Teil 1:Einleitung
1Einleitung
Diese Studie widmet sich ausfĂŒhrlich der Beschreibung und Analyse nonagentiver Konstruktionen. Aus konstruktionsgrammatischer Perspektive sind das solche sprachlichen Muster, die auf der Ebene der Periphrase dem âAgens-Patiens-Schemaâ entgegenlaufen, indem sie eine alternative Perspektive auf einen in Sprache ausgedrĂŒckten Sachverhalt etablieren. Darunter fallen etwa passivische oder reflexive Konstruktionen, in die Verben als Filler eingebettet werden können und in deren Argumentstruktur kein Agens (AG) vorgesehen ist.
In der vorliegenden Studie wird ein groĂer Teil dieser verschiedenen Konstruktionen im Fokus stehen, nĂ€mlich die passivischen Strukturen des Deutschen. Es wird das Ziel verfolgt, passivische Strukturen als Konstruktionen mit eigener Perspektivierungsleistung zu beschreiben, sie in einem Netzwerk von Konstruktionen (âKonstruktikonâ) zu verorten und Besonderheiten der Konstruktionen auf der Basis ihrer Realisierungen im Sprachgebrauch zu erfassen.
Damit betritt diese Arbeit Neuland in zweierlei Hinsicht. Zum einen wurden der Diskussion um passivische Strukturen bisher kaum Arbeiten zugefĂŒhrt, die sich mit Sprachgebrauchsmaterial auseinandersetzen. Zum andern liegt bisher keine konstruktionsgrammatische Studie vor, die sich mit der Perspektivierungsleistung nonagentiver Konstruktion befasst.
1.1HinfĂŒhrung
Die Forschungsschwerpunkte konstruktionsgrammatischer Studien liegen im Moment zentriert im Bereich der Grammatikalisierung, der Erforschung des Spracherwerbs und der gesprochenen Sprache â Arbeiten zur Morphologie und Syntax beschrĂ€nkten sich lange auf Momentaufnahmen (Birkner 2007, Selting 1993), ĂŒbergreifende Studien zum Verb und seiner Bedeutung fĂŒr und in Konstruktionen sind noch selten (Hilpert 2008a, Felfe 2012, Lasch 2014a, Lasch im Druck). Die GrĂŒnde hierfĂŒr sind zwar sicher vielfĂ€ltig, herauszuheben ist aber doch, dass im Hinblick auf das Verb nicht die Untersuchung einzelner Vertreter zur Erhellung systematischer ZusammenhĂ€nge fĂŒhrt, sondern die Einheitenkategorien des Verbs im Mittelpunkt stehen mĂŒssen oder Verben, die systematische Reihen bilden, wie Partikelverben (Felfe 2012).
Gebrauchsbasierte Konstruktionsgrammatiken arbeiten seit fast zehn Jahren korpusbasiert. Auf diesem Wege soll abgesichert werden, dass zum einen die Ergebnisse auf der Basis der Beschreibung authentischen Sprachmaterials formuliert sind und zum anderen Möglichkeiten offen gehalten werden, innovative Formen der Sprachverwendung oder zunehmend erstarrende Konstruktionen und damit Konstruktionen anhand ihrer Realisierungen zu identifizieren und zu beschreiben. FĂŒr die Analyse der Kategorien des Verbs aus konstruktionsgrammatischer Perspektive ist mit diesem Anspruch ein nicht zu unterschĂ€tzender theoretischer und forschungspraktischer Aufwand verbunden, denn die aus dem analytischen Bau des Deutschen resultierenden komplexen syntaktischen Muster stellen fĂŒr jede Untersuchung auf der Basis eines korpuslinguistischen Zugriffs eine hohe Einstiegsschwelle dar.
