1Sprachevolution: Reine Spekulation?
Wie würde unsere Welt aussehen, wenn nicht irgendwann in der Evolutionsgeschichte des Menschen unsere Sprachfähigkeit entstanden wäre? Innerhalb dieses evolutionären Szenarios hätte sich vermutlich unsere Kultur und unsere Gesellschaft nicht zu der hochkomplexen Form entwickelt, in der wir heute leben. Ohne Sprache könnten wir unseren Kindern nicht mehr erklären, wie sie komplexe Aufgaben des Alltags bewältigen können – und auch die Weitergabe von Wissen über die Natur oder über unsere moralischen Standards wäre extrem erschwert. Kann man sich das Planen und Durchführen großer kollektiver Projekte wie den Bau eines Hauses, die industrielle Landwirtschaft oder die Entwicklung neuer Technologien wie das Internet ohne Sprache vorstellen? Wohl kaum. Die menschliche Sprache kann sicherlich als maßgebliche Bedingung für die heutige Komplexität der menschlichen Gesellschaft angesehen werden.
Das vorliegende Buch ist eine Einführung in das große Thema der Sprachevolution – geschrieben von einem Sprachwissenschaftler. Obwohl man sich als Sprachwissenschaftler in interdisziplinären Zusammenhängen bewegen und austauschen kann (und vielleicht sogar sollte), so bleibt doch das erworbene Wissen über Evolutionsbiologie, Paläoanthropologie und viele weitere relevante Disziplinen immer nur das Wissen eines (wenn auch gut informierten) Laien. Der Schwerpunkt dieses Buches liegt daher auf den linguistischen Hintergründen aktueller Theorien zur Sprachevolution und somit auf der Frage nach dem jeweiligen Sprachbegriff, der mit unterschiedlichen Evolutionsszenarien verbunden ist. Als Motto der Einführung kann daher der folgende Aufsatztitel des Linguisten Ray Jackendoff dienen: Your theory of language evolution depends on your theory of language (Jackendoff 2010).
Aber natürlich ist Sprachevolution, wie oben angedeutet, erst einmal ein äußerst interdisziplinäres Forschungsfeld. Dies kommt daher, dass viele unterschiedliche Disziplinen, die sich mit der Natur des Menschen befassen, von der Annahme ausgehen, dass der moderne Homo sapiens keine andere Fähigkeit besitzt, die so herausragend ist wie die Beherrschung einer komplex strukturierten Sprache. Es ist folglich nicht überraschend, dass sich dieses Thema auch in neuerer Zeit eines enormen Zulaufs aus unterschiedlichsten Disziplinen erfreut. Gerade in jüngerer Zeit ist Sprachevolution zu einem faszinierenden interdisziplinären Forschungsfeld avanciert, das immer mehr Aufmerksamkeit auf sich zieht. So besteht bereits seit 1996 im Zweijahrestakt eine eigens auf das Thema zugeschnittene Konferenz (EVOLANG ‚Evolution of Language International Conferences‘) und im Jahre 2012 wurde erstmals ein umfangreiches internationales Handbuch zu diesem Thema veröffentlicht (Tallerman und Gibson 2012). Zudem gibt es seit 2016 eine eigene Zeitschrift, die speziell zu dieser Thematik begründet worden ist und vom renommierten Verlag Oxford University Press verlegt wird (Journal of Language Evolution); die Zeitschrift Biolinguistics, bei der das Thema der Sprachevolution immer wieder eine zentrale Rolle spielt, gibt es bereits seit 2007.
Obwohl also diese Infrastruktur anzeigt, dass sich interdisziplinär arbeitende Wissenschaftler zu diesem Thema austauschen und ihre Forschung einer breiteren Öffentlichkeit vorstellen wollen, so bleibt dem Forschungsfeld der Sprachevolution doch der Beigeschmack, dass wissenschaftliche Arbeit zu diesem Thema unumgänglich immer wieder auf reine Spekulation hinauslaufe.
Dieser schlechte Ruf ist alles andere als neu. Bereits im 19. Jahrhundert verbannte die Société de linguistique de Paris dieses Thema aufgrund seines spekulativen Charakters offiziell aus dem wissenschaftlichen Diskurs. Wenngleich solch eine Verbannung heute nicht mehr möglich wäre, beklagen doch viele Forscher die scheinbar unvereinbaren Positionen und den damit verbundenen Mangel an echtem Erkenntnisfortschritt in dem Forschungsgebiet der Sprachevolution. Die gegenwärtige Diskussion zu diesem Thema ist von einer extremen Polarisierung gekennzeichnet, die scheinbar jegliche Hoffnung auf eine Konvergenz der Ansätze auszuschließen scheint.
