1.Botschaft und Situation
Theologie ist eine Funktion der christlichen Kirche, sie muß den Erfordernissen der Kirche entsprechen. Ein theologisches System muß zwei grundsätzliche Bedürfnisse befriedigen: Es muß die Wahrheit der christlichen Botschaft aussprechen, und es muß diese Wahrheit für jede neue Generation neu deuten. Theologie steht in der Spannung zwischen zwei Polen: der ewigen Wahrheit ihres Fundamentes und der Zeitsituation, in der diese Wahrheit aufgenommen werden soll. Die meisten Theologien genügen nur einer von diesen beiden Grundbedingungen. Entweder opfern sie Teile der Wahrheit, oder sie reden an der Zeit vorbei. Es gibt auch theologische Systeme, die beide Fehler zugleich machen. Besorgt, die ewige Wahrheit zu verfehlen, setzen sie sie kurzerhand mit einer großen Theologie der Vergangenheit gleich, mit überlieferten Begriffen und Lösungen, und versuchen nun, diese einer neuen und gewandelten Situation aufzupfropfen. Sie verwechseln die ewige Wahrheit mit einer ihrer zeitlichen Ausformungen. Eben darum handelt es sich bei der Orthodoxie in Europa, die man in Amerika unter dem Namen Fundamentalismus kennt. Wenn es dann geschieht, daß sich dieser Fundamentalismus mit einem Vorurteil gegen theologisches Denken überhaupt verbindet, wie z. B. im evangelischen Biblizismus, dann wird die theologische Wahrheit von gestern als unwandelbare Botschaft gegen die theologische Wahrheit von heute und morgen verteidigt. Der Fundamentalismus versagt vor dem Kontakt mit der Gegenwart, und zwar nicht deshalb, weil er der zeitlosen Wahrheit, sondern weil er der gestrigen Wahrheit verhaftet ist. Er macht etwas Zeitbedingtes und Vorübergehendes zu etwas Zeitlosem und ewig Gültigem. Er hat in dieser Hinsicht dämonische Züge. Denn | er verletzt die Ehrlichkeit des Suchens [10] nach der Wahrheit, ruft bei seinen denkenden Bekennern eine Bewußtseins- und Gewissensspaltung hervor und macht sie zu Fanatikern, weil sie dauernd Elemente der Wahrheit unterdrücken müssen, deren sie sich dunkel bewußt sind.
Die amerikanischen Fundamentalisten und die europäischen Orthodoxen können sich auf die Tatsache berufen, daß ihre Theologie in weiten Kreisen bereitwilligst akzeptiert und vertreten wird, und zwar gerade wegen der geschichtlichen oder „biographischen“ Situation, in der sich viele Menschen heute befinden. Das ist eine unbestreitbare Tatsache, aber die daraus abgeleitete Rechtfertigung ist falsch. Die Situation als der eine Pol aller theologischen Arbeit bedeutet nicht den empirischen psychologischen oder soziologischen Zustand, in dem sich ein Individuum oder eine Gruppe von Menschen gerade befindet. Sie bedeutet vielmehr die Summe der wissenschaftlichen und künstlerischen, der wirtschaftlichen, politischen und sittlichen Formen, in denen diese Gruppe das Selbstverständnis ihrer Existenz zum Ausdruck bringt. Die Situation, in die hinein die Theologie zu reden hat, wenn sie relevant reden will, ist nicht einfach die Situation des Individuums als Individuum oder einer Gruppe als Gruppe. Theologie ist etwas anderes als Verkündigung oder Seelsorge. Deshalb ist die Brauchbarkeit einer Theologie für die Predigt oder die Seelsorge keinesfalls das Kriterium ihrer Wahrheit. Die Tatsache, daß orthodoxe oder fundamentalistische Formeln in einer Zeit begeistert aufgenommen werden, in der sich einzelne wie die Gemeinschaft Verfallszuständen gegenübersehen, ist durchaus kein Beweis für ihren theologischen Wert, ebenso wenig wie die allgemeine Zustimmung zur liberalen Theologie in Zeiten der Konsolidierung ein Beweis für deren Wahrheit ist. Die Situation, um die es in der Theologie geht, ist vielmehr das schöpferische Selbstverständnis der Existenz, wie es sich in jeder Periode unter den verschiedensten psychologischen und soziologischen Umständen vollzieht. Gewiß ist die so verstandene Situation von den oben genannten Elementen nicht unabhängig. Aber die Theologie hat es mit dem geistig-kulturellen Gesamtausdruck zu tun, den diese Elemente theoretisch und praktisch gefunden haben, nicht mit ihnen als Faktoren und Bedingungen dieses Gesamtausdrucks. Es ist z. B. nicht die Tatsache – sei es der Verbreitung, sei es der besseren Erkenntnis – der Geisteskrankheiten, mit der sich die Theologie befaßt, sondern es ist die Frage, was Geisteskrankheit als individuelle oder soziale Erscheinung für das Verständnis des Menschen und seine Beziehung zu Gott bedeutet. Die Situation, zu der die Theologie sprechen muß, ist die schöpferische Selbstbesinnung des Menschen in einer besonderen [11] Geschichtsperiode. Theologie küm-|mert sich z. B. nicht um die politische Spaltung zwischen Ostund West, sondern um denreligiösen und ethischen Sinn dieser Spaltung. Fundamentalismus und Orthodoxie lehnen das ab und verfehlen damit die eigentlich theologische Aufgabe.
