1.1 Der lange Weg zur Marktwirtschaft
Mit der Selbstauflösung der Sowjetunion am 21. Dezember 1991 begann in Russland ein bis heute andauernder Transformationsprozess, der nicht nur den schrittweisen Übergang zur Marktwirtschaft, die Einführung demokratisch legitimierter Machtstrukturen und den Aufbau der Zivilgesellschaft zum Ziel hat, sondern auch und vor allem mit einem tief greifenden Wertewandel einhergeht.
Der Zusammenbruch der Sowjetunion war begleitet von dem „Verschwinden“ funktionierender Rechts- und Verwaltungsorgane, dem Kollaps der Wirtschaft, der Gefahr des Verlusts der staatlichen und territorialen Souveränität (Gefahr der „jugoslawischen Variante“), dem unversöhnlichen Gegensatz zwischen gesetzgebendem Organ (Staatsduma) und der Exekutive (der „Kreml“), sowie von einem fehlenden Konsens der Machtelite des Landes im Hinblick auf die weitere wirtschaftliche und politische Entwicklung Russlands.
Die ersten Jahre dieses Transformationsprozesses (90er Jahre des 20. und frühe 00er Jahre des 21. Jahrhunderts) waren dabei geprägt von einem weitgehenden Zusammenbruch des tradierten Wertesystems, von Gefühlen wie Orientierungslosigkeit, Ohnmacht, Selbstzweifel, Existenzangst, Schicksalsergebenheit oder – abhängig von persönlichem Glück, Zufall und sozialer Herkunft des Einzelnen – auch von einem Gefühl des „Alles ist möglich!“, „Alles ist erlaubt!“. Es herrschte ein weitgehend rechtsfreier Raum. Der „Wild-West-Kapitalismus“ der ersten Jahre war dominiert vom „Gesetz des Stärkeren“, schamloser Bereicherung auf Kosten der Allgemeinheit und der weitgehenden Missachtung der Rechte großer Teile der Bevölkerung.
Mit dem Machtantritt von Präsident Putin begann sich diese, sich weitgehend selbst überlassene, oligopolistische Form der Marktwirtschaft allmählich zu wandeln – hin zu einem stark dirigistischen Modell des Staatskapitalismus. Mit den unter Präsident Putin begonnenen politisch-administrativen Reformen (wie z. B. der Schaffung von sieben Föderationskreisen und der Einführung von Bevollmächtigten des Präsidenten im Jahre 2000 sowie der Abschaffung der Direktwahl der Gouverneure im Jahre 2005), die zu einer Stärkung der Zentralmacht (der sogenannten „Machtvertikale“) führten und die schrittweise Durchsetzung föderalen Rechts in allen Verwaltungseinheiten des Landes ermöglichten, konnte die Gefahr eines Zerfalls Russlands gebannt und ein Prozess der (Rück-)Besinnung auf die Werte der russischen Kultur eingeleitet werden. Nicht zufällig gab es zu dieser Zeit eine breite, öffentliche Diskussion um die Suche nach einer neuen „nationalen Idee“ für Russland. Dieser Konsolidierungsprozess verlief (und verläuft) nicht ohne zeitweilige Rückschläge, innere Widersprüche und andere – nach westlichem Verständnis –schwer tolerierbare Begleiterscheinungen. Noch immer ist Russland weit davon entfernt, ein demokratisch regiertes Land mit gleichen und allgemein respektierten Bürgerrechten zu sein. In jüngster Zeit häufen sich Fälle von Xenophobie und Intoleranz gegenüber alternativen Lebensweisen und ethnischen Minderheiten. Beamtenwillkür und Korruption sind (wenngleich seit 2011 im Rückgang begriffen) noch lange nicht überwunden. Bürgerrechte, soziale Teilhabe und die Sicherung sozialer Mindeststandards für alle gewinnen zwar zunehmend an Bedeutung, sind in der öffentlichen Diskussion und Wahrnehmung jedoch noch immer unterrepräsentierte Themen. In jüngerer Vergangenheit häuften sich Indizien für ein Rollback Russlands auf dem Weg zur Zivilgesellschaft. Gesetze, die die freie Entfaltung von Bürgerrechten behindern – z. B. das föderale Gesetz „Über ausländische Agenten“ (das eine massive Beschränkung der Tätigkeit von NGOs und eine Brandmarkung der Zusammenarbeit russischer NGOs mit internationalen Organisationen als „Agenten“ beinhaltet) oder das föderale „Gesetz über die Beschränkung der Propaganda der Homosexualität“ sind die wohl markantesten Beispiele hierfür. Das russische Rechtssystem ist bis heute so beschaffen, dass es den „Schutz der Interessen Dritter“ nicht kennt, d. h. eine Privatperson kann nicht vor Gericht auf die Durchsetzung von Bürgerinteressen (etwa beim Umweltschutz oder bei geplanten öffentlichen Bauvorhaben) klagen. Gleichzeitig schreitet die politische Liberalisierung des Landes voran: Gegenwärtig gibt es in Russland ca. 70 Parteien (die meisten davon allerdings mit nur wenigen Mitgliedern und geringem politischem Einfluss). Im November 2013 fand das Allrussische Bürgerforum (Obschtscherossíjskij Grazhdánskij Fórum) mit mehr als 500 Delegierten aller politischen Schattierungen statt. Dabei handelt es sich um ein permanentes außerparlamentarisches Gremium, das unter Nutzung moderner Medien (online) in zwölf Arbeitskreisen wichtige politische Themen, wie „Örtliche Selbstverwaltung“, „Umweltschutz“, „Wahlbeobachtung“ etc. diskutiert und so die öffentliche Meinung zu diesen Themen maßgeblich beeinflusst. Ziel ist die Stärkung der Zivilgesellschaft und eine stärkere öffentliche Kontrolle der Exekutivorgane (so werden z. B. gegenwärtig sogenannte „Gesellschaftliche Räte“ bei den Polizeiinspektionen etabliert, die über die Einhaltung der Bürgerrechte durch die Polizei wachen und Fälle von Amtsmissbrauch aufdecken sollen).
