Pro captu lectoris habent sua fata libelli.
1.1Einleitung
Dass man nicht Dichter und Christ gleichzeitig sein kann, steht für Kierkegaard schon fest, als er 1841 seine Magisterabhandlung publiziert: „Eine Sache nämlich ist es, sich selbst zu dichten, eine andere Sache, sich dichten zu lassen. Der Christ lässt sich dichten [Eet er nemlig at digte sig selv, et Andet at lade sig digte. Den Christne lader sig digte]“ (SKS 1, 316 / BI, 286; HF). Ein Dichter ist für Kierkegaard nicht einfach jemand, der Gedichte schreibt, sondern jemand, der – so kann man vorläufig sagen – eine eigen-mächtige Haltung zum Dasein an den Tag legt; (sich selber) zu dichten, bedeutet, die Welt nach seinem eigenen Bilde zu entwerfen; sich dichten zu lassen hingegen, sich der göttlichen Macht hinzugeben. Ersteres manifestiert sich aber in der Gestalt des Kunst schaffenden Dichters. Kierkegaard selber befand sich im fortwährenden Konflikt zwischen seiner religiösen Überzeugung und seiner Dichterlust. Zehn Jahre später sieht er sich daher veranlasst, darzulegen, wie die Dinge mit ihm persönlich stehen, und erklärt, dass sein gesamtes Werk religiös, nicht etwa ästhetisch, zu deuten sei: „Das schriftstellerische Werk, in seiner Ganzheit betrachtet, [ist] religiös […] vom Anfang bis zum Ende, etwas, was jeder, der sehen kann, auch sehen muss, wenn er sehen will.“ (SKS 13, 12 f. / WS, 5) Ein religiöser Schriftsteller zu sein, stellt also kein Problem dar. Dies wirft zwei Fragen auf: Was unterscheidet einen Schriftsteller von einem Dichter? Und was unterscheidet den ästhetischen vom religiösen Schriftsteller?
Zudem stellt sich aber auch die Frage, inwiefern Kierkegaards strukturell komplexes, poetisch inszeniertes, bis in Details von Interpunktion (vgl. NB:146 in SKS 20,98 /DSKE 4, 109) und Rhythmus durchdachtes Werk nicht als ästhetisch zu lesen sein kann. Diesem Ansinnen steht jedoch sowohl Kierkegaard selbst – „Man mache denn den Versuch; man versuche diese gesamte schriftstellerische Wirksamkeit mit der Annahme zu erklären, dass dies ein ästhetischer Schriftsteller sei. Man wird leicht sehen, dass gleich von Anbeginn an diese Erklärung nicht mit der Erscheinung [Phænomenet] übereinstimmt, sondern sogleich an den ‚zwei erbaulichen Reden‘ scheitert.“ (SKS 16, 19 f. / GWS, 30; HF) – als auch ein Großteil der Forschung kritisch gegenüber.2 Der Realisierung von komplexen kompositorischen, narrativen und stilistischen Strukturen und seinen Reflexionen über diese zum Trotz betrachtete Kierkegaard seine dichterische Begabung als eine Bürde, die sich schwer in sein Selbstverständnis als religiöser Autor integrieren ließ, und die er mehr und mehr dämonisierte.3 Er selber löst das Problem, indem er sein Werk in zwei Teile teilt und erklärt, der erste, ästhetische Teil sei nur dafür da, den Leser4 in das Verständnis des zweiten, religiösen Teils ‚hineinzubetrügen‘ (vgl. SKS 16, 35 / GWS, 48), und also Mittel zum Zweck.5 Dieser erste, pseudonym herausgegebene Teil sei daher indirekte Mitteilung,6 der zweite, unter Kierkegaards Namen publizierte, aber direkte. Die Forschung hat diese Aufteilung lange Zeit übernommen, und noch heute ist die Unterscheidung zwischen ästhetischpseudonymen indirekten und religiös-autonymen direkten Schriften common sense.
