Das politische System der EU
eBook - ePub

Das politische System der EU

  1. 364 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
eBook - ePub

Das politische System der EU

Angaben zum Buch
Buchvorschau
Inhaltsverzeichnis
Quellenangaben

Über dieses Buch

Auf den ersten Blick erscheint die EU als ein undurchschaubares Labyrinth: Die Kommission will alles verregeln, Ratssitzungen enden im Streit, das Parlament blockiert Entscheidungen. Hinzu kommt die Kakophonie zwischen den Mitgliedstaaten: Deutschland fordert eisernes Sparen, Frankreich eine verstärkte Ausgabenpolitik, die Briten liebäugeln mit dem Austritt.
Dieses Buch bietet den roten Faden durch das Labyrinth. In zwölf konsistent aufgebauten und verständlich geschriebenen Kapiteln entwickelt es schrittweise ein klares Bild vom politischen System der EU. Das reicht von Erklärungsansätzen zur europäischen Integration über den historischen Werdegang des Integrationsprozesses bis hin zu Struktur und Funktionsweise der europäischen Organe. Weitere Themen sind die kontinuierliche Erweiterung und Ausdifferenzierung des EU-Systems sowie seine Effizienz, Effektivität und demokratischen Verfasstheit. Den Abschluss bildet eine theoriegeleitete Zusammenfassung der Analyseergebnisse.
Für die vierte Auflage wurde das Buch völlig überarbeitet und auf den neuesten Stand nach dem Vertragsschluss von Lissabon und dem Ausbruch der Eurokrise gebracht.
Der Band richtet sich an Studierende der Politikwissenschaft in allen Studienphasen. Er bietet Einsteigern wie Fortgeschrittenen gleichermaßen Informationen und Denkanreize.

Häufig gestellte Fragen

Gehe einfach zum Kontobereich in den Einstellungen und klicke auf „Abo kündigen“ – ganz einfach. Nachdem du gekündigt hast, bleibt deine Mitgliedschaft für den verbleibenden Abozeitraum, den du bereits bezahlt hast, aktiv. Mehr Informationen hier.
Derzeit stehen all unsere auf Mobilgeräte reagierenden ePub-Bücher zum Download über die App zur Verfügung. Die meisten unserer PDFs stehen ebenfalls zum Download bereit; wir arbeiten daran, auch die übrigen PDFs zum Download anzubieten, bei denen dies aktuell noch nicht möglich ist. Weitere Informationen hier.
Mit beiden Aboplänen erhältst du vollen Zugang zur Bibliothek und allen Funktionen von Perlego. Die einzigen Unterschiede bestehen im Preis und dem Abozeitraum: Mit dem Jahresabo sparst du auf 12 Monate gerechnet im Vergleich zum Monatsabo rund 30 %.
Wir sind ein Online-Abodienst für Lehrbücher, bei dem du für weniger als den Preis eines einzelnen Buches pro Monat Zugang zu einer ganzen Online-Bibliothek erhältst. Mit über 1 Million Büchern zu über 1.000 verschiedenen Themen haben wir bestimmt alles, was du brauchst! Weitere Informationen hier.
Achte auf das Symbol zum Vorlesen in deinem nächsten Buch, um zu sehen, ob du es dir auch anhören kannst. Bei diesem Tool wird dir Text laut vorgelesen, wobei der Text beim Vorlesen auch grafisch hervorgehoben wird. Du kannst das Vorlesen jederzeit anhalten, beschleunigen und verlangsamen. Weitere Informationen hier.
Ja, du hast Zugang zu Das politische System der EU von Ingeborg Tömmel im PDF- und/oder ePub-Format sowie zu anderen beliebten Büchern aus Politik & Internationale Beziehungen & Politik. Aus unserem Katalog stehen dir über 1 Million Bücher zur Verfügung.