Zum zweiten sieht sich dieser gebrauchsbasierte Ansatz dem Problem ausgesetzt, dass â anders als fĂŒr unifikationsbasierte konstruktionsgrammatische AnsĂ€tze â eine strukturierte Beschreibung von Konstruktionen bisher nicht modellhaft ausgearbeitet wurde. Mit dem Begriff der âKonstruktionâ (construction) greife ich zunĂ€chst das zentrale Theorem der Konstruktionsgrammatik (construction grammar) auf, die in der Regel mit Goldberg so verstanden wird:1
Any linguistic pattern is recognized as a construction as long as some aspect of its form or function is not strictly predictable from its component parts or from other constructions recognized to exist. In addition, patterns are stored as constructions even if they are fully predictable as long as they occur with sufficient frequency. (Goldberg 2006a: 5)
Im Gegensatz zu Goldbergs Bestimmung von 1995 wird hier deutlich herausgestellt, dass auch sprachliche Einheiten, die vollstĂ€ndig vorhersagbar sind, als Konstruktionen gelten sollen, solange sie nur in entsprechender Frequenz nachgewiesen werden können. Anders als unifikationsbasierte AnsĂ€tze gehen gebrauchsbasierte AnsĂ€tze davon aus, dass aus dem Sprachgebrauch heraus Konstruktionen als kognitive ReprĂ€sentationen entstehen und mit diesen auch die Strukturen, wie diese Konstruktionen geordnet sind. Gebrauchsbasierte AnsĂ€tze sind bemĂŒht, diesen Prozess der Verfestigung von Konstruktionen durch ihren Gebrauch zu erfassen und möglichst adĂ€quat zu beschreiben.2 Diesen Annahmen sieht sich die Studie zu nonagentiven Konstruktionen verpflichtet. Dabei implementiert sie die auf die von Polenz'sche Satzsemantik (1985) zurĂŒckgehenden Konzepte Aussagerahmen, PrĂ€dikationsrahmen, PrĂ€dikatsklassen und semantische Rollen in die Goldberg'sche Struktur einer Konstruktion (1995, 2006a), um ein tragfĂ€higes Modell zur Analyse von Konstruktionen und vor allem von Konstruktionsbedeutungen vorzuschlagen. In AuszĂŒgen wurde dieses Modell schon von mir vorgestellt in Ziem 4 Lasch 2013.
Die Studie zu den nonagentiven Konstruktionen des Deutschen nimmt eine Frage der Grammatikforschung auf, die in den letzten Jahren eine kleine Konjunktur erlebt â die so genannten Handlungsformen des Verbs. Ich werde mich vor allem auf diese und die dem Genus Verbi benachbarte Kategorie, das Tempus, konzentrieren.3 Dabei wird im Verlauf der Studie auch anzusprechen sein, ob man bei diesen Kategorien noch von âKategorien des Verbsâ sprechen soll.
1.2Fragestellungen
Die Untersuchung zu nonagentiven Konstruktionen wird ausgehend von den Handlungsformen des Verbs das in der Forschung lĂ€ngst in Frage stehende Ableitungsmodell suspendieren (vgl. vor allem Kap. 4). Auf der Basis eines gebrauchsbasierten Ansatzes wird fĂŒr eine Gruppe unterschiedlicher Konstruktionen plĂ€diert (vgl. Kap. 5 sowie 7â10), die sich in einem Konstruktikon hinsichtlich ihrer Beziehungen zueinander abbilden lassen (Kap. 11). Basiskriterium fĂŒr die Differenzierung unterschiedlicher Konstruktionen ist ihre je eigene und besondere Perspektivierungsleistung (vgl. Kap. 5). In den letzten Jahren haben vor allem die Diskussion um das Resultativum und das Perfektpartizip diesen Weg geöffnet, den die Studie zu den nonagentiven Konstruktionen weitergehen möchte (vgl. Kap. 4.1.1). Die Leistung nonagentiver Konstruktionen ist, dass der Sprecher die zentripetale Perspektive bei der Sprachproduktion einnehmen kann, wenn er eine dieser Konstruktionen im Gebrauch realisiert. Mit der Perspektivierung setzen wir uns in Kap. 5.1.1 ausfĂŒhrlich auseinander. Postulat ist, dass sich nonagentive Konstruktionen in Bezug auf ihre kognitive PerspektivitĂ€t (Konstruktion) und kommunikative PerspektivitĂ€t (Realisierungen von Konstruktionen) adĂ€quat aus Sprachgebrauchsmaterial rekonstruieren lassen. DasheiĂt aber (1) zugleich, dass man möglichst viele der Verben in die Ăberlegungen