Die sogenannte kerygmatische Theologie ist dem Fundamentalismus und der Orthodoxie insofern verwandt, als sie die unveränderliche Wahrheit des Kerygmas, der Botschaft oder Verkündigung, im Gegensatz zu den wechselnden Forderungen der Situation stark betont. Sie versucht, die Mängel des Fundamentalismus zu vermeiden, indem sie alles theologische Denken, auch das orthodoxe, dem Kriterium der Verkündigung unterstellt. Diese Verkündigung ist in der Bibel enthalten, aber nicht mit der Bibel identisch. Sie hat in der klassischen Überlieferung christlicher Theologie ihren Ausdruck gefunden, ist aber nicht identisch mit einer speziellen Form dieser Überlieferung. Die reformatorische Theologie und in unseren Tagen die neureformatorische Theologie Barths und seiner Schule sind Musterbeispiele kerygmatischer Theologie. Zu seiner Zeit wurde Luther heftig von den Orthodoxen von damals angegriffen, und heute geht es Barth und seinen Schülern mit den Fundamentalisten genau so. Daran sieht man, daß es nicht ganz zutreffend ist, Luther „orthodox“ und Barth „neuorthodox“ zu nennen. Luther warin Gefahr, orthodox zu werden,und das Gleiche gilt von Barth, aber sie wollten es beide nicht. Beiden geht es ernsthaft darum, die ewige Botschaft in Bibel und Tradition wieder zu entdecken und einer entstellten Tradition und einem mechanischen Mißbrauch der Bibel entgegenzusetzen. Luthers Kritik am römischen System der Vermittlung und der Heilsstufen, die Herausstellung der biblischen Kategorien „Gericht“ und „Gnade“, seine Wiederentdeckung der paulinischen Botschaft und gleichzeitig sein mutiges Hervorheben des ungleichen Wertes der biblischen Bücher waren echte kerygmatische Theologie. Barths Kritik an der neuprotestantisch-bürgerlichen Synthese von christlicher Botschaft und modernem Denken, seine Wiederentdeckung des christlichen Paradoxes und gleichzeitig die Freiheit seiner pneumatischen Auslegung des Römerbriefes und seine Annahme radikaler historischer Kritik waren echte kerygmatische Theologie. In beiden Fällen handelt es sich um das Herausstellen der ewigen Wahrheit gegenüber der menschlichen Situation und ihren Forderungen. In beiden Fällen hatte dieses Herausstellen prophetische, im Tiefsten erschütternde und umwandelnde Gewalt. Ohne solche kerygmatische Reaktionen könnte sich die Theologie in den Relativitäten der Situation verlieren, ja sie könnte selber zu einem Teil der Situation werden – wie z. B. der religiöse Nationalismus der „Deut-|schen Chris- [12] ten“ oder der religiös gefärbte Fortschrittsglaube der sogenannten „Humanisten“ in Amerika.