Information

1 Einleitung: die EU als politisches System

Die Europäische Union (EU) ist ein politisches System, das Macht und Kompetenzen mit den Mitgliedstaaten teilt; wie genau Macht und Kompetenzen zwischen der europäischen und der nationalen Ebene aufgeteilt sind, ist jedoch schwer zu erfassen. Auf der einen Seite erscheint die Union in zunehmendem Maße als ein den nationalen Staaten übergeordnetes politisches System, indem ihre Beschlüsse weitreichende bindende Wirkungen entfalten, die einer faktischen Überordnung gleichkommen. Auf der anderen Seite ist bekannt, dass die EU gegenüber den Mitgliedstaaten keinerlei Weisungsbefugnisse besitzt, sondern eher von diesen abhängig ist. Denn es sind die nationalen Regierungen, die sichtbar europäische Entscheidungen treffen, auch wenn der notwendige Konsens häufig schwer zu finden ist. Die Europäische Union stellt sich somit bereits auf den ersten Blick als ein von Paradoxien gekennzeichnetes System dar, was im Folgenden weiter erläutert wird.

1.1 Paradoxien des EU-Systems

Das Augenfälligste an der EU ist die große Diskrepanz zwischen einer „schwachen“, weil wenig auskristallisierten und unklar kodifizierten Systemstruktur einerseits und einer weitreichenden faktischen Ausübung politischer Entscheidungs- und Handlungsmacht andererseits. Hinzu kommt, dass die Systemstruktur, soweit sie überhaupt als solche wahrgenommen wird, wenig transparent ist und nur schwer im Kontext bestehender Formen politischer Herrschaft eingeordnet werden kann. Die Union entspricht weder dem institutionellen Gefüge eines nationalen Staates, noch lässt sie sich als internationale Organisation charakterisieren. Dementsprechend ist es schwierig, den Sitz politischer Machtausübung klar zu verorten. Weder die europäische Ebene, repräsentiert in erster Linie durch die Kommission, noch die Mitgliedstaaten, vertreten durch Rat1 und Europäischen Rat, scheinen das Sagen zu haben, vom Europäischen Parlament ganz zu schweigen.
In dieser komplexen Gemengelage, in der einzelne Akteure und Institutionen zwar über erhebliche Machtmittel verfügen, ein zentraler Kristallisationspunkt politischer Machtausübung jedoch fehlt, erscheinen die beteiligten Akteure und Institutionen häufig als wenig handlungs- oder gar durchsetzungsfähig: Kommissionsvorschläge scheitern regelmäßig am Veto des Rats; der Rat und auch der Europäische Rat scheitern am inneren Dissens; das Parlament muss gegenüber dem Rat ungeliebte Kompromisse eingehen. Spitzenpolitiker, Minister, ja sogar Regierungschefs scheinen im europäischen Kontext zu weitreichenden Zugeständnissen gezwungen zu sein, wenn es zu Entscheidungen kommen soll. Häufig enden allerdings Regierungskonferenzen und Gipfeltreffen im Dissens ihrer Akteure und damit in Entscheidungslosigkeit, worin sich die kollektive Ohnmacht des EU-Systems manifestiert. Fortschritte im Integrationsprozess werden somit nur erzielt, soweit es gelingt, die Entscheidungs- und Handlungsmacht einer Vielzahl von beteiligten Institutionen und Akteuren zu bündeln und in kleinteiligen Beschlüssen umzusetzen.
Diese Konstellation manifestiert sich auf analoge Weise in einem widersprüchlich verlaufenden Integrationsprozess. Obwohl Politiker ihn selten explizit befürworten oder gar aktiv vorantreiben, scheint der Integrationsprozess wie ein Selbstläufer unaufhaltsam voranzuschreiten. Werden dennoch Begründungen abgegeben, sind es zumeist alternativlose Sachzwänge oder nicht steuerbare Prozesse wie die Globalisierung, die zum Handeln zwingen. Insbesondere das Projekt der Währungsunion machte auf vielfältige Weise deutlich, dass einzelne Politiker vollmundig vom Anhalten oder mindestens Bremsen des gemeinsamen Zuges reden, im Zweifelsfalle aber dann doch im Fahren aufspringen. Ganz im Gegensatz dazu stellt sich das Tempo des Ausbaus oder der Reform der institutionellen Struktur dar. Zwar werden in jeder Integrationsrunde weitreichende Konzepte – nicht zuletzt auch zur Demokratisierung des Systems – debattiert; wenn es dann aber zur Beschlussfassung kommt, werden allenfalls schwache Kompromissformeln erzielt, während größere Reformprojekte regelmäßig auf der langen Bank landen.
