Revisionen des Mythos
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Revisionen des Mythos

Hiob als Denkfigur der KontingenzbewÀltigung in der deutschen Literatur

  1. 260 Seiten
  2. German
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Revisionen des Mythos

Hiob als Denkfigur der KontingenzbewÀltigung in der deutschen Literatur

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Über dieses Buch

Hiob hat die deutsche Literatur inspiriert wie keine andere Figur des Alten Testaments. Der Band nimmt die Varianten der Geschichte in den Blick. Das Hiobbuch wird als Meta-Mythos ĂŒber die Literatur gelesen, der als Mittel zur KontingenzbewĂ€ltigung dient. Die Hiobtexte vom 12. bis zum 20. Jahrhundert sind jeweils zeitaktuelle Antworten auf die Fragen: Wie viel Handlungsfreiheit hat der Mensch, wie viel in seinem Schicksal ist 'höhere Gewalt'?

HĂ€ufig gestellte Fragen

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Information

1HinfĂŒhrung

Die Figur Hiobs hat seit Anbeginn der kĂŒnstlerisch produktiven Bibelrezeption so stark wie kaum ein anderer Protagonist des Alten Testaments zur deutenden Auseinandersetzung provoziert. Grund hierfĂŒr ist die paradoxale Situation, von der das biblische Buch erzĂ€hlt, das seinen Namen trĂ€gt: Just ĂŒber Hiob, den frömmsten und mithin gottgefĂ€lligsten Menschen auf Erden, verhĂ€ngt Gott die schlimmsten denkbaren Leiden. Warum?
Dieser Heimgesuchte ist der Prototyp des leidenden Menschen und auch der Empörung gegen die ungerechte Verteilung der GlĂŒcksgĂŒter und des Leids – hier schreit sie zum Himmel. Seine Wanderung und historische Modifikation durch die Literatur in verschiedenen Epochen ist auch ein faszinierendes Seminarthema fĂŒr Germanisten.3
Prominente Texte des deutschsprachigen Literaturkanons, deren intertextuelle Bezugnahmen auf das Hiobbuch augenfĂ€llig sind und in der Rezeptionsforschung seit lĂ€ngerem wahrgenommen werden, sind etwa der Arme Heinrich Hartmanns von Aue, Goethes Faust oder Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz. Sie sollen in der vorliegenden Arbeit anhand ihrer Hiobbuch-Referenzen neu gelesen werden, ebenso wie einige weitere Texte, die bislang kaum oder gar nicht in den einschlĂ€gigen Fokus der Forschung gerĂŒckt sind – so Heinrich Heines autobiographischer Essay GestĂ€ndnisse oder das lateinische Drama Iobus patientiae spectaculum des Marburger Humanisten Johannes Lorichius.
Gleichwohl ist diese Studie nicht die erste, die sich dem Nachhall des Hiobbuchs in der deutschen Literatur widmet. Warum sollte es ihrer bedĂŒrfen? Haben doch die deutschen Hiob-Posttexte des Mittelalters bis zum 15. Jahrhundert bereits um 1970 herum unabhĂ€ngig voneinander Karl-Heinz Glutsch4 und Ulf Wielandt5 gesichtet. Weiter bis in die FrĂŒhneuzeit hatte sich schon 1930 Josef HĂŒgelsberger vorgetastet.6 Den Zeitraum „seit der frĂŒhen AufklĂ€rung" deckt Ulrike Schrader 1992 in ihrer Bibliographie annĂ€hernd vollstĂ€ndig ab und im Verlaufstext zwar ‚nur‘ exemplarisch, dafĂŒr aber mit Ausgriffen auch auf europĂ€ische Nachbarliteraturen.7 Georg Langenhorst schließlich hat fĂŒr das 20. Jahrhundert kein geringeres Korpus dokumentiert als die ganze (westliche) Weltliteratur.8