Und doch läßt sich die Situation aus der theologischen Arbeit nicht ausschalten. Luther war unbefangen genug, sein eigenes nominalistisches und Melanchthons humanistisches Denken bei der Formulierung seiner theologischen Lehren heranzuziehen. Aber das Problem der Situation war ihm doch nicht immer gegenwärtig genug, umein Abgleiten in orthodoxe Denkformen zu verhindern. Auf diese Weise bereitete er der protestantischen Orthodoxie den Weg für die Zukunft. Barths Größe liegt darin, daß er sich immer wieder im Lichte der Situation korrigiert und ernstlich darauf bedacht ist, nicht sein eigener Schüler zu werden. Dabei ist ihm indes nicht immer gegenwärtig, daß er damit aufhört, rein kerygmatische Theologie zu treiben. Da er jede konkrete Wahrheit direkt von der höchsten Wahrheit abzuleiten versucht, wenn er z. B. die Pflicht, Hitler mit Krieg zu überziehen, direkt von der Auferstehung ableitet204, fällt er auf ein Denken zurück, das man neuorthodox nennen kann und das alle Tendenzen zu einer Repristinationstheologie in Europa stärken mußte. Der Pol, der Situation heißt, kann in der Theologie nicht ohne gefährliche Konsequenzen vernachlässigt werden. Nur radikale Teilnahme an der Situation, an der Existenzdeutung des modernen Menschen, kann das gegenwärtige Schwanken der kerygmatischen Theologie zwischen prophetischer Freiheit und orthodoxer Fixierung überbrücken. Mit anderen Worten: Die kerygmatische Theologie bedarf der apologetischen Theologie als notwendiger Ergänzung.
2.Die apologetische Theologie und das Kerygma
Apologetische Theologie heißt: antwortende Theologie. Sie antwortet auf Fragen, die die Situation stellt, und sie antwortet in der Macht der ewigen Botschaft und mit den begrifflichen Mitteln, die die Situation liefert, um deren Fragen es sich handelt.
Der Begriff „apologetisch“ stand in der Alten Kirche in sehr hohem Ansehen. Er hat dieses Ansehen eingebüßt. Den Grund dafür boten die Methoden, die das Christentum gegen Angriffe des modernen Humanismus, Naturalismus und Historismus zu verteidigen suchten. Eine besonders anfechtbare und abstoßende Form der Apologetik war das sogenannte „argumentum ex ignorantia“, mit dem [13] man ver-|suchte, Lücken in unserer wissenschaftlichen oder historischen Erkenntnis zu entdecken und dann Gott und seine Taten inmitten einer sonst völlig berechenbaren und „immanenten“ Welt unterzubringen suchte. Jedesmal wenn die Wissenschaft einen Schritt weitermachte, mußteman wieder einen Stützpunkt aufgeben. Aber diese ununterbrochenen Rückzugsgefechte haben einige eifrige Apologeten trotz allem nicht entmutigt, in den allerneusten Entwicklungen der physikalischen und historischen Forschung wiederum neue Lücken zu finden, in denen sich Gott unterbringen läßt. Dieses würdelose Verfahren hat alles, was Apologetik heißt, in Verruf gebracht.
Im übrigen gibt es aber noch einen tieferen Grund für das Mißtrauen gegen apologetische Methoden, besonders auf Seiten der kerygmatischen Theologen. Will man nämlich eine echte Antwort auf eine Frage geben, so muß man mit dem, der sie stellt, etwas Gemeinsames haben. Apologetik setzt gemeinsamen Boden voraus, wie unbestimmt dieser auch sein mag. Kerygmatische Theologen aber neigen dazu, jeden gemeinsamen Boden mit Menschen außerhalb ihres „theologischen Zirkels“ abzuleugnen. Sie sind besorgt, solch gemeinsamer Boden könnte die Einzigartigkeit des Kerygmas zerstören. Sie verweisen auf die frühchristlichen Apologeten, die den gemeinsamen Boden in der Bejahung des logos sahen; sie verweisen auf die alexandrinische Schule, die ihn im Platonismus fand; sie verweisen auf Thomas von Aquino, der seine Theologie auf Aristoteles gründete; sie verweisen schließlich besonders auf den gemeinsamen Boden, den die apologetische Theologie mit der Philosophie der Aufklärung, mit der Romantik, mit dem Hegelianismus und Kantianismus, mit dem Humanismus und Naturalismus zu haben glaubte. Sie versuchen zu zeigen, daß