Das Resultat dieser widersprüchlichen Entwicklungen – bei gleichzeitig zunehmendem Handlungsdruck infolge einer Reihe von neuen Problemen und Herausforderungen – ist eine Systementwicklung, die auf einer Kette von institutionellen Neuschöpfungen, vorübergehenden Hilfskonstruktionen, informellen Regelungen, kurz, auf einem erfindungsreichen Flickwerk beruht, das die in den Verträgen kodifizierte Systemstruktur extrem ausdifferenziert und teilweise auch deformiert. Damit gelingt es zwar einerseits, die vielfachen Lücken und Schwachstellen des Systems zu füllen oder zu überbrücken, und somit seine Funktionsfähigkeit und Steuerungskapazität kurzfristig zu erhalten oder gar zu verbessern; andererseits trägt aber gerade diese Vorgehensweise zur weiteren Verringerung der Transparenz, der Effizienz und auch der Kontrollierbarkeit des Systems bei, was sich nicht zuletzt in einer dramatisch sinkenden Akzeptanz der EU in der öffentlichen Meinung manifestiert.
Insgesamt ist das EU-System somit von einer Reihe von Paradoxien gekennzeichnet, die sich in augenfälligen Diskrepanzen manifestieren:
  • – der Diskrepanz zwischen einer „schwachen“ Systemstruktur und der „Stärke“ ihrer politischen Entscheidungs- und Handlungsmacht;
  • – der Diskrepanz zwischen einer hochgradigen Fragmentierung politischer Entscheidungsfindung und der zentralisierenden Wirkung ihrer Beschlüsse;
  • – der Diskrepanz zwischen Macht und Ohnmacht der maßgeblichen Akteure und Institutionen; und schließlich
  • – der Diskrepanz zwischen einer Vielzahl von „großen Entwürfen“ zur gezielten Ausgestaltung des Systems und seiner faktisch schritt- und stückweisen, quasi ungesteuert weiterwuchernden Entwicklung in widersprüchliche Richtungen und ohne erkennbares Endziel.
Angesichts solcher Diskrepanzen stellt sich die Frage, ob diese als Zufallsprodukte des Integrationsprozesses, als nicht intendierte Fehlentwicklungen, oder aber als notwendige Bestandteile der Herausbildung einer neuen politischen Ordnung jenseits des Nationalstaats zu werten sind. Anders ausgedrückt: Handelt es sich bei diesen Diskrepanzen um tatsächliche Schwächen des Systems oder markieren die Schwächen des Systems seine zentralen Merkmale und Stärken?
Vor dem Hintergrund der aufgeworfenen Fragen soll im Folgenden die EU als ein neuartiges politisches System, das sich jenseits des Nationalstaats herausbildet, analysiert werden. Dieser Analyse liegt die These zugrunde, dass die oben skizzierten Diskrepanzen keine Zufallsprodukte oder Fehlentwicklungen der Integration darstellen, sondern charakteristische Merkmale des EU-Systems sind. Dementsprechend werden im vorliegenden Buch zunächst der Prozess der Herausbildung dieses Systems, die darüber auskristallisierenden institutionellen Strukturen sowie die sich entfaltenden Funktionsmechanismen und Verfahrensweisen der Entscheidungsfindung und Politikimplementation einer eingehenden Analyse unterzogen. Des Weiteren werden die Grundstruktur des Systems, seine wesentlichen Komponenten, aber auch sein Aus- und Umbau sowie seine Erweiterung unter dem Einfluss eines erhöhten externen Handlungsdrucks und einer sich entfaltenden internen Entwicklungsdynamik analysiert. Schließlich werden die grundlegenden Funktionsmechanismen des Systems sowie seine konkreten Verfahrensweisen der Beschlussfassung und Konsensfindung, der Politikformulierung und -implementation herausgearbeitet. Insgesamt gilt es dabei, die spezifischen Merkmale das EU-System, die Dynamiken seiner Entfaltung sowie die Unterschiede zu herkömmlichen Formen politischer Ordnung zu erfassen. Zudem ist zu zeigen, in welcher Weise die EU die bestehenden politischen Systeme auf der nationalen Ebene ergänzt, transformiert oder gar ersetzt.