Die GrĂŒnde, die mir einen erneuten Blick auf bereits analysierte – und einen gĂ€nzlich neuen auf einige unanalysierte – Texte verschiedener Gattungen und Zeitstufen der deutschen Literatur unter dem Gesichtspunkt ihrer Hiobbuch-Referenzen geboten erscheinen lassen, können demzufolge keine sein, die noch mit etwelchem Bedarf an einer grundsĂ€tzlichen Sichtung des Materialkorpus oder gar mit einem – ohnedies methodisch fraglichen – nach einer geschlossenen oder exemplarischen rezeptionshistorischen Einflussgenealogie zusammenhĂ€ngen könnten. Vielmehr liegen die GrĂŒnde (es sind deren zwei) vor allem in den Zugriffsweisen bisheriger Studien auf a.) den PrĂ€text, also das Hiobbuch, und b.) seine Posttexte beschlossen.
Den ersten Grund verdeutlicht eine lose Auswahl von Zitaten zur thematischen Relevanz des Hiobbuchs: „Das Problem des ‚Schuldlos Leidenden‘ bildet, zusammengefasst, das zentrale Thema des Buches Hiob“,9 so resĂŒmiert Tausky. In Hiob stehe ein exemplarischer Mensch „fassungslos vor der Frage der Ungerechtigkeit, fassungslos vor einer höheren Macht, die straft, ohne zu begrĂŒnden, [
] ohne Ansehen von Gut und Böse, Schuld und Unschuld“, fasst Brita Steinwendtner zusammen.10 Im Hiobbuch werde das „Thema des Duldens und Aufbegehrens gegen Gott“11 verhandelt, sagt Ulrike Schrader, wĂ€hrend Langenhorst darin „die Schwierigkeit“ gestaltet sieht, „Erfahrungen unschuldigen Leidens mit den Erwartungen zu vereinbaren, die sich aus dem zuvor fraglos akzeptierten Weltbild und der Annahme eines [
] Tun-Ergehen-Zusammenhangs ableiten“.12
Keiner dieser Perspektiven soll hier widersprochen werden; jede davon ist – zumal in Relation zu den je wechselnden Fachinteressen mal theologischer, mal literaturhistorischer Natur, der sie entstammen – gleichermaßen legitim. Doch scheint mir das thematische Raster, das sie anlegen, unter neueren kulturwissenschaftlichen Blickwinkeln erweiterungsbedĂŒrftig. Das „Leid des Gerechten“ ist ein literarischer Topos, die „Frage nach dem Ursprung des Übels" eine theologisch-erkenntnistheoretische Problemstellung, die auf die Theodizee verweist. Der Aspekt des „Duldens und Aufbegehrens gegen Gott“ schließlich ist ein offenkundig ambivalenter, der in einer stark motivhistorisch orientierten Rezeptionsforschung dazu gefĂŒhrt hat, dass bislang nur Teil-Kanones zusammenfassend untersucht wurden, die sich mit Fug auf die Rezeption je einer HĂ€lfte des genannten Doppelaspekts beschrĂ€nkt haben. Hiob tritt im selben Text disparat in Erscheinung: zu Beginn und zum Ende des Buchs als glaubensfrommer Dulder, im Mittelteil als erkenntnisheischender Rebell gegen Gott. Das Figurenmotiv des ‚Dulders im Leid‘ ist bis in die frĂŒhe Neuzeit hinein in literarischen Posttexten das einzige rezipierte, wĂ€hrend ab dem 18. Jahrhundert zunehmend – und in der Gegenwart ĂŒberwiegend – das Figurenmotiv des ‚Rebellen‘ aufgegriffen wird, der die Theodizeefrage stellt. Nicht von ungefĂ€hr endet daher die Chronologie dreier der genannten Studien an der Epochenschwelle zur Neuzeit, wĂ€hrend zwei weitere bewusst erst mit (bzw. nach) dem Jahrhundert der AufklĂ€rung einsetzen.
Nun scheint sich mir aber im Lichte eines kulturanthropologischen Thesen- und Debattenkomplexes, der in den letzten 30 Jahren an Konjunktur gewann, ein neuer Zugang sowohl zum Hiobbuch als auch zu seinen Posttexten aufzudrĂ€ngen, der die genannten Teil-Themen durch ein abstrakteres, weiter gefasstes und deutlich weniger motivgebundenes Raster ergĂ€nzt oder gar ersetzt: Thema des Hiobbuchs, so meine These, ist das Problem der Erfahrung und BewĂ€ltigung von Kontingenz. Ihre Erfahrung ist eine anthropologische Universalie in monotheistischer AusprĂ€gung, die die enger gefassten Mythologeme und Philosopheme der Religionen und Konfessionen ĂŒbersteigt. Und