Auf der einen Seite argumentieren Linguisten und Kognitionspsychologen, dass Sprache eine äußerst komplexe Fähigkeit sei und sie daher ein langes ‚Feintuning‘ durch den Prozess der natürlichen Selektion erfordere. Gemäß dieser Auffassung reichen die Ursprünge von Sprache vermutlich sehr weit in die menschliche Evolutionsgeschichte zurück (Teil 3 und 4 dieser Einführung). Auf der anderen Seite haben Forscher immer wieder herausgestellt, dass Sprache in einem abrupten, plötzlichen Modus den Weg in das Inventar der menschlichen Fähigkeiten gefunden haben könnte (Teil 2 dieser Einführung).
Dass solche diametral entgegengesetzten Ansichten bis zum heutigen Tag nebeneinander existieren können, ohne dass sich eine der beiden Ansichten letztlich innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses durchsetzt, geht zum größten Teil darauf zurück, dass die Sprachfähigkeit nicht direkt in Fossilien konserviert ist. Daher muss sich die Frage, ob bereits ausgestorbene hominide Vorfahren über Sprache verfügt haben, immer anhand von Fossilfunden beurteilen lassen, die nur indirekte Hinweise geben können. Das größte Problem bei diesen Fossilfunden ist zudem, dass sich Wissenschaftler alles andere als einig darüber sind, was sie als potenzielle Hinweise auf Sprache akzeptieren. Diese Probleme münden dann des Öfteren in dem, was man resignierend als reine Spekulation bezeichnen könnte.
Wie der Biologe W. Tecumseh Fitch kürzlich herausstellte (siehe Fitch 2016b), entbehrt dieser resignative Schluss jedoch jeglicher Grundlage: In vielen weiteren Bereichen der modernen Wissenschaft, wie etwa in der Geo- oder Kosmologie, werden komplexe historische Prozesse in Augenschein genommen, die zum Teil in einer ähnlichen, so Fitch, ‚Dunkelheit‘ liegen (z. B. im Bereich der Erdverschiebung oder des sogenannten ‚Big Bang‘). Dies hält die Forscher in diesen Gebieten jedoch nicht davon ab, Hypothesen zu entwickeln und sie empirisch zu testen. Auf diesem Wege wird dann auf lange Sicht eine Übereinkunft innerhalb der jeweiligen Disziplin erzielt – vorausgesetzt, dass genug empirische Evidenz in eine Richtung weist beziehungsweise für eine Theorie spricht.
Sind Forschungen zur Evolution der menschlichen Sprachfähigkeit also wirklich so aussichtslos? Sicherlich sind wir, wie diese Einführung zeigen wird, noch nicht so weit, ausreichend Licht in das oben angeführte Dunkel zu bringen. Dennoch hat sich seit dem mittlerweile berühmten Artikel des US-amerikanischen Evolutionsbiologen Richard Lewontin in dem Feld der Sprachevolution einiges getan. Lewontin (1998) betonte, dass wir niemals herausfinden werden, wie die menschliche Kognition im Allgemeinen evolutionär entstanden sei. Ähnlich äußerte sich bereits in den 1970er Jahren der Linguist Noam Chomsky, indem er herausstellte:
Like physical structures, cognitive systems have undoubtedly evolved in certain ways, though in neither case can we seriously claim to understand the factors that entered into a particular course of evolution and determined or even significantly influenced its outcome […] We know very little about what happens when 1010 neurons are crammed into something the size of a basketball, with further conditions imposed by the specific manner in which this system developed over time.
Chomsky (1975: 58-59)
Diese Einführung ist eine überfällige Bestandsaufnahme der Forschung, die in neuerer Zeit zum Thema Sprachevolution durchgeführt wurde. Das Buch teilt hierbei die Perspektive auf Sprache als kognitive Fähigkeit und geht davon aus, dass wir natürlich die Evolution eines kognitiven Systems nur in dem Maße untersuchen können, in dem wir wissen, was dieses System ist.
Wenn wir aus dieser kognitionswissenschaftlichen Perspektive argumentieren, dann sind nicht Sprachen evolutionär entstanden, da Einzelsprachen bekanntlich verschiedene Formen haben. Vielmehr ist die Sprachfähigkeit entstanden – will sagen: die Fähigkeit eines jeden menschlichen Kindes, jede Sprache der Welt erwerben zu können. Chomsky vergleicht dies an mehreren Stellen mit dem Unterschied zwischen der unsinnigen Frage nach der Evolution bestimmter Zustände des menschlichen visuellen Systems und der sinnvollen Frage nach der genetischen Basis für die Evolution des menschlichen visuellen Systems im Vergleich zum visuellen System etwa von Insekten.