einschlieĂt, die in Konstruktionen dieser Art eingebettet werden können, und sich nicht mehr allein auf die so genannten âPassivauxiliareâ sein, bleiben, werden, bekommen/erhalten/kriegen beschrĂ€nkt, sondern etwa auch Konstruktionen mit scheinen, erscheinen, gehören, wirken, aussehen und haben hinsichtlich ihrer kommunikativen und kognitiven PerspektivitĂ€t untersucht (vgl. dazu ausfĂŒhrlich Teil IV dieser Arbeit beginnend mit Kap. 6). Dennoch muss auch hier der Gegenstand eingegrenzt werden: Die Ausdehnung der gebrauchsbasierten Analyse von Konstruktionsrealisierungen mit diesen Verben hat nĂ€mlich zur Konsequenz, dass reflexive Konstruktionen, die um den Reflexivmarker (Reflexivpronomen) einen eigenen Konstruktionstyp bilden, in dieser Studie nur am Rande thematisiert werden können (vgl. dazu Kap. 5.1.5). (2) Eine Systematisierung der Filler, die neben dem Verb Teil nonagentiver Konstruktionen werden, nĂ€mlich (deverbale) Adjektive, Progressive, Infinitive mit zu usw., ist weiteres Ziel der Studie. Diese Filler gelten ebenfalls selbst als Konstruktionen und steuern neben (lexikalischer) Eigensemantik der Elemente auch eine Konstruktionsbedeutung bei, die die Bedeutung nonagentiver Konstruktionen unabhĂ€ngig vom Verb in der Konstruktion aktualisieren. Das kann so weit gehen, dass man â man denke an analytische Tempuskonstruktionen und/oder eingebettete erweiterte Infinitive mit zu â eigene Subtypen von Konstruktionen diskutieren kann (vgl. zu diesen PhĂ€nomenen unten Kap. 10). (3) Weiter wird zu zeigen sein, inwieweit konstruktionsgrammatische AnsĂ€tze auf der Basis korpuslinguistischer Arbeit alternative Modelle fĂŒr Grammatik hervorbringen können, aber auch, wo (Möglichkeiten und) Grenzen dieser Modelle liegen. Welche Konsequenzen das Modell fĂŒr die traditionelle Einteilung der Einheitenkategorien des Verbs haben wird, lĂ€sst sich derzeit nicht abschĂ€tzen. Zu vermuten ist aber, dass analytische von synthetischen Formen stĂ€rker voneinander zu trennen sein werden, wobei es zahlreiche Beziehungen zwischen den analytisch gebauten Konstruktionen gibt, die schwer zu entflechten sind. Wir konzentrieren uns in dieser Studie auf die ZusammenhĂ€nge zwischen nonagentiven und analytischen Tempuskonstruktionen (vgl. Kap. 5.1.4) und klammern analytische Modalkonstruktionen sowie reflexive Konstruktionen weitestgehend aus (Kap. 5.1.4 und 5.1.5).
Nonagentive Konstruktionen sollen in ihren Kontexten analysiert werden. Die Grundlage fĂŒr eine breit angelegte Korpusanalyse ist das nach Textsorten geschichtete KERN-Korpus beim Digitalen Wörterbuch der Deutschen Sprache (DWDS), welches ĂŒber 100 Millionen Token fĂŒr den Zeitraum zwischen 1900 und 2000 umfasst (vgl. zum Zuschnitt des Untersuchungsdesigns und zur Korpuskritik ausfĂŒhrlich Kap. 6). Durch die Heranziehung einer breiten Datenbasis zur Beschreibung nonagentiver Konstruktionen wird es (1) ĂŒberhaupt erst möglich, das wichtige Anliegen gebrauchsbasierter AnsĂ€tze einzulösen, Sprache im Gebrauch zu analysieren und Strukturen, die durch diesen Gebrauch entstehen, zu erfassen (vgl. Kap. 7ff.). Verbunden mit diesem Anliegen ist die Hoffnung, eine alternative Perspektive auf Genese und Gebrauch von Sprache und sprachlichen Strukturen zu entwickeln, die dazu einladen soll, mit etablierten Beschreibungsmodellen ins GesprĂ€ch zu kommen (vgl. dazu besonders die Kap. 10 und 11).
(2) Nonagentive Konstruktionen können erst im Kontext befragt werden z.B. hinsichtlich der Ăberformung durch temporale Konstruktionen. So kommen zum einen oben erwĂ€hnte Beziehungen (das Fahrrad ist gestohlen/verrostet) in den Blick und zum anderen werden die Leistungen einzelner fĂŒr die Konstruktionen herangezogener Verben deutlich sichtbar â erscheinen ĂŒbernimmt beispielsweise die Leistung der Konstruktion mit scheinen im Perfekt, da es dieses mit sein statt wie ...