ihre BewĂ€ltigung ist eine Grundfunktion der Kunst im Allgemeinen und der Literatur im Besonderen. Steht der Arme Heinrich des Hartmann von Aue ‚fassungslos vor der Frage der Ungerechtigkeit‘? Ist Goethes Faust ein ‚schuldlos Leidender‘? Behandelt Döblins Berlin Alexanderplatz das ‚Thema des Duldens und Aufbegehrens gegen Gott‘? Interpretatorische Angestrengtheiten wie diese könnten sich, so hoffe ich, mit einem thematologisch-kulturanthropologischen Zugang als obsolet erweisen und einem Blick weichen, der Posttexte verschiedener Rezeptionsphasen kommensurabel macht und andererseits jedem einzelnen von ihnen analytisch insofern gerechter wird, als er die spezifische Funktion der Hiob-Reminiszenzen fĂŒr das Ă€sthetische GesamtgefĂŒge des Textes selbst betont und dabei auch die metaliterarische Reflexion des Textes auf sich selbst als Instrument Ă€sthetischer KontingenzbewĂ€ltigung mit einbezieht.
Die KontingenzbewĂ€ltigung als kulturelle Grundfunktion der Religion wie der Literatur ist, angeregt durch die systemtheoretische TrennschĂ€rfe, die dem Begriff in den 80er Jahren Niklas Luhmann verliehen hatte, von der Gruppe ‚Poetik und Hermeneutik‘ 1994 zum Thema ihres letzten großen Aufsatzbandes erhoben worden. In ihm bereits ironisiert Franz Josef Wetz seine Konjunktur: „Kontingenz“, so stellt er fest, „ist ein Schlagwort der Gegenwartsphilosophie, unter dem sich die einen dieses, die anderen jenes, die dritten gar nichts vorstellen“.13 Dies gilt noch immer und ist allenfalls um einen Zusatz zu aktualisieren: Das Schlagwort ist lĂ€ngst nicht mehr nur eines der Philosophie, sondern eines der Kulturwissenschaft schlechthin.
Die unĂŒbersichtliche Semantik des Begriffs rĂŒhrt auch daher, dass er fĂŒr kategorial Unterschiedliches in Anschlag gebracht worden ist und wird: Grob vereinfacht, ĂŒberlagern sich in ihm eine modallogisch-ontologische Bedeutung (die, was die Sache nicht einfacher macht, in sich bereits schillernd ist) und eine theologisch-anthropologische. EinschlĂ€gig fĂŒr ZusammenhĂ€nge der Kulturwissenschaft – mithin auch den dieser Arbeit – ist die letztere.
Im modallogisch-ontologischen Sinne bezeichnet ‚Kontingenz‘ die SphĂ€re der Ereignisse oder Sachverhalte, die einerseits nicht notwendigerweise eintreten mĂŒssen, andererseits nicht unmöglich sind. In diesem Sinne schillert sie, weil sie den – naturgemĂ€ĂŸ nur teilweisen – Überlappungsbereich zweier Eigenschaften bildet, deren eine sich nur ex negativo aus einem Gegensatzpaar definiert – als das Nicht-Notwendige –, wĂ€hrend die andere auch positiv fassbar ist: als das Mögliche.14
Zur ‚BewĂ€ltigung‘ indes fordern den Menschen im Alltag seiner Lebenswelt keine Probleme der Modallogik heraus, sondern solche, die sein Handeln betreffen. Kulturelle Praktiken der ‚KontingenzbewĂ€ltigung‘ beziehen sich also naturgemĂ€ĂŸ auf den theologisch-anthropologischen Geltungsbereich des Begriffs. FĂŒr meinen Zusammenhang sei die Kontingenz daher zunĂ€chst einmal – vorbehaltlich spĂ€terer PrĂ€zisierungen – grob definiert als Die SphĂ€re aller Sachverhalte, die zwar so sind, wie sie sind, die aber nach menschlichem Ermessen auch anders hĂ€tten kommen können, was die Frage aufwirft, ob und inwieweit es im Spielraum menschlichen Handelns liegt (oder gelegen hĂ€tte), sie anders kommen zu lassen.
Es liegt auf der Hand, dass diese SphĂ€re immer dann zum Gegenstand existenzieller Fragen wird, wenn große Krisen auf- und mithin Sachverhalte eintreten, die dem Menschen die Grenzen seiner Handlungs- und WirkmĂ€chtigkeit aufzeigen. Zu Strategien der ‚BewĂ€ltigung‘, der Sinnstiftung, fordert Kontingenz heraus, wenn sie Leiden bedeutet, allgemeines oder im exemplarischen Einzelfall.