1.2 Kurze Charakteristik der russischen Wirtschaft
Die russische Marktwirtschaft der Gegenwart ist ein System des dirigistischen Staatskapitalismus – charakterisiert durch einen hohen Grad an Regulierung und Kontrolle. Die Staatsverschuldung Russlands betrug im Jahr 2013 „traumhafte“ 12 % des BIP (zum Vergleich: Für Deutschland beträgt die Quote 82 %.). Die Investitionsquote des Staates lag 2013 bei ca. 20 % des BIP. Allerdings überwiegt der Nettokapitalabfluss die Direktinvestitionen in die Wirtschaft noch immer. Laut Ernst & Young belief sich die Kapitalflucht aus Russland im Jahr 2012 auf ca. 54 Milliarden USD (zum Vergleich: Noch 2011 betrug sie 80,5 Milliarden USD.). Mittlere Unternehmen in Russland investieren nur vereinzelt. Enge Beziehungen zu den politisch Verantwortlichen (insbesondere in der Exekutive) sind nach wie vor der wichtigste Faktor für geschäftlichen Erfolg. Anstelle breitenwirksamer systematischer Förderung mittelständischer Unternehmen in der Industrie werden einzelne Vorzeigeprojekte (wie etwa das als „russisches Silikon Valley“ vermarktete Innovationszentrum Skolkowo) werbewirksam in Szene gesetzt. Der 2012 unternommene Versuch, höhere Steuersätze für Kleinunternehmer durchzusetzen hat dazu geführt, dass landesweit ca. 750.000 Einzelunternehmer offiziell vom Markt „verschwunden“ sind –teilweise, weil sie ihr Gewerbe aufgegeben und einen regulären Job aufgenommen haben, teilweise, weil sie in die Schattenwirtschaft abgewandert sind.
Mit der Stabilisierung der russischen Wirtschaft nach der globalen Finanzkrise hat sich das Reformtempo in den letzten Jahren verlangsamt. Man wiegt die Bevölkerung in dem Glauben, dass das Land auf einem guten Weg sei und „das Schlimmste“ überstanden sei. Dringend erforderliche Strukturreformen und Privatisierungen wurden (und werden) immer wieder verschoben. Lohnzuwächse von über 5% im Jahr 2013 nährten diese Illusion, wenngleich sie abgekoppelt vom Wirtschaftswachstum waren (das bei etwa 2 % lag). Der Ölpreis stagniert (aufgrund einer krisenbedingt geringeren Nachfrage in Europa); auch der Gaspreis gerät (nicht zuletzt durch die Erschließung und den Export amerikanischer Schiefergasvorkommen) zunehmend unter Druck. Gleichzeitig ist die Arbeitsproduktivität in Russland noch immer auf einem sehr niedrigen Niveau – was bei steigenden Löhnen höhere Lohnstückkosten nach sich zieht. Die russische Wirtschaft steuert gegenwärtig auf eine Rezession zu, die Haushaltseinnahmen wachsen nicht wie geplant weiter. Deshalb wurden von der föderalen Regierung in Moskau bereits Sonderregeln für die Haushalte der Gebietskörperschaften eingeführt, die darauf gerichtet sind, über die Gebietshaushalte in den nächsten drei Jahren Einsparungen von insgesamt 2 % des föderalen Budgets zu erzielen. (Diesen Sparmaßnahmen fallen auch Investitionsfördermaßnahmen zum Opfer, die durch die Gebietshaushalte finanziert wurden bzw. zu finanzieren wären.) Besonders kritisch ist die Finanzierungslücke der staatlichen Rentenversicherung – aktuell beträgt sie ca. 40 %. Die fehlenden Mittel werden derzeit aus dem Steueraufkommen des föderalen Haushalts finanziert. Bislang ist die Regierung davor zurückgeschreckt, unpopuläre Maßnahmen, die eine grundlegende Reform des Rentensystems mit sich bringen würde, zu ergreifen (etwa das Renteneintrittsalter von derzeit 55 Jahren bei Frauen und 60 Jahren bei Männern anzuheben, oder die Beitragssätze zu erhöhen).
