlich der Untersuchung und Deutung historischer Strukturen und Entwicklungen. Damit besteht die Gefahr, einer retrospektiven „historische[n] Betrachtung des deutschen Strafrechts von der Carolina bis zum Reichsstrafgesetzbuch“ (Geus 2002), die sich bezüglich Forschungsgegenstand und Methoden im engeren dogmatisch-normativen Rahmen der eigenen Disziplin bewegt. Ein für die historische Analyse des komplexen Verhältnisses von Normen, Diskursen und Praxis des Strafrechts und des Umgangs mit Kriminalität überzeugendes methodisches Gesamtkonzept, das Konzepte und Methoden der Geschichtswissenschaft wie der Sozialwissenschaften gleichwertig und konstitutiv einbezieht, wurde kaum entwickelt. Die diesbezüglichen Ansätze dokumentieren einige Sammelbände, in denen Rechtshistoriker, Historiker und Literaturwissenschaftler unter sozialen, rechtlichen, philosophischen und literarischen Aspekten und im Hinblick auf Konzepte und Methoden interdisziplinäre Perspektiven auf Kriminalität und abweichendes Verhalten zwischen ausgehendem Mittelalter und neuzeitlicher Kriminalitätsgeschichte entwickeln (Berding/Klippel/Lottes 1999; Kesper-Biermann/Klippel 2007; Habermas/Schwerhoff 2009).
Entstehung des öffentlichen Strafens
Die neuere strafrechtsgeschichtliche Forschung hat dann auch Impulse aus der historischen Kriminalitätsforschung und der Rechtsgeschichte aufgenommen und sich stärker den Strukturen, Institutionen, Verfahren und Strafen der vormodernen Strafgerichtsbarkeit zugewandt. Waren ältere Darstellungen weitgehend auf normative Quellen wie z. B. Gerichts- und Verfahrensordnungen und das gelehrte Recht gestützt, so werden jetzt auch zeitgenössische praktische Literatur sowie Kriminal- bzw. Gerichtsakten einbezogen, um Strukturen und Praxis der frühneuzeitlichen Strafgerichtsbarkeit zu rekonstruieren. Realisiert wurde dies insbesondere in dem interdisziplinären Forschungsprojekt zur Entstehung des öffentlichen Strafens (oder Strafanspruchs) zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit, das die Entwicklung von strafrechtlichen Normen, Strafrechtswissenschaft, Verfahren (Inquisitionsprozess), Gerichtsbarkeiten (Ausschaltung intermediärer Gewalten und Verstaatlichung) und Strafen bearbeitet hat, die zur Formierung eines „öffentlichen“ bzw. „staatlichen“ Systems der Strafjustiz in der Frühen Neuzeit führten (Willoweit 2009). Durch eine konsequente historisierende Einbeziehung gesellschaftlicher Wandlungsprozesse, der Veränderungen der Denkweisen (Rechtsdenken und Strafrechtslehre) und der Rechtspraxis wurden die genannten langfristigen Transformationsprozesse untersucht und ältere, meist dogmengeschichtlich argumentierende Erklärungsmodelle (Reaktion auf steigende Kriminalität „schädlicher Leute“, Ausdehnung der Blutgerichtsbarkeit, Wiederentdeckung „germanischer Traditionen“) in Frage gestellt. Mehrere Sammelbände geben in europäisch vergleichender und interdisziplinärer Perspektive einen guten Überblick über die allgemeine Entwicklung des Strafrechts zwischen spätem Mittelalter und Früher Neuzeit, fassen den Forschungsstand zusammen und eignen sich auch als Einführung in neuere Ansätze und Methoden der rechtshistorisch ausgerichteten Strafrechtsgeschichte (Willoweit 1999; Schlosser/Willoweit 1999; Schlosser/Sprandel/Willoweit 2002; Lüderssen 2002). Deren Anwendung dokumentieren zahlreiche Fallstudien, welche die Strafgerichtsbarkeit im ländlichen Raum und in einzelnen