In diesem Buch werden also unterschiedliche Sprachtheorien im Hinblick auf die Evolution der Sprachfähigkeit diskutiert. Wenngleich die oben wiedergegebene Forschungslage eine Unvereinbarkeit unterschiedlicher sprachtheoretischer Positionen zum Thema der Sprachevolution suggeriert, so unternimmt dieses Buch dennoch den Versuch, zwischen den unterschiedlichen Positionen zu vermitteln. In diesem Punkt geht diese Einführung folglich über eine bloße Darstellung und Einordnung einschlägiger Positionen hinaus. Dem Leser (und insbesondere dem kundigen Studenten sowie Fachkollegen) bleibt die Bewertung überlassen, ob dieser Teil des Buches noch als ‚Einführung‘ bewertet werden kann oder bereits eine eigene Forschungsmeinung darstellt. Ich denke jedoch, dass meine Ausführungen auch in diesem Punkt in ‚einführender‘ Absicht geschrieben sind und daher einen linguistischen Umgang mit dem Thema der Sprachevolution illustrieren.
Obwohl dieses Buch, wie oben angedeutet, keine originär evolutionsbiologische Einführung in das Thema sein kann, möchte ich gleichwohl in diesem Kapitel den Leser zunächst mit ein paar wesentlichen Informationen aus der nicht-linguistischen Literatur versorgen, bevor wir sodann in die grundsätzlichen sprachtheoretischen Positionen einsteigen. Beginnen wir also mit den fundamentalen (und naheliegenden) Fragen, wo und vor allem: wann Sprache entstanden sein könnte.
1.1Wo und wann?
Die Fragen, wo und wann die menschliche Sprache entstanden sei, fallen einem zuerst ein, wenn man an das Thema der Sprachevolution denkt. Hier tauchen bereits die ersten Probleme auf: Meinen wir das Auftauchen einzelner Wörter oder das Sprechen in ganzen Sätzen? Bezüglich beider Domänen begeben wir uns in den Bereich der Spekulation, wenn wir einen genauen Zeitraum und Ablauf angeben wollten (vgl. zu diesem spekulativen Charakter etwa Bickerton 2014). Es kann zwar angenommen werden, dass Wörter vor Sätzen entstanden sein müssten, da Sätze ja aus Wörtern geformt werden – aber das ist ein reines Plausibilitätsargument und nicht wirklich empirisch überprüfbar.
Selbst wenn wir also von dieser linguistischen Fragestellung zunächst abstrahieren, so müssen wir uns fragen: Wie können wir überhaupt feststellen, wann Sprache entstanden ist? Was gibt es für Anhaltspunkte? Abhängig von den Antworten, die bezüglich der Anhaltspunkte gegeben werden, gibt es die verschiedensten Ansichten darüber, wie weit die Evolution der Sprache in der Menschheitsgeschichte zurückliegt. Dies mag zum größten Teil daran liegen, dass Schriftsysteme erst eine neuere Entwicklung sind und somit die menschliche Sprachfähigkeit in indirekter Weise, das heißt: auf der Grundlage von anderen Materialfunden erschlossen werden muss. Zumeist wird hier ein Zusammenhang zwischen Sprache und sogenanntem ‚komplexen Verhalten‘ hergestellt.
1.1.1Prähistorische Betrachtungen: Sprache und komplexes Verhalten
Ebenso wie bezüglich der Evolution menschlicher Kognition im Allgemeinen festgestellt werden kann, so können wir uns auch bei der Sprachfähigkeit letztlich nur auf indirektem Wege einem plausiblen Szenario annähern – meist über Fossilien oder archäologische Funde.
Die vorhandene empirische Evidenz erlaubt jedoch nur sehr vage und abstrakte Ableitungen (Lewontin 1998). Das Problem mit diesem Ansatz ist, dass zunächst einmal geklärt werden muss, welche Verhaltensweisen, die paläontologisch und archäologisch nachweisbar sind, als Evidenz für das Vorhandensein von Sprache gelten können. Lassen wir uns einmal auf solche Überlegungen ein und begeben uns in dieses zugegebenermaßen recht spekulative Terrain.
Box 1. Die empirische Evidenz für eine materialgestützte Rekonstruktion der Sprachevolution liefern die Disziplinen der Paläoanthropologie und der Archäologie.