Weitere, im Ansatz stecken gebliebene Reformen, sind die Reform der Wohnungs- und Kommunalwirtschaft, die Reform des Gesundheitswesens sowie die Gebiets- und Verwaltungsreform (den Gebietskörperschaften wurden zwar sukzessive mehr Aufgaben und Rechte übertragen – gleichzeitig wurde jedoch ihr finanzieller Handlungsspielraum eingeschränkt). Mit den Sparvorgaben zur Haushaltskonsolidierung setzt sich diese Entwicklung fort.
Die russische Wirtschaft wird von großen Finanz-und Industriekonglomeraten dominiert, die auf Basis der ertragreichen Rohstoffunternehmen (Öl, Gas, Metalle etc.) einen wesentlichen Teil der Wirtschaft kontrollieren. Diese Konzerne sind zumeist im Zuge der Privatisierung entstanden und vergrößern sich kontinuierlich, da Gewinne aus dem Kerngeschäft in neue gewinnversprechende Produktionen und den Aufkauf von Konkurrenten und Unternehmen (auch im Ausland) investiert werden. Es gibt daher eine Tendenz zur Bildung von Monopolen und Oligopolen. Strukturmerkmale, die sich noch aus der Sowjetzeit erhalten haben, sind z. B. die Abhängigkeit einzelner Städte und Regionen von einem einzigen Großbetrieb, die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit im Bereich langlebiger Konsumgüter (z. B. PKW, Elektronikartikel) und die Bedeutung der Rüstungsindustrie für die Exportwirtschaft.
Schließlich sei auf die Rolle der Schattenwirtschaft hingewiesen, die nach unterschiedlichen Schätzungen einen Anteil zwischen 15 und 50 % des BIP ausmacht und sich in schwarzen Gehaltszahlungen an Mitarbeiter, Falschdeklarierung von Importen und Exporten, der Nutzung von Offshore-Firmen, intransparenten Modellen zur Steueroptimierung, Scheinverträgen mit Drittfirmen sowie in der Umgehung gesetzlicher Vorschriften manifestiert. Russische Unternehmen sind vielfach in Netzwerke eingebunden, die eine Lösung von Problemen und die Durchsetzung von Ansprüchen gegen Dritte durch Nutzung informeller Kontakte zu mächtigen „Dachstrukturen“ ermöglichen. Eine Klärung von Streitigkeiten mit Geschäftspartnern oder der öffentlichen Verwaltung über ordentliche Gerichte oder Schiedsgerichte spielt demgegenüber eine untergeordnete Rolle.
Die hohen Kosten für Elektroenergie (sowie – bei Unternehmen – die zum Teil exorbitanten Anschlusskosten an das Energienetz) wirken sich hemmend auf die weitere wirtschaftliche Entwicklung aus – insbesondere auf die Ansiedlung neuer Unternehmen in der verarbeitenden Industrie. Die Anschlusskosten betragen bis zu 15.000 Rubel je KW (ca. 310 Euro). Zwar hat die Regierung eine Regulierungsbehörde für die Überwachung der Tarif- und Preispolitik von Energieversorgern eingerichtet (Federál’naja slúzhba po tarífam), bei der beispielsweise der Mieter oder Eigentümer einer gewerblichen Immobilie prüfen lassen kann, ob der ihm in Rechnung gestellte Tarif rechtskonform ist, aber noch immer ist die Tarifpolitik der Energieversorger intransparent und auf einseitige Gewinnoptimierung ausgerichtet (was insbesondere bei den Anschlusskosten zum Tragen kommt). Beim Anschluss an das Gasversorgungsnetz müssen Unternehmen ein Projekt mit den technischen Bedingungen beim regionalen Gasversorger einreichen. Darüber hinaus muss ein Vertrag über die garantierte Liefermenge pro Jahr abgeschlossen werden. Die Bearbeitung und Genehmigung des Projekts kann vier bis sechs Monate in Anspruch nehmen. Zusätzliche Kosten entstehen, wenn es vor Ort noch keine Gasverteilerstationen gibt, die den Gasdruck von Hoch- auf Normaldruck umwandeln. Auch hier müssen die Unternehmen alle Kosten selbst tragen (Ausnahmen können dort bestehen, wo sich ein Unternehmen in einer Sonderwirtschaftszone ansiedelt. Dort werden die Anschlusskosten zunehmend vom Eigentümer/Betreiber der Sonderwirtschaftszone – dem Staat – übernommen).
Ungeachtet der geschilderte...