1.2 Themen und Fragestellungen

Vor dem Hintergrund der im Vorgehenden skizzierten Merkmale und Paradoxien des EU-Systems soll im Folgenden ein kurzer Überblick über die zentralen Themen und Fragestellungen des Buches gegeben werden.
In Kapitel 2 wird zunächst die Theoriebildung zum europäischen Integrationsprozess sowie zur EU als politischem System in den Blick genommen. Dabei wird ein breites Spektrum von theoretischen Ansätzen präsentiert, die zwei Fragen zu klären versuchen, die auch diesem Buch zugrunde liegen. Zum einen: Wie lässt sich die erstaunliche Dynamik der europäischen Integration erklären? Zum anderen: Wie ist das System, das über diesen Prozess auskristallisiert, zu charakterisieren? Ausgehend von Neo-Funktionalismus, Intergouvernementalismus und Föderalismus als den Eckpfeilern der Integrationstheorie werden in der Folge neuere Varianten dieser Ansätze ebenso wie gänzlich andersartige theoretische Zugänge vorgestellt und auf ihre Erklärungskraft bezüglich der obengenannten Fragen überprüft. In einem weiteren Schritt wird die jüngste theoretische Wende hin zur Erfassung der EU als postnationales politisches System beleuchtet. Zum Abschluss des Kapitels wird ein heuristisches Konzept entwickelt, das die EU als dualistisches oder bizephales System fasst; dieses Konzept fungiert als strukturierende Leitlinie für die gesamte Analyse des vorliegenden Buches.
Die folgenden zwei Kapitel vermitteln einen Überblick über den historischen Werdegang der europäischen Integration und die Herausbildung des EU-Systems. Kapitel 3 ist den ersten drei Phasen dieses Prozesses gewidmet, die durch den Wechsel zwischen beschleunigter Integration und Stagnation gekennzeichnet sind. Während in Phase 1 und 3 primär supranationale Integrationsschritte dominieren, steht Phase 2 im Zeichen intergouvernementaler Konfigurationen, die dem Integrationsmodell eine andere Richtung verleihen. Diese widersprüchlichen Entwicklungen werden einerseits mit der Notwendigkeit, einen institutionellen Rahmen für gemeinsames Handeln zu schaffen, andererseits dem Willen der Mitgliedstaaten, möglichst weitgehende Kontrolle über den Prozess zu behalten, begründet. Abschließend werden die zentralen Charakteristika der EU zusammengefasst, wie sie über die Wechselwirkung zwischen supranationaler Integrationsdynamik und intergouvernementaler Entscheidungsmacht auskristallisieren.
In Kapitel 4 wird die vierte Phase der europäischen Integration vorgestellt, in der die EU voll entfaltet ist, aber weiteren Veränderungen unterliegt. Diese Phase ist erneut von der Dominanz einer intergouvernementalen Systemkonstellation geprägt. Es kommt jedoch nicht zu einer Stagnation des Integrationsprozesses, wie dies in der zweiten Phase der Fall ist, sondern zu einer Stärkung der Handlungsfähigkeit der intergouvernementalen Organe. Dementsprechend ist diese Phase durch umfangreiche Erweiterungen der Union, eine signifikante Vertiefung der Integration sowie zunehmende innere Differenzierungen gekennzeichnet. Zum Abschluss des Kapitels wird der Gesamtprozess der Herausbildung des EU-Systems von seinen Anfängen bis zur Gegenwart zusammengefasst; darüber hinaus werden die internen und externen Einflussfaktoren für die ungleichmäßig voranschreitende Integration, ihre asymmetrische Form und schließlich ihr Ergebnis, die dualistische Struktur der EU, offengelegt.
In Kapitel 5 wird die institutionelle Grundstruktur des EU-Systems in ihren charakteristischen Merkmalen analysiert. Dazu werden die Organe der EU jeweils einzeln und in ihrem Verhältnis zueinander dargestellt: Kommission, Rat, Europäischer Rat, Parlament und schließlich der Gerichtshof. Für jedes Organ werden die Organisationsstrukturen, formalen Kompetenzen sowie faktischen Handlungsmöglichkeiten beleuchtet, sodass ein plastisches Bild ihrer Funktion im Gesamtgefüge der Union entsteht. Dabei wird deutlich, dass die institutionellen Akteure über breite Handlungsspielräume verfügen, aber auch wirkmächtigen Einschränkungen unterliegen. Insgesamt stellt sich die EU als ein System von widersprüchlich verfassten Institutionen dar, die sich gegenseitig ergänzen, aber auch einschränken. Aufgrund ihrer dualistischen Systemstruktur weicht die EU grundsätzlich von bekannten Formen politischer Ordnung ab, seien es internationale Organisationen oder nationale Staaten, auch wenn sie im Einzelnen bestimmte Merkmale mit diesen teilt.
