KOMMENTAR
Kapitel 1
Das Thema von II 1 ist âmehreres Deduzierenâ. Einen ersten Eindruck vermittelt § 9.1 der Einleitung. Das Kapitel weist BezĂŒge zu I 1â2 und I 4-6, insbesondere aber zu I 7 auf.
Mit âmehreres Deduzierenâ (vgl.
, 53a5) ist gemeint, dass sich in vielen FĂ€llen aus dem PrĂ€missenpaar einer assertorischen Deduktion mehr erschlieĂen lĂ€sst als nur die Art von Konklusion, die in I 4â6 behandelt wurde. Das Thema wird in zwei Abschnitten behandelt:
(1) Der kurze Abschnitt 53a3â14 ist von groĂer systematischer Bedeutung fĂŒr das Projekt der assertorischen Syllogistik. Insbesondere erlaubt er wichtige RĂŒckschlĂŒsse zur so genannten vierten Figur und zu den so genannten indirekten Deduktionen.
(2) Der lĂ€ngere Abschnitt 53a15â53b3 handelt davon, wie sich die Etablierung einer Konklusion auf Terme unter den Termen der Konklusion auswirkt. Anders als die Ăberleitung in 53a15 vermuten lĂ€sst, ist er von 53a3â14 sachlich unabhĂ€ngig.
Der Behandlung des Themas von Kap. 1 voraus geht ein Vorspann (52b38â 53a3), der zusammenfasst, was fĂŒr das Folgende als bereits abgehandelt vorausgesetzt wird (vgl. hierzu § 2.5). Ein Programm oder Plan fĂŒr das zweite Buch wird am Ende des Vorspanns nicht festgehalten; es wird kein Vorhaben beschrieben, sondern es geht in 53a3 sogleich zur Sache.
Abschnitt 1 (52b38â53a3): Vorspann
52b38â39 âWir sind bereits durchgegangen,
[i] in wie vielen Figuren [] eine Deduktion [] zustande kommt, [ii] und durch welcherart und wie viele PrĂ€missen [] eine Deduktion zustande kommt, [iii] und wann und wie dies geschieht.â
Im heute vorliegenden Text von Buch I werden die genannten Punkte in den Kapiteln I 1â2, I 4â6 (und I 23â26) grĂŒndlich durchgegangen. Wer diese Texte kennt, kann den ersten Satz mit seinen zentralen Fachwörtern âDeduktionâ (
), âPrĂ€misseâ (
) und âFigurâ (
) deshalb verstehen, wer nicht, muss sie anderswo gelernt haben. Der Einleitungssatz hĂ€lt die zur LektĂŒre von Buch II erforderlichen Vorkenntnisse
fest. Ich bin daher, anders als Ebert und Nortmann, nicht der Ansicht, dass 52b38â535a3 an seinem ĂŒberlieferten Ort âfunktionslosâ (114) ist.
Der erste Satz von II 1 entspricht dem Fazit in I 26, 43a16â19 (Ăbersetzung aus Buch I hier und im Folgenden: Ebert/Nortmann):
â[i']Wie also jeder Syllogismus zustande kommt und
[ii'] aufgrund von wievielen Termini und PrÀmissen und in welchem VerhÀltnis diese zueinander stehen,
[iii'] weiterhin welche These in welcher Figur und welche in mehreren und welche in weniger (Figuren) bewiesen wird,
ist aus unseren AusfĂŒhrungen klar geworden.â
Die Wendung âwann und wieâ (
, 52b39) findet sich im selben Kontext auch in der Aufgabenstellung von I 4â6 in I 4, 25b26 f. Als kleiner Einstufungstest gelesen, lautet II 1, 52b38â39:
a) Durch welcherart und wie viele PrÀmissen kommt eine Deduktion zustande?
b) In wie vielen Figuren?
c) Wann und wie?
Buch II setzt damit an Vorwissen den Inhalt der §§ 6.1â6.7 der Einleitung voraus.