Die Paläoanthropologie (eine mit der Paläontologie eng verwandte Disziplin) behandelt die Stammesgeschichte des Menschen. Eine wichtige empirische Domäne sind hierbei Fossilienfunde, die Rückschlüsse auf die evolutionäre Entwicklung des Homo sapiens zulassen. Hierbei werden zumeist körperliche Überreste unserer Vorfahren mithilfe weiterer Indikatoren aus evolutionsbiologischen Ansätzen (z. B. der Paläoökologie oder Paläogenetik) interpretiert.
Im Gegensatz zur Paläoanthropologie befasst sich die Archäologie (und in unserem Falle: die prähistorische Archäologie oder Primatenarchäologie) mit materiellen Hinterlassenschaften, welche auf die kulturelle Entwicklung der Menschheit hindeuten. Hier sind insbesondere die Entdeckung von ersten Steinwerkzeugen und Kunstwerken in Form von Höhlenmalereien zu nennen.
Erst vor etwa 80.000 Jahren können wir in Afrika Anzeichen einer radikalen Veränderung des Verhaltens von Homo sapiens nachweisen. Archäologen fanden diesbezüglich Evidenzen für symbolischen Körperschmuck in der Form von farbigem Umhängeschmuck und symbolische Objekte wie beispielsweise Gravurtafeln, auf denen mit Ocker gezeichnete geometrische Figuren zu sehen sind. Etwa zur selben Zeit wurde auch die Herstellung von Werkzeug immer professioneller. War dies anfangs nur die Ausnahme, so wurde technologischer Wandel jetzt zur Routine. Laut Berwick und Chomsky (2016) kann die Blombos-Höhle in Südafrika mit ihren Funden der vielleicht ältesten Kunstwerke der Menschheit überhaupt als Evidenz für einen Zeitraum gelten, in dem Sprache bereits vorhanden gewesen sein muss. Diese Funde stammen, wie oben erwähnt, aus einem Zeitraum von vor ca. 80.000 Jahren (siehe hierzu Henshilwood et al. 2002).
Da die ersten anatomisch modernen Homo-Varianten vor ungefähr 200.000 Jahren im südlichen Afrika nachgewiesen werden können, könnten wir also den für uns relevanten Zeitraum zwischen diesen beiden Anhaltspunkten ansetzen. Insgesamt muss die menschliche Sprachfähigkeit folglich irgendwann im Zeitraum von vor 200.000 bis vor 80.000 Jahren entstanden sein. Diese grobe Vermutung wird von vielen Forschern geteilt.
Der Exodus einer Gruppe des modernen Homo sapiens aus Afrika erfolgte dann vor ungefähr 60.000 Jahren. Dies kann aus der Kombination genetischer Forschungen und der Daten zu klimatischen Umständen erschlossen werden, die einen Korridor aus Afrika heraus eröffneten (siehe Pagani et al. 2015 für konkrete Hypothesen). Die Nachkommen dieser Gruppe verbreiteten sich dann nach und nach auf alle Kontinente. Ab dieser Zeit des Exodus finden Archäologen nun an zahlreichen Orten in den verschiedensten Regionen der Welt verbesserte Werkzeuge, Begräbnisspuren, Ornamentschmuck sowie eindeutige Zeichen von Kunst (insbesondere Höhlenmalereien, in denen Sternbilder, Tiere, Jäger, Zahlen usw. dargestellt werden). Diese Funde sind insofern relevant für unser Thema der Sprachevolution, da in der Forschung eine Art Konsens darin besteht, dass es eine Korrelation zwischen der Sprachfähigkeit und der Fähigkeit zu komplexem symbolischen Handeln gibt. Noch einmal: Bevor in neuerer Zeit Schriftsysteme erfunden worden sind, gibt es keine eindeutig auf Sprache verweisenden Materialfunde, die Rückschlüsse in Bezug auf die Sprachevolution zulassen würden. Dies ist anders bei der Fähigkeit zum symbolischen Handeln und Denken. Hier gibt es laut einschlägiger Arbeiten klare Evidenzen wie die oben angeführten (siehe hierzu zuletzt Tattersall 2016).
Der Exodus aus Afrika bietet somit einen weiteren wichtigen Anhaltspunkt, denn betrachtet man die Sprachfähigkeit als biologische Veranlagung, als Kind jede beliebige Sprache der Welt lernen zu können, so sollte die Sprachfähigkeit vor der Verteilung des Menschen auf den ganzen Erdball entstanden sein, da es bezüglich der biologischen Veranlagung keine Variation innerhalb unserer Spezies gibt. Nicht wenige Forscher datieren desh...