Sozialismus, Katholizismus und Okkultismus im Frankreich des 19. Jahrhunderts
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Sozialismus, Katholizismus und Okkultismus im Frankreich des 19. Jahrhunderts

Die Genealogie der Schriften von Eliphas Lévi

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Sozialismus, Katholizismus und Okkultismus im Frankreich des 19. Jahrhunderts

Die Genealogie der Schriften von Eliphas Lévi

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Die Studie behandelt den religiösen Charakter der wichtigsten sozialistischen Strömungen unter der Julimonarchie und ihr erstaunliches Fortbestehen in neuen religiösen Bewegungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Als roter Faden dient dabei die Entwicklung des radikalen Sozialisten Alphonse-Louis Constant (1810-1875), der unter dem Pseudonym Eliphas Lévi als Begründer des Okkultismus gilt. Die umfangreiche Kontextualisierung seiner Schriften zeigt, dass er seine okkultistischen Ideen nicht etwa in einem "esoterischen" Kontext entwickelte, sondern vor dem Hintergrund sozialistischer und so genannter "neo-katholischer" Diskurse.

Die dabei gewonnenen Einblicke erlauben die Hinterfragung festgeschriebener Rollen auf der Bühne der europäischen Religionsgeschichte. So erweist sich die weit verbreitete Annahme eines Antagonismus zwischen fortschrittlichen sozialistischen und reaktionären religiösen Kräften, der seinen Höhepunkt in der laïcité gefunden habe, als irreführend. Ebenso wird in diesem Zusammenhang die Notwendigkeit einer Neubewertung von Esoterik verdeutlicht. Dies ermöglicht nicht nur neue Sichtweisen auf die Politikgeschichte, sondern auch auf kontrovers diskutierte Prozesse der Modernisierung und Säkularisierung.

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Information

Part IEinleitung und Grundlagen

1Einleitung und Grundlagen

Nous vivons, à ce que prétendent les gens bien informés, dans une époque d’incrédulité et de scepticisme. – Pourtant, ce ne sont pas les dieux qui manquent, ni les prophètes. 2
Gérard de Nerval