das, was für gemeinsamen Boden gehalten wurde, in Wirklichkeit der Boden der „Situation“ war, und daß die Theologie ihren eigenen Boden verlor, wenn sie sich in die Situation hineinbegab. Apologetische Theologie in allen diesen Formen, und das heißt praktisch alle nichtorthodoxe Theologie seit dem Anfang des 18. Jahrhunderts, ist für die Vertreter der modernen kerygmatischen Theologie ein Verrat am Kerygma, an der unwandelbaren Wahrheit. Wenn dies eine zutreffende Interpretation der Theologiegeschichte ist, dann ist die kerygmatische Theologie die einzig wahre Theologie. Dann darf man sich auf die Situation überhaupt nicht einlassen, dann ist eine Antwort auf die Fragen, die sie stellt, nicht zu geben, wenigstens nicht in Begriffen, die als Antwort verstanden werden können. Dann muß die Botschaft den Menschen in ihrer jeweiligen Situation zugeschleudert werden wie ein Stein. Das ist unter gewissen psycho-|logischen Voraussetzungen zweifellos eine sehr [14] wirksame Methode der Predigt, z.B. bei Erweckungen; es kann sogar sehr wirkungsvoll sein, wenn aggressive theologische Ausdrücke gebraucht werden. Aber das ist kein Dienst an der theologischen Funktion der Kirche; außerdem ist es undurchführbar. Selbst die kerygmatische Theologie muß sich der begrifflichen Werkzeuge bedienen, die ihr die Zeit anbietet. Sie kann nicht einfach die Sätze der Bibel wiederholen. Und selbst wenn sie das versuchte, könnte sie an dem Problem, das durch die situationsbedingte Ausdrucksweise der verschiedenen biblischen Verfasser gestellt ist, nicht vorbeigehen. Das alles umfassende Ausdrucksmedium jeder Situation ist die Sprache, damals wie heute, und einfach deshalb kann die Theologie dem Situationsproblem nicht ausweichen. Die kerygmatische Theologie muß ihre ausschließliche Transzendenz aufgeben und den Versuch der apologetischen Theologie ernstnehmen, auf die Fragen zu antworten, die sich in der jeweiligen Situation stellen.
Andererseits wird die apologetische Theologie die Warnung nicht in den Wind schlagen dürfen, die mit der Existenz und dem Anspruch der kerygmatischen Theologie gegeben ist. Gründet sie sich nicht auf das Kerygma als auf die Substanz und das Kriterium jedes ihrer Sätze, dann gibt sie sich selbst auf. In den letzten zwei Jahrhunderten hat das Problem der Apologetik die theologische Arbeit bestimmt. „Die christliche Botschaft und der moderne Geist“ – das ist seit dem Ende der klassischen Orthodoxie das Thema der Theologie schlechthin gewesen. Unermüdlich wurde die Frage behandelt, ob die christliche Verkündigung dem modernen Geist annehmbar gemacht werden könne, ohne daß sie dabei ihrer Einzigartigkeit und ihrer eigentlichen Substanz verlustig ginge. Die Mehrheit der Theologen hat an diese Möglichkeit geglaubt, eine Minderheit hat sie bestritten, sei es im Namen der christlichen Botschaft, sei es im Namen des modernen Geistes. Kein Zweifel: Die Stimmen, die den Kontrast, die „Diastase“ betonten, klangen lauter und auch eindrücklicher; ein „Nein“ klingt in der Regel kräftiger als ein „Ja“. Trotzdem war es doch die ununterbrochene Arbeit derer, die an ein Zusammen, an eine Synthese glaubten, die die Theologie lebendig erhalten hat. Ohne sie wäre das traditionelle Christentum eng und abergläubisch geworden, und die allgemeine Kultur wäre ihren Weg gegangen ohne den „Pfahl im Fleisch“, dessen sie bedarf: nämlich einer echten Theologie von geistigem Rang. Die heutzutage in neuorthodoxen Kreisen Mode gewordene summarische Verurteilung der theologischen Arbeit der letzten beiden Jahrhunderte ist grundverkehrt, [15] wie Barth selbst das in seinem | Buch: „Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert“ festgestellt hat. Trotzdem ist es notwendig, von Fall zu Fall danach zu fragen, ob die apologetische Methode die christliche Botschaft aufgelöst hat oder nicht. Es geht weiter darum, eine theologische Methode zu finden, bei der Botschaft und Situation au...