Religion als KontingenzbewĂ€ltigungspraxis ist die lebensmĂ€ĂŸige BewĂ€ltigung derjenigen Kontingenz, deren Verarbeitung zu Handlungssinn unmöglich ist, sofern die Wirklichkeit weiter als unsere individuelle oder auch kollektive Handlungsmacht reicht. [
] Religion ist die Kultur des Verhaltens zu allem, was nicht in unserer Disposition steht [
]. Religiöse Praxis als KontingenzbewĂ€ltigungspraxis stabilisiert angesichts der absoluten Differenz zwischen dem, dessen wir mĂ€chtig sind, und dem, dessen wir nicht mĂ€chtig sind, und sie stabilisiert ĂŒberdies angesichts fortdauernder Unsicherheit ĂŒber den Grenzlinienverlauf.15
Die literarische BewĂ€ltigung von UnverfĂŒgbarkeit in Gestalt menschlichen Leidens hat erstens beschwörend-bannenden Charakter – in einem gleichsam schamanischen Sinne: das Böse beim Namen zu nennen, um es von sich fernzuhalten –, zweitens eine kathartisch-‚entlastende‘ Funktion, die es dem Leser – so, wie es Blumenberg ins Bild des ‚Schiffbruchs mit Zuschauer‘ fasst – gestattet, sich der eigenen UngefĂ€hrdetheit zu versichern, indem er die Situation GefĂ€hrdeter betrachtet, und dient drittens der einfĂŒhlenden Vorbereitung auf das potenziell kĂŒnftig eintretende Übel. Zum mindesten aber kanalisieren die Kulturtechniken des Schreibens und Lesens das Verlangen nach Aussprache des Leidens bzw. nach mitvollziehender Teilhabe an dieser Aussprache – so wie es auch außerliterarische Kulturtechniken tun, die ihrerseits Ă€sthetischen Strukturen gehorchen (etwa Trauerrituale).
Literatur also betreibt KontingenzbewĂ€ltigung. Zugleich aber ist Kontingenz einer ihrer immanenten WesenszĂŒge als Medium:
Sowohl der phĂ€nomenologische Begriff der IntentionalitĂ€t als auch der strukturalistische Begriff des Paradigmas setzen [
] Kontingenz als Anders-Sein-Können voraus [
]. Somit ist der Begriff [
] nicht nur der klassischen Sprachtheorie nicht fremd, sondern geradezu deren Basiskomponente.16
Da zum Wesen jeder Geschichte der Zeitverlauf gehört, ist die konstitutive Grundstruktur jeder noch so handlungsarmen ErzĂ€hlung (und erst recht jeder dramatischen BĂŒhnenhandlung), sozusagen das Basis-Narrem schlechthin, dass sich ein Sachverhalt A, bei dem sie einsetzt, bis zu ihrem Ende in einen abweichenden Sachverhalt B verwandelt. Überdies lĂ€sst speziell beim epischen ErzĂ€hlen – und nicht nur, aber allzumal im fiktionalen ErzĂ€hlen – das Ebenenspiel zwischen Geschichte und narrativem Diskurs den Leser stets im Blick behalten, dass die Handlung so, wie sie eintritt, zu jedem Zeitpunkt davon abhĂ€ngt, wie der ErzĂ€hler ĂŒber seine Zeichensysteme verfĂŒgt (oder auch die Zeichensysteme ĂŒber ihn). In der Lyrik schließlich, die weniger von diegetischen Inhalten lebt als von der irreduziblen Übercodierung ihres Wortmaterials, und die ihren Leser auf die sprichwörtliche ArbitraritĂ€t des Einzelzeichens stĂ€ndig schon dadurch verweist, dass sie die semantischen Wechselbeziehungen jedes ihrer Einzelzeichen changieren lĂ€sst, tritt Kontingenz auf der bei Wellbery genannten paradigmatischen Ebene zutage.