1.1Der religiöse Sozialismus von Alphonse-Louis Constant

1.1.1Vomneo-katholischen KommunismuszumOkkultismus

Gegen Ende des Jahres 1840 verfasste der 30-jährige Alphonse-Louis Constant auf dem Dachboden des Collège de Juilly eine der radikalsten sozialistischen Schriften seiner Zeit. Der junge Kleriker hatte zu diesem Zeitpunkt bereits eine turbulente und schmerzhafte Entwicklung durchgemacht. Vier Jahre zuvor hatte er als Diakon das Priesterseminar von Saint-Sulpice wegen einer Liebesaffäre verlassen müssen, kurz vor seiner Ordination. Nachdem sich seine Mutter aufgrund des Scheiterns ihres Sohnes das Leben genommen hatte, verkehrte er einige Jahre in seinem Freundeskreis aus jungen Bohémiens, einer heterogenen Gruppe aus Künstlern und Sozialisten. Der Versuch einer Rückkehr in das geistliche Leben scheiterte, nachdem er im Juli 1839 in das Dominikanerkloster von Solesmes eingetreten war, dieses jedoch nach Konflikten bald wieder verlassen musste und abermals verzweifelt auf der Suche nach einer neuen Perspektive war. Das Angebot einer Lehrposition in Juilly, der von ihm sehnlich erwartete Hoffnungsschimmer, sollte bald zum bisherigen Tiefpunkt seines Lebens führen. Der Leiter des Collège, Henri de Bonnechose, hatte für ihn nicht etwa die Funktion eines Lehrers vorgesehen, sondern die eines maître détude der niedrigsten Stufe – eines „Hofhundes“, chien de cour, wie er verbittert niederschrieb. 3 Der ungeheizte und schlecht isolierte Dachboden, auf dem er sich in seiner dünnen und abgetragenen Soutane zusammenkauerte, um sich seinen „entmutigenden Reflexionen“ hinzugeben, habe einerseits als „Kerker“ für die Schüler gedient, andererseits als „Zwinger“ für Hofhunde wie ihn. 4 Seiner Meinung nach war ihm in Juilly einmal mehr das wahre Gesicht der Priester offenbart worden: Dem Versuch, seinen „verdorbenen Schülern“ mit Liebe zu begegnen, sei Verachtung entgegengeschlagen. Mit Härte und Kälte habe man ihn schikaniert, ihn wie einen Gefangenen behandelt, seine Post überwacht. „Ich kam nicht umhin zu glauben, dass man bei all dem höhere Anweisungen befolgte, und ich spürte alles, was ich vom Klerus zu erwarten hatte.“ 5 Eine Rückkehr in den Schoß der Kirche, das wurde ihm nun immer deutlicher, blieb ihm verwehrt.
In diesem desolaten Zustand schrieb er heimlich seine berüchtigte Bible de la liberté. „Man erklärt sich leicht die Schreie der Entrüstung, von denen das Buch voll ist, gegen eine Gesellschaft, deren Moralisten so tiefgründig verdorben sind“, behauptete er später zu seiner Verteidigung. 6 Die Bible erschien am 13. Februar 1841, nachdem ein Beauftragter des Erzbischofs von Paris noch vergeblich versucht hatte, Constant durch eine finanzielle Zuwendung von der Publikation abzuhalten. Dieser ließ dem Prälaten antworten, dass er froh darüber sei, „zum Rebell und Häretiker geworden zu sein“, und dass er nicht beabsichtige, seine Überzeugungen zu verkaufen. 7 Obwohl die Bible de la liberté bereits eine Stunde nach dem Druck beschlagnahmt wurde, konnten zahlreiche Exemplare gerettet und erfolgreich verbreitet werden. Der Polizeipräfekt von Paris stellte später fest, dass sie zu den bei Razzien am häufigsten gefundenen Schriften zählte. 8 Die staatliche Reaktion ließ nicht lange auf sich warten: Im April 1841 wurde Constant inhaftiert und am 11. Mai zusammen mit seinem Verleger und Freund Auguste-Pierre Le Gallois, der im Gegensatz zu ihm mit einem Verteidiger erschienen war, vor Gericht gestellt. Nachdem der Staatsanwalt Jean-Isidore Partarrieu-Lafosse 9 den Geschworenen mehrere Passagen aus der Bible vorgelesen hatte, wandte er sich mit folgendem Plädoyer an sie:
Das Buch des Abbé Constant 10 ist eines derjenigen, die die Ideen einer ganzen Sekte reproduzieren, und das aus derselben vergifteten Quelle geschöpft hat. Es existiert nämlich eine Schule, die, indem sie als Standarte den Namen eines alten Priesters ergreift, der von Ihren Vorgängern ebenfalls bestraft worden ist, irgendeine wie auch immer geartete neue Religion einführen möchte, deren erstes Dogma der Umsturz unserer gesamten sozialen Ordnung ist, die als grundsätzlich böse angeklagt wird. Die Abschaffung aller Autorität, die absoluteste Unabhängigkeit, der totale Aufstand in allen Formen, dies sind ihre bevorzugten Mittel. Päpste des Hochmuts, zweifeln sie jedwede Zügelung des Menschen an und vergöttlichen ihn im Namen einer angeblichen Souveränität, für die sie keinerlei Grenzen kennen. Glauben Sie nicht, dass es sich dabei um Träume ohne Gefahren handelt. Es gibt viele Phantasten, die von diesem religiösen Schein, diesen mystischen Ekstasen der falschen Propheten verführt und fasziniert werden. 11
Der Angeklagte dachte in seiner Verteidigungsrede nicht daran, sich für den Inhalt seines Buches zu entschuldigen. Er bezeichnete sich als Märtyrer, als „ein Kind des Volkes“, das mit diesem gelitten und seine Leiden offen zum Ausdruck gebracht habe. Mord und Gewalt lehnte er ab, rechtfertigte aber seine Angriffe auf die aktuelle Gesellschaftsordnung: „Eine überhöhte Liebe für die Menschheit ist mein ganzer Fehler.“ 12 Den intervenierenden Versuch des Anwalts von Le Gallois, ein Bedauern über die Publikation zum Ausdruck zu bringen, wies er brüsk zurück und weigerte sich ebenso wie sein Verleger, jedwede Reue zu zeigen. 13 Nach zehnminütiger Beratung verurteilten ihn die Geschworenen zu 8 Monaten Gefängnis, Le Gallois zu 3Monaten, und beide zu einer Geldstrafe von je 300 Francs, beinahe das Jahresgehalt eines „Hofhundes“. 14 Rom hatte das Buch bereits am 30. März auf den Index gesetzt. 15 Der Prozess machte Constant schlagartig über die Landesgrenzen hinaus berühmt und die Bible de la liberté zum Gegenstand von mit großer Heftigkeit ausgetragenen Kontroversen im sozialreformerischen Lager. Sie markierte den Beginn einer Reihe von Schriften, mit denen sich Constant in den 1840er Jahren als einer der aufsehenerregendsten Vertreter eines christlichen revolutionären Sozialismus profilierte. Seinen Ideen verlieh er im Jahre 1846 eine bemerkenswerte Bezeichnung: communisme néo-catholique. 16
Das Vorbild Constants, der von Partarrieu-Lafosse erwähnte „alte Priester“, war Félicité Lamennais (1782–1854), der Begründer des schon damals so genannten néo-catholicisme. 17 Dabei handelte es sich um keine geschlossene Lehre, sondern um eine Bezeichnung für verschiedene katholische Denker, Laien wie Kleriker, die sich um Lamennais versammelt hatten und durch die Gründung mehrerer Zeitschriften einen gewissen Grad der Institutionalisierung erreichten. 18 Diese Angehörigen einer jungen Generation von Katholiken hatte in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts die oft miserable Ausbildungssituation an den Seminaren und die damit verbundene intellektuelle Schwäche des Katholizismus beklagt, der eine Auseinandersetzung mit der Philosophie des 18. Jahrhunderts konsequent scheute. 19 Die Neo-Katholiken unternahmen den Versuch, einen dezidiert „fortschrittlichen“, „liberalen“ Katholizismus zu schaffen, der sich den Herausforderungen der Zeit offensiv stellen sollte. 20 Doch schon nach wenigen Jahren wurde die Bewegung mit großer Heftigkeit zwischen den Fronten der konservativen gallikanischen Bischöfe und der römischen Kurie, die sich wenig begeistert von jenen Ideen zeigte, zerschlagen. Während sich die meisten Anhänger Lamennais’ dem Urteil fügten und ihre Karrieren in gemäßigterer Form innerhalb der Kirche fortsetzten, brach dieser auf spektakuläre Weise mit dem Heiligen Stuhl und wurde zu einem der einflussreichsten Vertreter eines religiösen Sozialismus. Im Jahr 1834 verkündete er in seinen Paroles dun croyant – eines der am meisten verkauften und einflussreichsten Bücher seiner Zeit – ein radikales revolutionäres Christentum.