In Kapitel 6 steht demgegenüber die Funktionsweise der EU im Zentrum. Hier geht es um die Analyse der Mechanismen und Verfahren der Entscheidungsfindung im Rahmen dreier Kategorien von Entscheidungen: der Gesetzgebung und Politikformulierung, der Weiterentwicklung der konstitutionellen Ordnung der EU, meist in der Form von Vertragsänderungen, sowie schließlich der Politikimplementation. Dabei werden einerseits die formalen Entscheidungsabläufe vorgestellt, andererseits aber auch die Praxis der Entscheidungsfindung erhellt, die sich teilweise erheblich von ihrem formalen Rahmen entfernt. Im Zentrum des Interesses steht die Interaktion zwischen den einzelnen Organen im Entscheidungsprozess, die durch vielfältige Versuche gekennzeichnet ist, die faktische Einflussnahme auf Entscheidungen über den formalen Kompetenzrahmen hinaus auszuweiten. Insgesamt zeigt dieses Kapitel, dass die Entscheidungsfindung im EU-System einerseits durch ein hohes Konfliktpotenzial, andererseits durch elaborierte Mechanismen der Kooperation und Konsensfindung strukturiert ist.
Kapitel 7 ist der Frage gewidmet, wie die einzelnen Organe ihre Handlungsstrategien entsprechend ihrer Position im Gesamtgefüge der Union ausrichten und optimieren. Für die supranationalen Organe geht es dabei um die maximale Nutzung bestehender Kompetenzen und anderweitiger Ressourcen sowie um interne Konsensfindung, um gegenüber Rat und Europäischem Rat mehr Einfluss ausüben zu können. Für die intergouvernementalen Organe ist die interne Konsensfindung ein Muss, wollen sie ihre Handlungsmacht voll ausspielen, oder gar eine Führungsrolle in der EU übernehmen. In beiden Fällen werden die Prozesse der internen Konsensfindung in starkem Maße von den interinstitutionellen Beziehungen strukturiert, die ihrerseits durch Konflikte und Konsenssuche bestimmt sind. Insgesamt verdeutlicht dieses Kapitel, wie die Akteure und Institutionen im EU-System versuchen, ihren Einfluss durch geeignete Strategien zur internen Konfliktminimierung sowie geschickte Taktiken gegenüber den anderen Organen auszuweiten oder gewisse Einschränkungen ihrer Verfasstheit zu kompensieren.
In Kapitel 8 geht es erneut um die Systemstruktur der EU, wobei jetzt deren Erweiterung und Ausdifferenzierung im Fokus steht. Im Einzelnen werden hier neue institutionelle Strukturen und Arrangements vorgestellt, die sich vornehmlich aufseiten der intergouvernementalen Systemdimension herausbilden, teilweise aber auch weder der einen, noch der anderen Seite zuzuordnen sind. Beispielhaft für die erstgenannte Entwicklung stehen die Zweite und Dritte Säule sowie ihre institutionellen Folgekonstrukte. Die letztgenannte Tendenz wird durch die Beschreibung einer Vielzahl von unabhängigen Agenturen, denen die Wahrnehmung spezieller Aufgaben obliegt, illustriert. Ein dritter Teil des Kapitels ist der Herausbildung von Formen der differenzierten Integration gewidmet, wie sie insbesondere in der Eurogruppe zum Ausdruck kommt. Insgesamt beleuchtet das Kapitel den permanenten Aus- und Umbau des EU-Systems, der zumeist die intergouvernementale Systemdimension stärkt, zugleich aber auch der schleichenden Machtausweitung der Kommission entgegenwirkt.
Kapitel 9 nimmt ebenfalls die Erweiterung und Ausdifferenzierung der EU in den Blick; hier geht es jedoch um die vertikale Strukturierung des Systems durch den Einbezug zunächst der nationalen sowie längerfristig auch der regionalen Regierungs- und Verwaltungsebene in die Funktionsweise der Union. Im Einzelnen wird gezeigt, wie sich über die europäische Gesetzgebung, die Beteiligung nationaler Akteure an europäischen Entscheidungsprozessen sowie die Implementation von EU-Politiken in den Mitgliedstaaten ein systemischer Nexus zwischen der europäischen und der nationalen Ebene herausbildet. Der Einbezug der regionalen Ebene erfolgt demgegenüber selektiver im Rahmen der speziell auf die Regionen zugeschnittenen Kohäsionspolitik. Zusätzlich zeigen aber auch die Regionen Präsenz auf der europäischen Ebene über ihre jeweiligen Vertretungen sowie den Ausschuss der Regionen. Insgesamt zeigt dieses Kapitel, wie sich die Union über vielfältige Interaktionen mit den „unteren“ Ebenen langfristig als ein Mehrebenensystem konstituiert.