Meine These ist nun, dass in der Zone zwischen Religion und Literatur das Hiobbuch als ein Urtext steht, der Kontingenz nicht nur bewĂ€ltigt, sondern auch konkret von ihr erzĂ€hlt: davon, wie menschliches Bewusstsein fĂŒr das Problem der Kontingenz allererst aufkommt und sich stufenweise verfestigt, davon, welche disparaten AnsĂ€tze es dazu geben kann, mit ihr umzugehen, aber auch davon, als wie unlösbar dieses Problem letztlich verbleibt – und nicht zuletzt davon, dass es die Literatur selbst ist, der die kulturelle Funktion zusteht, seine Aporien wenn nicht zu lösen, so doch gestaltet abzubilden.
In meiner Arbeit lese ich das Hiobbuch bewusst ‚textimmanent‘ als geschlossenes narratives GefĂŒge, also im Stil der narrativen Exegese, die – anders als die theologische Systematik – keine RĂŒcksicht auf seine redaktionelle Entstehungsgeschichte zu nehmen braucht.17
Um eine differenzierende LektĂŒre des Hiobbuchs unter dem genannten Aspekt zu ermöglichen, habe ich den Begriff der Kontingenz im anthropologischtheologischen Sinne nochmals in zwei SphĂ€ren aufgespalten. Und zwar so, wie es bereits Walter Haug und Michael Makropoulos getan haben, an deren Begrifflichkeiten ich mich anlehne: Beide unterscheiden eine (ausgedehnte) Zone der Nicht-VerfĂŒgbarkeit fĂŒr den handelnden Menschen von einer (eng begrenzten) Zone dessen, was frei nach Hans Blumenberg als ‚Handlungs- und Bewirkbarkeitsoptionen‘ zu bezeichnen ist. Die erstere nennt Haug ‚objektive Kontingenz‘ und Makropoulos ‚Weltkontingenz‘, die letztere heißt bei Haug ‚subjektive‘ und bei Makropoulos ‚Handlungskontingenz‘.18
Mit der animalischen Furcht vor Leid und Tod, die sich im Menschen – bezogen auf den ‚Absolutismus der Wirklichkeit‘, den „unbesetzten Horizont dessen, was herankommen mag“19 – zum OhnmachtsgefĂŒhl der Angst universalisiert habe, sieht Hans Blumenberg die menschliche Geistes- und Erkenntnisgeschichte beginnen. Letztlich ziele sie darauf, den ‚Horizont‘ so weit mit berechenbaren Sinnkonstrukten (etwa göttlichen Instanzen) zu besetzen, dass die Angst wieder in Furcht weiche und kontrollierbar sei. In Absetzung also von anderen Mythos-Theorien, die auf je eigene Weise die Entwicklung der menschlichen Erkenntnisse und ihrer Kriterien als einen Prozess offensiver WeltbemĂ€chtigung verstehen, beschreibt Blumenberg sie als Defensive – als perpetuierten Versuch, sich dem Zugriff des ‚Absolutismus der Wirklichkeit‘ zu entziehen. Distanzstiftende Maßnahme hierzu ist der Mythos. Da die „GefĂ€hrdung [
], auf die Stufe der Ohnmacht [
] zurĂŒckzusinken“,20 eine zeitlose Konstante ist, muss der Mythos tradiert und im Wandel der Weltwahrnehmungen stets so modifiziert werden, dass ihm „nicht von der Wirklichkeit widersprochen werden“21 kann. Dies ist die ‚Arbeit am Mythos‘, unter der die Umformung von MĂ€rchen und religiösen Dogmen ebenso zu verstehen ist wie die Ausformung dezidiert rationalistischer, sĂ€kularer ‚TotalentwĂŒrfe‘ und ĂŒberhaupt aller – poststr...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Halftitle
  3. Front Page1
  4. Title Page
  5. Copyright Page
  6. Front Page2
  7. Contents
  8. 1 HinfĂŒhrung
  9. 2 Das Buch Hiob
  10. 3 Die Hybris der Selbstbeschuldigung. Hartmann von Aue: ,Der Arme Heinrich‘ (um 1200)
  11. 4 Diskussionen als Geduldsprobe. Johannes Lorichius: ,Iobus patientiae spectaculum‘ (1543) und Hans Sachs: ,Ein Comedi [
] der Hiob‘ (1547)
  12. 5 Lizenz zur Ungeduld. Johann Christian GĂŒnther: ,Geduld, Gelaßenheyt, treu, fromm und redlich seyn‘ (1720)
  13. 6 Theatrale Anthropodizeen
  14. 7 „Herankommen lassen“. Alfred Döblin: ,Berlin Alexanderplatz‘
  15. 8 Hiob-Lyrik im 20. Jahrhundert: Drei kontrastive LektĂŒren
  16. 9 ResĂŒmee
  17. 10 Bibliographie
  18. 11 Index
  19. Fußnoten