1Einleitung
1.1Unsterblichkeit im hohen Norden
Die letzte Spur des Pfads endet bei den Fundamenten des aufgelassenen Hofs Vík, neben denen die isländische Rettungsgesellschaft eine ihrer leuchtend-orangen Schutzhütten errichtet hat. Die Hofruine liegt unmittelbar an der Küste des Héðinsfjords in Nordisland, wo die Víkurá in den Fjord mündet, kaum über Meereshöhe. Von hier geht es aufwärts – nun ohne einen Weg: Zunächst über die steinigen, rollenden, aber noch von kleinen Teichen durchsetzten Víkurhólar und dann den Südhang der Víkurbyrða hinauf. Die spärliche Vegetation weicht an diesem Hang bald losem Geröll, das kaum Halt bietet und unter jedem Schritt davonschlittert; und selbst Mitte August sind einige Mulden im oberen Teil des Hangs noch mit Schnee gefüllt. Erst auf einer Höhe von 703 Metern ist der Pass erreicht, der sich über den Kamm der Víkurbyrða in das kleine Tal Vestaravik öffnet; der Schnee hat die grauen Steine und die beige, kahle Erde auch dieses Tals fest in seinem Griff. Das Vestaravik führt, an einer nahezu lotrechten Klippe vorbei, seinerseits hinab ins Hvanndalur. Bei jedem Höhen-meter, den man hinabsteigt, wird das Tal grüner. Ein armselig dahintröpfelndes Rinnsal in seiner Mitte, das im Vestaravik zunächst kaum mehr als einigen Moosen eine Heimat bietet, wird im Hvanndalur bald zu einem munter plätschernden kleinen Bergbach, der sich durch fette, leuchtend grüne Wiesen voller gelber Blüten schlängelt. Der Kontrast zwischen dem abweisenden Geröllhang und dem blühenden Tal ist so scharf, und der Übergang so abrupt, dass man fast den Eindruck hat, mit ein paar Schritten von einer Welt in eine ganz andere überzugehen und in ein kleines Para-dies einzutreten. Am Ende dieses Paradieses, wo das Hvanndalur sich zum Meer hin öffnet, liegt östlich des Bachs ein stark konturierter, grüner Streifen Land, den noch moderne Karten als den Ódáinsakur bezeichnen: das „Feld des Ungestorbenen“, das „Unsterblichkeitsfeld“. Nähert man sich dem seeseitigen Ende des Hvanndalur – und damit dem Ódáinsakur – vom Gebirge her, so hat man zunächst den Eindruck, dass das Tal vom Meer aus weit zugänglicher ist als über Land. Je näher man der Küste jedoch kommt, desto deutlicher offenbart sich dies als Trug: Wo sich das Tal zum Meer hin öffnet, dort fällt das Land mit einer hohen, senkrechten Stufe ins Wasser hinein ab; Schiffen bietet es weder Schutz noch Anlegeplatz, und ihrer Mannschaft kaum einen Aufstieg. Von der See wie vom Land sind das Hvanndalur und der Ódáinsakur gleichermaßen abgeschnitten.
Die Lokalisierung des „Unsterblichkeitsfelds“ im so unzugänglichen Hvanndalur am Héðinsfjord lässt sich in den Quellen direkt zumindest bis zu Thomas Bartholin dem Jüngeren im 17. Jahrhundert zurückverfolgen; indirekte Indizien lassen vermuten, dass sie sogar bis in die Landnahmezeit zurückgehen könnte. Falls der Ódáinsakr am Héðinsfjord jedoch bis ins Mittelalter zurückreicht, so ist dies nicht zuletzt in Hinblick darauf interessant, dass der Ódáinsakr und die eng damit verbundenen Glæsisvellir in der altwestnordischen Literatur mehrfach behandelt werden und Gegenstand einer elaborierten Mythologie sind – einer Mythologie, die bereits seit dem Ende des 19. Jahrhunderts immer wieder mit keltischen Vorstellungen in Verbindung gebracht worden ist.