Kapitel 10 ist dem Einbezug nicht-staatlicher Akteure in das EU-System gewidmet. Im ersten Teil geht es zunächst um klassische Formen der Interessenvertretung und des Lobbyings auf der europäischen Ebene, die sich allerdings schnell als nicht so klassisch erweisen. So weist die Interessenvertretung in der EU hochgradig fragmentierte Strukturen auf; zudem sind die Zugangswege zu den Entscheidungsträgern sehr heterogen. Erstaunlich ist allerdings, dass nicht-staatliche Akteure auch in hohem Maße in die Politikfunktionen der EU einbezogen sind, etwa durch ihre Rolle in bestimmten Gesetzgebungsverfahren, in der Definition technischer Normen sowie in der Implementation von europäischen Politiken. Insgesamt zeigt das Kapitel auf, wie das EU-System in die ökonomische und gesellschaftliche Sphäre ausgreift, und so – in inhaltlicher und institutioneller Hinsicht – einen systemischen Nexus zwischen Staat und Markt sowie zwischen Staat und Gesellschaft herstellt und sich dabei in zunehmendem Maße auf Formen der gesellschaftlichen Selbststeuerung stützt.
In Kapitel 11 werden Bewertungsfragen zur EU thematisiert. Anhand der Kategorien Effizienz und Effektivität wird überprüft, was das System leistet und wo seine Defizite zu verorten sind. Dabei werden bestimmte Stärken und Schwächen in der Struktur des Systems und seiner Funktionsweise herausgearbeitet sowie die Rahmenbedingungen für deren Akzentuierung oder Abmilderung erfasst. Bezogen auf die Effizienz der Systemstruktur der EU sowie ihrer Entscheidungsverfahren ergibt sich ein gemischtes Bild, indem beide Dimensionen durchaus effizient strukturiert sind, im Einzelnen aber zahlreiche Ineffizienzen auftreten. Die Effektivität des Systems, die an der Steuerungsfähigkeit in den einzelnen Politiken abgelesen wird, stellt sich als von drei interdependenten Faktoren abhängig dar: der Kompetenzausstattung der europäischen Ebene, der Länge der Steuerungskette sowie dem Grad der Autonomie der Mitgliedstaaten. Insgesamt wird die Effizienz und Effektivität der EU unter Berücksichtigung ihrer neuartigen systemischen Struktur als beachtlich gewertet.
In Kapitel 12 steht die demokratische Verfasstheit der EU sowie ihre demokratische Legitimation im Vordergrund. Einleitend werden zunächst das viel zitierte „demokratische Defizit“ des Systems und insbesondere die entsprechenden Defizite des Europäischen Parlaments aufgezeigt. In einem zweiten Schritt werden die Möglichkeiten der Schaffung alternativer Formen demokratischer Repräsentation und Partizipation, wie sie einerseits von nationalen Vorbildern abgeleitet, andererseits als postnationale Praktiken konzipiert werden, in ihren Vor- und Nachteilen diskutiert. Schließlich werden in einem dritten Schritt die im EU-System angelegten Ansätze zur Herausbildung neuer Formen demokratischer Repräsentation, Partizipation und Legitimation analysiert. Diese werden in bestimmten Checks und Balances, in postnationalen Praktiken des EP, sowie in der Herausbildung von Formen assoziativer Demokratie verortet. Hauptthese ist dabei, dass es gerade die Defizite des EU-Systems sind, die Raum bieten für die Entwicklung alternativer demokratischer Praktiken.
Im 13. Kapitel schließlich wird der Versuch unternommen, das Gesamtsystem der EU unter den eingangs aufgeworfenen Fragestellungen analytisch zu fassen und die Triebfedern seiner Entwicklungsdynamik herauszuarbeiten. Dazu wird die EU zunächst durch mehrere Charakteristika erfasst, nämlich als Verhandlungs-, Verflechtungs- sowie als Mehrebenensystem. Zusammengenommen konstituieren diese Charakteristika die EU als dualistisches oder bizephales System, das auf einer einmaligen Kombination von intergouvernementalen und supranationalen Institutionen beruht. Die Entwicklungsdynamik der Union wird mit dieser widersprüchlichen Struktur begründet. So ruft der Strukturkonflikt zwischen intergouvernementalen und supranationalen Organen beziehungsweise zwischen den Interessen und Präferenzen, die diese jeweils repräsentieren, die institutionelle Ausdifferenzierung des Systems hervor. Die bizephale Struktur der EU und die daraus resultierende Prozessdynamik werden somit als Schlüssel zum Verständnis der europäischen Integration gewertet.
Kapitel 14 bietet abschließend einen kurzen Ausblick auf die Perspektiven der EU. Angesichts enormer externer Herausforderungen sowie anhaltender interner Friktionen wird hier diskutiert, ob und in welcher Weise die EU in der Lage ist, die jeweiligen Herausforderungen zu bewältigen und zugleich die nötigen Reformen der Systemstruktur zu implementieren. Zudem wird betont, dass die EU die enorme Kluft zwischen integrationsorientierten europäischen Eliten und einer zunehmend skeptischen Öffentlichkeit überbrücken muss, will sie weiterhin handlungsfähig bleiben.
dp n="31" folio="9" ?

