Teil 1
1Einleitung
Das Ziel der vorliegenden Untersuchung besteht in der Analyse eines Dialogs aus Platons später Schaffensperiode, des SOPHISTES. Dabei wird eine neue Interpretation der Ideenlehre herausgearbeitet, deren Fokus vor allem auf die von der Forschung kaum wahrgenommene Annahme dieser Theorie gerichtet ist, dass es Teile von Formen gibt.
Platonische Formen werden in der Fachliteratur häufig als abstrakte, singuläre und unteilbare Entitäten beschrieben. Dagegen wird gezeigt, dass sie Platon hingegen als abstrakte, singuläre, aber aus Teilen bestehende Entitäten auffasst und in einem gewissen Sinn als teilbar betrachtet.
Der Interpretationsansatz besteht zunächst darin, die Grundgedanken der Ideenlehre in einer semantischen Theorie über allgemeine Prädikatausdrücke zu verorten sowie in den damit verbundenen metaphysischen Annahmen über ihre Bedeutungen, die als ›Ideen‹ oder ›Formen‹ bezeichnet werden. Die zentralen Thesen dieser Theorie, die im Folgenden kurz dargestellt werden, vertritt Platon sowohl in den frühen und mittleren als auch in den späten Dialogen, in denen es um Ideen geht.
Gegenstand der Ideenlehre sind zwei Typen von Aussagesätzen, nämlich erstens prädikative Aussagesätze und zweitens – das wird in der Forschung kaum berücksichtigt – Klassifikationsaussagen.
Als Sinn eines prädikativen Aussagesatzes der Form ›a ist F‹ wird der Sachverhalt betrachtet, dass a an der Idee F teilhat. Der Zusammenhang wird von Platon häufig so ausgedrückt, dass a die Eigenschaft F hat bzw. F ist, weil (διὰ) a an F teilhat.1 Das lässt sich so auffassen, dass ›a hat teil an F‹ eine metaphysische oder, allgemeiner ausgedrückt, fachsprachliche Formulierung für das natürlichsprachliche Äquivalent ›a ist F‹ ist.2 Als Bedeutung eines allgemeinen Prädikatausdrucks F wird also eine Idee oder Form der F-heit angenommen, während die Kopula ›… ist …‹ für die Relation der Teilhabe oder die Methexis verwendet wird. Im SOPHISTES und POLITIKOS wird diese Analyse dadurch eingeschränkt, dass nicht jedem allgemeinen Prädikatausdruck eine Form entspricht.3 Dies soll zunächst keine Rolle spielen, indem angenommen wird, dass die behandelten Sätze nur Prädikatausdrücke für Formen enthalten.
Als Sinn einer Klassifikationsaussage der Form ›F ist eine Art der Gattung G‹ wird hingegen – das ist weniger bekannt als ersteres – der Sachverhalt betrachtet, dass die Form F ein Teil der Form G ist.4 Auch dabei werden wieder Formen als Bedeutungen von allgemeinen Prädikatausdrücken angenommen. Solche Sätze werden aber nicht mithilfe der Methexis analysiert, sondern mithilfe des zweiten Grundprädikats der ideentheoretischen Fachsprache, der Teil-Ganzes-Relation.
Die Metaphysik der Formen und ihrer Teile wird in der vorliegenden Arbeit durch ein rein intensionales Modell adäquat und widerspruchsfrei beschrieben, was bisher als nicht möglich betrachtet wurde.5 Das bedeutet, dass Teile von Formen nicht als Teilmengen von Mengen dessen betrachtet werden, was an der jeweils ganzen Form teilhat. Sie werden stattdessen im Rahmen einer Mereologie, einer Logik von Teil und Ganzem, beschrieben. Das ist zum einen aus interpretatorischen Gründen notwendig, weil Platon Teile von Formen selbst als Formen betrachtet und Formen nicht als Mengen, sondern als singuläre Entitäten. Die Rekonstruktion der Theorie wird zum anderen deutlich machen, dass dies auch aus systematischer Perspektive möglich ist. Dabei wird nicht nur nachgewiesen, dass die Annahme von Teilen platonischer Formen textlich gesichert ist, sondern auch, dass die Ideenlehre ohne diese Annahme ihre wesentlichen systematischen Funktionen nicht erfüllen könnte.