Die Ideen des „neuen Lamennais“ waren maßgeblich für eine Dynamik unter den französischen Sozialreformern verantwortlich, die eine immer weiter in den Vordergrund tretende Verbindung sozialistischer und christlicher Identitäten mit sich brachte. 21 Constant kann als ein herausragendes Beispiel für diese Entwicklung gelten und wurde von Zeitgenossen auch als solches wahrgenommen. 22 Wieder Staatsanwalt Partarrieu-Lafosse am 11. Mai 1841 korrekt feststellte, stammt der mit Abstand größte Einfluss auf seine Bible de la liberté von Lamennais. 23 In seiner Person vereinten sich die neo-katholischen und sozialistische Wünsche nach einer neuen, „wahren“ Form der Religion und der Begründung einer auf ihr basierenden vollkommenen Gesellschaftsordnung: Die wahre katholische Kirche, die es in seinen Augen gegen den degenerierten Klerus und seine korrumpierten Lehren durchzusetzen gelte, war für Constant identisch mit der von damaligen Sozialisten angestrebten association universelle. Diese sollte nicht einfach nur zu einer neuen Regierungsform führen, sondern zur Verwirklichung einer universellen Einheit und Harmonie, einer Synthese aus Wissenschaft, Philosophie und Religion: das „Königreich Gottes auf Erden“. In den damaligen sozialistischen Strömungen oder „Schulen“ – vor allem die Saint-Simonisten, Fourieristen, die „Ikarischen Kommunisten“ um Etienne Cabet, sowie zahlreiche weitere Individuen und Gruppierungen – waren derartige Gedanken Gang und Gebe.
Constants communisme néo-catholique entstand somit in einem religiössozialistischen Umfeld, dem vonseiten der Forschung meist nur marginale Aufmerksamkeit geschenkt worden ist. Aus einer heutigen Perspektive erscheinen die religiösen Identitäten der französischen Sozialisten unter der Julimonarchie als widersprüchlich oder sogar abstrus. Ihre Ideen sind nur vergleichsweise wenigen Spezialisten geläufig. Verständlich wird dies vor dem Hintergrund des marxistischen Verdikts, dass es sich bei ihnen um „Utopisten“ gehandelt habe, um die Vertreter eines unausgereiften, kindlichen Sozialismus, der erst im „wissenschaftlichen“ Marxismus seine Erfüllung gefunden habe. Die Folge war eine bis heute nachwirkende Überschattung jener Strömungen, die in Frankreich nach der Februarrevolution von 1848 und dem Sturz der Zweiten Republik im Jahre 1851 hoffnungslos gescheitert waren und angesichts der Restriktionen des Zweiten Empire sowieunter den Attacken der Anhänger eines Pierre-Joseph Proudhon oder Auguste Blanqui in Bedeutungslosigkeit versanken. Die russische Oktoberrevolution und die beiden Weltkriege taten ihr Übriges, um sie weitgehend in Vergessenheit geraten zu lassen.
Eine historisch kontextualisierende Untersuchung der Entwicklung Constants kann also erstens einen Beitrag zur Erschließung des religiösen Charakters der frühen sozialistischen Ideen sowie der Entwicklung alternativer religiöser Identitäten in Frankreich leisten. In diesem Zuge kann nicht nur die gängige Historiographie des Sozialismus kritisch hinterfragt werden, sondern auch bedeutende Teile der europäischen Religionsgeschichte. Es kann nämlich zweitens gezeigt werden, dass die religiösen Ideen, die von zahlreichen Sozialisten in den 1830er und 1840er Jahren artikuliert worden sind, nach 1851 im Gedankengut neuer religiöser Bewegungen fortlebten. Der Werdegang des streitbaren Abbé ist auch dafür ein herausragendes Beispiel.
Denn zu nachhaltiger Berühmtheit gelangte Constant nicht dank seiner sozialistischen Schriften, sondern unter dem Pseudonym, das er ab 1854 zu führen pflegte: „Eliphas Lévi“. Als solcher wurde er zu einem der bis heute mit Abstand einflussreichsten esoterischen Autoren, dessen Hauptwerke Dogme et rituel de la haute magie (1854–1856), Histoire de la magie (1860) und La clef des grands mystères gemeinhin als Gründungswerke des „Okkultismus“ gelten. Bisher hat die Forschung für gewöhnlich die historischen Kontexte des Sozialisten Constant und des Okkultisten Eliphas Lévi als voneinander getrennt wahrgenommen. Dies steht im Einklang mit allgemeinen Fors...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Inhaltsverzeichnis
  5. Part I Einleitung und Grundlagen
  6. Part II Der sozialistische Kontext
  7. Part III Der neo-katholische Kommunismus des Abbé Constant
  8. Part IV Okkultismus
  9. Abbildungsverzeichnis
  10. Bibliographie
  11. Personenregister
  12. Sachregister
  13. Fußnoten