Aber warum sollte ein solcher ästhetischer Betrug überhaupt vonnöten sein? Das ist nur auf Grund der Prämissen von Kierkegaards Vermittlungsabsicht zu verstehen. Kierkegaard wendet sich an einen Leser, der zu jener modernen,7 reflektierten Christenheit im Dänemark der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zählt, deren Wurzeln im Christentum im Lauf der institutionellen Etablierung faulig geworden sind. Sein Angriff gegen die Kirche wird immer polemischer und kulminiert in den bissigen bis verbissenen Attacken der von ihm selbst herausgegebenen Zeitschrift Øieblikket im Jahr 1855. Kierkegaards These ist, dass seine Zeitgenossen in der Einbildung – dem Sinnentrug „[Sandsebedrag]“ (SKS 16, 11 / GWS, 21) – leben, Christen zu sein, obwohl die Kirche in Wahrheit ein entkerntes, dichterisch-sentimental bewunderndes statt existentiell (der Nachfolge) verpflichtetes Pseudo-Christentum vertrete (vgl. SKS 13, 173 f. / WCC, 133 f.). Diese „eingebildeten“ Christen leben daher unter ästhetischen Bestimmungen, im Bann ästhetischer „Zaubermacht“ (vgl. SKS 16, 25; 28 / GWS, 36; 40) Deshalb müssen sie auf diesen trügerischen Zustand erst aufmerksam gemacht werden, um wahre Christen werden zu können.8 Um überhaupt gelesen zu werden und die Aufmerksamkeit auf das Religiöse hin lenken zu können, müssen die Werke also betrügerische Mittel anwenden und sich auf diese ästhetischen Bestimmungen einlassen, um zum Schein von ästhetischer Position aus zu argumentieren. So kann der Leser „in die Wahrheit betrogen“ werden (vgl. SKS 13, 11–17; hier: 13 / WS, 6; HF): „die Aufgabe, die den meisten in der Christenheit zu setzen ist, lautet: fort vom ‚Dichter‘, oder davon, sich auf das zu beziehen, sein Leben in dem zu haben, was der Dichter vorträgt, fort von der Spekulation, von (etwas, das es zudem unmöglich gibt) einem Leben, das phantastisch im Spekulieren lebt (statt im Existieren), Christ zu werden.“ (SKS 16, 57 / GWS, 74; HF) Da dies eine Angelegenheit höchst privater Natur ist, spricht Kierkegaard stets den Einzelnen an.
Dieser Einzelne hält sich also für einen Christen, ist aber keiner, und er hält sich vermutlich auch für ein authentisches Selbst – glaubt also, seinen Platz im Leben ganz gut auszufüllen und mit sich selbst im Reinen zu sein –, ist aber keines. Er „muß er selbst werden, zu sich selbst zurückkehren, weil er unmittelbar nicht er selbst ist, sondern auf der Flucht vor sich selbst in Angst, Schuld, Verzweiflung – auch wenn ihm dies oft nicht bewußt ist.“9 Der Mensch, von Geburt an im Widerspruch zwischen Zeitlichkeit und Ewigkeit stehend, ist sich selber als Aufgabe gegeben und muss zu einemauthentischen Selbst erst gelangen (vgl. SKS 11, 129 f. / KT, 8) – entsprechend wird man auch zum Beispiel als Däne geboren, während man, nominell Angehöriger der dänischen Christenheit, ein Christ erst werden muss. Wohl betet dieser Mensch zu Gott, wohl geht er in die Kirche und liest erbauliche Schriften. Im tiefsten Grunde meint er aber, selber ganz gut zu wissen, was das Beste für ihn ist und was er mit seinem Leben anfangen soll und will. Außerdem weiß er, was sich gebührt, was man meint und tut; und er ist gebildet, sonst würde er Kierkegaards Schriften kaum zur Hand nehmen. Was also ist das Problem? Das Problem ist, dass er dem fundamentalen Irrtum der schwindelerregenden Anmaßung unterliegt, selber für seine Seligkeit verantwortlich zeichnen und die Dramaturgie seines Lebens (ästhetisch) entwerfen zu wollen. Doch insbesondere in einer modernen Welt ohne gültige absolute Haltepunkte muss der