Städten untersuchen und die Strukturen und Funktionen gerichtlicher Institutionen für niedere städtische und ländliche und die Centgerichtsbarkeit aufhellen (Schorer 2001; Birr 2002a; Hägermann 2002; Schultheiß 2007). Erforscht wurden weiterhin Veränderungsprozesse im Strafverfahren wie die Ablösung des Akkusations- durch den Inquisitionsprozess, das Verbot der Appellation in Strafsachen und die Herausbildung der Strafklage (Szidzek 2002; Guthke 2009), der Wandel der Urfehde zum Strafmittel und quasi polizeilichen Verwaltungsakt (Blauert 2000), die Einflüsse des mittelalterlichen Kirchenrechts (Kéry 2006) sowie Schuldzurechnung, Strafzwecke und Strafbegriff im gelehrten Recht bzw. juristischen Diskurs (Stübinger 2000; Maihold 2015). Allerdings beziehen nur einige Fallstudien zu den Städten Nürnberg, Konstanz oder Strasburg „Devianz und Kriminalität“ als gleichwertigen Forschungsgegenstand mit ein, die dann meist auch der historischen Kriminalitätsforschung zuzuordnen sind (Martin 1996; Schuster 2000; Franke 2013). Die breite Erforschung der Entstehung des öffentlichen Strafens belegt insgesamt die Durchsetzung des öffentlichen Strafanspruchs: Der frühneuzeitliche (Territorial-)Staat übernahm ex officio die Verfolgung von Kriminalität, wobei sich als Funktionen sowohl Repression bzw. Vergeltung als auch die Bewältigung sozialer Konflikte ausmachen lassen.
Öffentliches Recht und Policeyforschung
Diese Impulse haben neuere Forschungen der Strafrechtsgeschichte zumindest teilweise aufgenommen, die sich mit dem Strafgedanken in seiner historischen Entwicklung (Hilgendorf/Weitzel 2007), Strafzweck und Strafform (Schulze/Vormbaum/Schmidt/Willenberg 2008) oder der Abschaffung der Folter (Altenhain/Willenberg 2011) meist in Form von Sammelbänden beschäftigen. Neuere Ansätze und Perspektiven haben sich in den letzten Jahren auch in einem fruchtbaren, methodische Probleme thematisierenden Austausch mit der allgemeinen Rechtsgeschichte entwickelt, die sich stärker den Themen Devianz, strafrechtliche Normen und Justizpraxis zugewandt hat. Die Interdependenzen der Strafrechtsgeschichte und der Geschichte des öffentlichen Rechts haben insbesondere die Forschungen zur frühneuzeitlichen „guten Policey“ herausgearbeitet, die als Leitkategorie eines „wohlgeordneten“ Gemeinwesens, Feld administrativen Handelns und durch die entsprechende Normgebung (Policeyordnungen bzw. Ordnungsgesetze) die Entwicklung von Strafrecht, Strafjustiz und auch Kriminalität in der Frühen Neuzeit beeinflusste. Die Policeyforschung hat im Hinblick auf den Rechts- und Gesetzesbegriff, die Konzeptualisierung der devianten/strafbaren Handlungen, den Strafprozess (summarisches Policeystrafverfahren), die Strafen und die Strafzwecke (Utilitarismus, Sicherheit) Konzepte und Methoden weiterentwickelt, die auch die Strafrechtsgeschichte befruchtet haben bzw. befruchten können. So lassen sich Policeygesetze, die das Strafrecht ergänzten und weiterentwickelten, als Manifestation frühneuzeitlicher Multinormativität begreifen. Methodische Probleme bei der Erforschung und Interpretation von Funktion und Wirkung oder der Implementation bzw. Um- und Durchsetzung lassen sich auf das Strafrecht bzw. die Strafjustiz übertragen (Landwehr 2000; Härter 2005a, 2007, 2009b; siehe Kapitel 7). Im Folgenden wird daher die Policeyforschung bei der Darstellung der Quellen und Methoden konstitutiv mit einbezogen (siehe Kapitel 4.2).