Ausgehend von der Neuinterpretation der Ideenlehre wird gezeigt, wie sie Platon im SOPHISTES für die Beantwortung von unterschiedlichsten philosophischen Fragen fruchtbar macht, ohne dabei neue metaphysische Annahmen einführen oder alte verwerfen zu müssen. So gelingen ihm erstmals ideentheoretisch fundierte Erklärungen von mehrstelligen Prädikaten und Eigenschaften von Formen. Die Analyse des Textes wird deutlich machen, wie die Ideenlehre dabei für die Bearbeitung der zentralen Themen des Dialogs genutzt wird, nämlich für die Entwicklung einer Theorie des Satzes, für eine darauf aufbauende Wahrheitstheorie und schließlich für die Definition der Sophistik.
Durch die Analyse der ideentheoretischen Fachsprache lassen sich Rückschlüsse auf die zugrunde liegenden metaphysischen Annahmen ziehen. Interessant sind dabei vor allem Passagen, in denen die Ideenlehre im Rahmen von strengen Beweisführungen angewendet wird. Eine Rekonstruktion der Argumente legt offen, welche fachsprachlichen Aussagen aus welchen geschlussfolgert werden, woraus sich eine entsprechende Axiologie ableiten lässt.
Eine Interpretationsmethode der vorliegenden Arbeit besteht deshalb in einer logischen Analyse des Textes. Die Argumente werden dabei durch eine Logik rekonstruiert, die als eine formalsprachliche Darstellung der Ideenlehre zu verstehen ist.
Diese formale Sprache P2 – ›P‹ für Platon und ›2‹ für die beiden Grundprädikate der Ideenlehre – wird im ersten Teil der Arbeit Schritt für Schritt anhand der Interpretation von ausgewählten Textpassagen entwickelt: In Kapitel 2 geht es um die Teil-Ganzes-Relation in Definitionen und sogenannten Dihairesen, d. h. in Klassifikationen von platonischen Formen. Damit kann der Grundstein für P2 als eine formale Mereologie gelegt werden. In Kapitel 3 geht es um die Relation der Teilhabe mit einem Schwerpunkt auf der sogenannten Theorie über die Verknüpfung von Gattungen. Es wird sich zeigen, dass es sich dabei nicht um eine Revision der früheren Ideenlehre handelt, sondern um eine konsequentere Anwendung. Nach wie vor gilt im SOPHISTES nämlich die Annahme, dass alles das F ist, was an der entsprechenden Form der F-heit teilhat. Dabei werden jedoch nicht nur Fälle betrachtet, in denen Partikulares an Formen teilhat, sondern auch Fälle, in denen Formen an Formen teilhaben, sofern sie selbst Eigenschaften haben. In Kapitel 4 wird schließlich anhand einer Rekonstruktion der Differenzbeweise in soph. 254d4–255e7 die Entwicklung von P2 abgeschlossen.
Ein Problem gerade von neueren Interpretationen der analytischen Tradition besteht darin, dass sie aus der Analyse weniger und kurzer Abschnitte, die losgelöst vom argumentativen Kontext betrachtet werden, weitreichende Schlussfolgerungen ziehen wollen.6 Ein solches Vorgehen ist für den SOPHISTES jedoch ungeeignet, weil Platon in diesem Dialog verschiedene philosophische Teilgebiete – nämlich vor allem die Definitionstheorie, die Ontologie, die Sprachphilosophie und die Wahrheitstheorie – miteinander in Verbindung bringt, von der Ideenmetaphysik als übergeordnete Theorie ableitet und zu einem großen philosophischen System zusammenführt. Dies alles unternimmt er für das Ziel, eine Definition des Sophisten erre...