Mensch an diesem Projekt verzweifeln, das im Zentrum von Kierkegaards gesamtem Werk steht: unter den spezifischen Bedingungen der Moderne die existentielle Aufgabe der Selbstwerdung zu verwirklichen. Eine jede Lebenshaltung, die das eigene Ich als absolut setzt, muss das Ziel dieser Aufgabe verfehlen und endet in Verzweiflung. Der Mensch krankt unter dem Gebrechen der Moderne, unter den Bedingungen der Reflexion10 zu leben, und es gilt, durch diese hindurch zu einer neuen Einfalt – die nichts mit ‚Naivität‘ zu tun hat – zu gelangen, in der er sich selbst als durch Gott gesetzt erkennen und annehmen kann, um kraft der göttlichen Liebe eins mit sich selber zu werden (vgl. SKS 13, 13 / WS, 5). Das kann aber nicht in Gestalt eines harmonischen Übergangs geschehen (vgl. SKS 7, 551 / AUN2, 320), sondern es erfordert eine Suspension menschlicher Logik (einen „Sprung“, vgl. SKS 7, 96 f. / AUN1, 91), denn im Wege steht – der Gekreuzigte. Jesus Christus ist ein einfacher Mensch, aber er ist gleichzeitig Gott. Das ist ein Paradox, denn es vereint die absoluten Gegensätze von Zeitlichkeit und Ewigkeit in der Zeit.
Dass kein Mensch einem anderen diese Aufgabe abnehmen kann, ist evident. Wie aber ist sicherzustellen, dass ein Mensch nicht einfach die Wahrheit eines anderen übernimmt, aus einem Buch zum Beispiel? Das geht nur, indem der Verfasser sich selbst zurückzieht – marginalisiert11 –, sodass die „Gabe und Aufgabe“ (vgl. SKS 1, 312 / BI, 281)12 der eigenen Existenz alleine in der Verantwortung des Lesers liegt. Das erfordert einige (ästhetische) Kunst vom Verfasser – die Kunst einer indirekten Mitteilung, die ihr Anliegen nicht resultativ benennt, sondern dem Leser überantwortet. So kann der Einzelne auf die Verantwortung und Verzweiflung seiner Existenz und auf das Religiöse als Fluchtpunkt aufmerksam werden. Und daher also ist das Ästhetische notwendig im Sinne eines Betrugs.
Kierkegaards Trennung des Ästhetischen und Religiösen hat in der Forschung zu zwei Konsequenzen, einer thematischen und einer formalen, geführt: die ästhetisch-pseudonymen und die religiös-autonymen Texte sind erstens als antagonistische (thematische) Einheiten betrachtet worden, zweitens gelten, wenn überhaupt, nur die ästhetischen Werke als stilistisch interessant.13 Anliegen dieser Arbeit ist es, zu zeigen, dass beides nicht zutrifft, und sich nur aus der stilistischen Untersuchung beider Werkkomplexe zeigen lässt, wie das Ästhetische und das Religiöse sich in den einzelnen Werken auf der Ebene ihrer sprachlichen Gestaltung wechselseitig nicht nur durchdringen, sondern auch bedingen.
Warum aber sollte es überhaupt interessant sein, dafür zu argumentieren? Weil Kierkegaard das Kind mit dem Bade ausgeschüttet hat: Der Einzelne, das Selbst, ist genau wie Kierkegaards Texte ganz gewiss nicht entweder ausschließlich ästhetisch oder ausschließlich religiös. Weder lässt sich zum Beispiel „Forførerens Dagbog“, wie es häufig geschieht, auf ein reines Postulat ästhetischer Dämonie beschränken (Kapitel 3), noch lassen sich Kierkegaards religiöse Reden (predigtartige Texte, aus denen Kierkegaards religiöses Werk überwiegend besteht), wie etwa „Synderinden“, verstehen, ohne der ästhetischen Gesamt- und Detailanlage der Rede Beachtung zu schenken (Kapitel 7). Inwiefern, also, verweisen schon die ästhetischen Texte auf die religiöse Lebenshaltung? Und inwiefern bleibt das Ästhetische im Religiösen präsent, und zwar nicht nur im Sinne von sprachlichen Gestaltungsmitteln, sondern auch thematisch und anthropologisch? Gefragt wird also...