Obwohl die Strafrechtsgeschichte ein wichtiges Feld insbesondere der Geschichte des öffentlichen Rechts bildet, hat auch diese bislang noch keine moderne Wissenschaftsgeschichte der frühneuzeitlichen Strafrechtswissenschaft hervorgebracht (Stolleis 1988). Dies mag auch damit zusammenhängen, dass das Interesse der auf Strafrecht spezialisierten Juristen an der Strafrechtsgeschichte nach 1945 vergleichsweise abgenommen hat. Ob die jüngsten, thematisch eher spezifischen Ansätze insgesamt zu einer dauerhaften Revitalisierung der historischen Forschung im engeren Rahmen des Strafrechts führen, muss sich noch zeigen. Dazu wäre es notwendig, die letztlich noch immer dominierende Ausrichtung auf die normative Sphäre (Recht, Gesetze, gelehrtes Recht), die Dogmengeschichte und einzelne Juristen und deren Werke thematisch und methodisch deutlich zu erweitern im Hinblick auf eine integrative Geschichte von rechtlichen Normen, juridischen und populären Diskursen, Gerichts- und Strafpraxis und Kriminalität unter Einbeziehung der politischen und Gesellschaftsgeschichte (Klippel 2002, 139; Willoweit 2009). In dieser Perspektivierung bleibt die Strafrechtsgeschichte freilich für die Rechtsgeschichte wie die historische Kriminalitätsforschung unverzichtbar, um die jeweiligen normativ-diskursiven Vorstellungen und Konzepte von abweichendem bzw. kriminellem Verhalten und die Funktionsweisen von Strafjustiz untersuchen und deuten zu können.

1.2Historische Kriminalitätsforschung

Die historische Kriminalitätsforschung hat sich seit den 1980er Jahren in der Geschichtswissenschaft als Forschungsfeld etabliert, das sich primär in der Sozial- und Gesellschaftsgeschichte und der historischen Kulturforschung verortet. Sie untersucht die Geschichte von Kriminalität und Strafjustiz auf der Basis von Kriminalakten und Gerichtsquellen, um Erkenntnisse über Devianz bzw. abweichendes Verhalten, soziale Kontrolle und die gesellschaftliche wie juridische Praxis des Umgangs mit abweichendem bzw. kriminellem Verhalten zu gewinnen (Schwerhoff 1999, 2011). Ausgehend von der Rechtspraxis wird Kriminalität im „Dreieck von Normen, abweichendem Verhalten und Sanktionen“ analysiert, um über den engeren Bereich von Rechtnormen und Justizsystem hinaus sozial- und kulturgeschichtliche Fragestellungen zu bearbeiten und das gesellschaftliche Bedingungsgefüge von Kriminalität bzw. abweichendem Verhalten und die damit verbundenen Konflikte zu erforschen (Schwerhoff 1999, 13; Habermas/Schwerhoff 2009, 9–11). Einige Autoren zielen vorwiegend darauf ab, das „soziale und lebensweltliche Umfeld“ von Devianz zu rekonstruieren und betrachten Kriminalitätsgeschichte mehr oder weniger nur als Zugang zu einer mikrohistorischen Alltagsgeschichte „von unten“, um die „Vermittlung von Sozialgeschichte und Historischer Kulturforschung“ voranzubringen (Eibach 1996, 709, 681). Die Perspektive auf Kultur und Konflikt und die Einbeziehung entsprechender Fragestellungen und Konzepte wird nach den frühen Studien van Dülmens (1990) jüngst insbesondere im internationalen Forschungszusammenhang wieder stärker betont und bietet insofern interdisziplinäre Verbindungslini...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Vorwort der Herausgeber
  5. Vorwort
  6. Inhalt
  7. Teil 1: Einführung
  8. Teil 2: Quellen und Methoden
  9. Teil 3: Probleme und Perspektiven der Forschung
  10. Teil 4: Bibliographie und Verzeichnisse