2 Theoriebildung zur europäischen Integration und zur EU

Die im Vorgehenden skizzierten Merkmale und Widersprüche des EU-Systems haben auf vielfältige Weise die wissenschaftliche Analyse und Debatte angeregt. Speziell in der Politikwissenschaft gibt es eine lange Tradition von Erklärungsversuchen zur Herausbildung und Weiterentwicklung zunächst der EG (Europäische Gemeinschaft) und später der EU. Zwei Grundfragen haben die theoretische Debatte bestimmt: zum einen die Frage nach den Antriebskräften der Integration, den Akteuren, die sie vorantreiben, und auch den hemmenden Kräften, die sich der Integrationsdynamik entgegenstellen; zum anderen die Frage nach den Charakter...

Inhaltsverzeichnis

  1. Titel
  2. Impressum
  3. Vorwort
  4. Inhaltsverzeichnis
  5. Verzeichnis der Abkürzungen
  6. Verzeichnis der Tabellen, Übersichten und Abbildungen
  7. 1 Einleitung: die EU als politisches System
  8. 2 Theoriebildung zur europäischen Integration und zur EU
  9. 3 Die Herausbildung der Europäischen Union: supranationale Dynamik versus intergouvernementale Entscheidungsmacht
  10. 4 Die Konsolidierung der Europäischen Union: Erweiterung, Vertiefung, Ausdifferenzierung
  11. 5 Die institutionelle Grundstruktur der EU
  12. 6 Die Funktionsweise der EU: Konflikt versus Konsens im Entscheidungsprozess
  13. 7 Entscheidungsfindung und Performance der einzelnen Organe
  14. 8 Die institutionelle Ausdifferenzierung der EU
  15. 9 Die Strukturierung der EU als Mehrebenensystem
  16. 10 Die Inkorporation nicht-staatlicher Akteure in das EU-System
  17. 11 Funktionsprobleme des EU-Systems: Effizienz und Effektivität
  18. 12 Demokratische Legitimation der EU
  19. 13 Das EU-System in seiner Gesamtheit
  20. 14 Ausblick: die Perspektiven der Europäischen Union
  21. Literaturverzeichnis