Ad (a): âWieviele PrĂ€missenâ? Mindestens zwei (§ 6.1). Die wahrheitserhaltende Transformation einer einzigen PrĂ€misse (conversio), die in II 1, 53a3â14, thematisiert wird, gilt noch nicht als Deduktion (§ 6.4). II 17 und II 18, evtl. auch schon II 11â14, legen nahe, dass es Deduktionen mit mehr als zwei PrĂ€missen gibt, wenngleich diese immer von solchen mit genau zwei PrĂ€missen ausgehen.
âWelcherart sind die PrĂ€missen?â Alle PrĂ€missen haben die Form XxY, und zwar XaY , XeY , XiY oder XoY (§ 6.2).
Ad (b): Die Antwort ist: in drei Figuren (§ 6.5).
Ad (c): Die Antwort auf diese Frage wird im Wesentlichen in I 4â6 gegeben (§ 6.6, 6.7). Aristoteles kommt immer wieder auf vierzehn prominente modi zurĂŒck, bei denen aus einem gegebenen PrĂ€missenpaar eine Konklusion folgt (§ 6.6). Allerdings lĂ€sst schon I 7 erkennen, dass er diese Liste, wenn auch fĂŒr alle Zwecke der Untersuchung vollstĂ€ndig, fĂŒr nicht ganz abgeschlossen hĂ€lt (§ 6.8). Die Einzelheiten werden im Zusammenhang mit 53a3â14 wichtig und im Kommentar dazu behandelt.
52b40â53a3 â[i] Ferner sind wir durchgegangen, auf welcherart Dinge man schauen muss, wenn man widerlegt oder etabliert und wie man ein vorliegendes â©
ProblemâȘ
[] im Rahmen einer jeden Untersuchung [] angehen muss. [ii] Ferner sind wir durchgegangen, auf welchem Wege wir die jeweiligen Ausgangspunkte [] erhalten werden.â Dies entspricht dem, was Aristoteles am Beginn von I 27, 43a21 f., als das Thema von I 27â30 festhĂ€lt (vgl. hierzu auch Ebert/Nortmann, 111):
âJetzt ist darzulegen,
[i'] wie wir selber es fertigbringen, immer eine ausreichende Anzahl Syllogismen fĂŒr eine gegebene (These) zur VerfĂŒgung zu haben und
[ii'] auf welchem Wege wir die Prinzipien einer jeden (These) finden.â
Es soll also âein Argumentierender in die Lage versetzt werden, [âŠ] zu einer vorgelegten These [=
] PrĂ€missen zu finden, mit deren Hilfe sich diese These beweisen lĂ€sst.â (Ebert/Nortmann, 109). Diese Aufgabe sieht Aristoteles am Ende von I 31 abgeschlossen. Es sei nun (I 31, 46b38-40)
âklar, woraus und wie die Beweise zustande kommen und nach welcherart (Bestimmungen) wir bei jeder (zu beweisenden) These Ausschau halten mĂŒssen.â
Die Phrase
(âim Rahmen einer jeden Untersuchungâ) aus 53a1â2 findet sich ein weiteres Mal in II 23, 68b12, in vermutlich noch weiter zu nehmendem Sinne als hier.
Abschnitt 2 (53a3â14): auch noch Erschlossenes I (Konversionen, vierte Figur)
53a3â14 âDa die Deduktionen [âŠ] denn es kann allem zukommen.â
Der kurze Abschnitt enthĂ€lt eine FĂŒlle von Informationen von teils groĂer Bedeutung fĂŒr das Projekt der assertorischen Syllogistik.
(1) â[D]ie Deduktionen [sind] teils allgemein [âŠ], teils partikulĂ€râŠâ (53a3-4). Was genau ist hier mit allgemeinen, was mit partikulĂ€ren Deduktionen gemeint? Naheliegend ist die folgende Definition:
(Variante 1) Eine Deduktion ist genau dann allgemein, wenn sie eine allgemeine (=universelle) Konklusion (a, e) hat, und genau dann partikulÀr, wenn sie eine...