Einer der ersten Autoren, der den Ódáinsakr explizit mit keltischen Vorstellungen in ein und denselben Kontext einordnete, war der Folklorist Alfred Nutt (1895): Seine Untersuchung nahm ihren Ausgang von der frühmittelalterlichen irischen Erzählung Immram Brain, „Brans Seereise“, und bezog neben vielfältigem irischen Material und einigen nordischen Sagatexten zum Ódáinsakr und den Glæsisvellir insbesondere griechisches und römisches, aber auch iranisches und indisches Vergleichsmaterial heran; dabei kam Nutt zu dem Schluss, dass diese verschiedenen Zeugnisse in einem indogermanischen Zusammenhang zu sehen seien.1 Nutts Essay, das mit einer Länge von etwa 250 Seiten monographische Ausmaße annahm, war dabei nicht nur die erste komparatistische Arbeit zum Ódáinsakr und den Glæsisvellir, die das keltische Material systematisch berücksichtigte, sondern ist bis heute auch die bei weitem ausführlichste: Nach Nutt wurde die Frage nach den kulturgeschichtlichen Verbindungslinien, die zwischen dem Ódáinsakr/Glæsisvellir-Komplex und Motiven der keltischen Religionsgeschichte zu bestehen scheinen, nur noch in Randbemerkungen und einzelnen Aufsätzen, aber nicht mehr in Buchlänge behandelt. Dieser Umstand ist umso schwerwiegender, als Nutts Arbeit heute praktisch nicht mehr rezipiert wird und grundsätzlich als veraltet gilt.2
Im späten 19. Jahrhundert befand sich die fundamentale Ähnlichkeit zwischen dem Ódáinsakr, den Glæsisvellir und keltischen Anderweltsgefilden grundsätzlich bereits im Gesichtskreis auch der nordistischen bzw. germanisch-altertumskundlichen Forschung, wurde dort jedoch noch nicht zum Gegenstand einer systematischen Untersuchung. Bereits im Jahr 1889 stellte Sophus Bugge in einer Randbemerkung den Ódáinsakr/Glæsisvellir-Komplex und irische Anderweltsgefilde nebeneinander, um für beide eine Abhängigkeit von klassischen griechisch-römischen Einflüssen zu postulieren; eine Begründung für dieses Postulat blieb er jedoch schuldig.3 In den folgenden Jahrzehnten wies ferner Paul Herrmann in seinem Saxo-Kommentar (1922) auf einige keltische – in diesem Fall irische und arthurische – Parallelen zum Ódáinsakr/Glæsisvellir-Komplex hin, beschränkte sich bei seiner Behandlung des Themas jedoch auf eine äußerst knappe Skizze, die wichtige Beobachtungen enthielt, auf die direkte Heranziehung von Originalstellen zumeist jedoch ebenso verzichtete wie auf eine klare und explizite Diskussion von Parallelen und Unterschieden zwischen den jeweiligen Materialien; damit blieb Herrmanns Ansatz letztlich weitgehend impressionistisch.4 Etwa gleichzeitig zog auch Rudolf Much (1924) in Hinblick auf den Ódáinsakr und die Glæsisvellir allerlei keltische – irische, arthurische und antike – Verbindungslinien, unterließ es jedoch, die genauen Implikationen explizit zu machen, die er in diesen Verbindungslinien sehen wollte.5 Mehrfach setzte sich Hilda Roderick Ellis – die spätere Hilda Roderick Ellis Davidson – mit dem Thema möglicher keltischer Affinitäten des Ódáinsakr auseinander. Bereits in ihrer Promotionsschrift wies sie noch während des Zweiten Weltkriegs – die Arbeit wurde 1943 veröffentlicht – darauf hin, dass der Ódáinsakr „recalls at once the Fortunate Isles of Greek mythology and the land across the sea in Irish traditions“.6 Ein halbes Jahrhundert später kehrte sie in einem kurzen Abschnitt einer weiteren Monographie (1988) zum Thema des Ódáinsakr und der Glæsisvellir zurück und schlug eine irische Herkunft der Glæsisvellir-Erzählungen vor;7 wenige Jahre darauf (1991) widmete sie dieser These einen eigenen Aufsatz.8 Trotz einer Kürze von nur 12 Seiten handelte es sich bei diesem Aufsatz in ihren Tagen um die ausführlichste Diskussion der Frage seit Alfred Nutt, und noch heute ist diese Arbeit eine der ausführlichsten Behandlungen des Themas. Nichtsdestoweniger leidet dieser Artikel daran, dass er dem gleichermaßen ungemein reichhaltigen und problematischen irischen Vergleichsmaterial gerade einmal drei Seiten zugesteht – ein Problem, das für die Mehrzahl der nordisch-keltischen komparatistischen Arbeiten symptomatisch ist, die mit allzu großer Regelmäßigkeit der Diskussion des Vergleichsmaterials längst nicht den Status zugestehen, der in Anbetracht von dessen eigenen literaturgeschichtlichen und sonstigen Problemen dringend nötig wäre.9
Aus den Jahrzehnten, die zwischen diesen verschiedenen Veröffentlichungen Ellis Davidsons lagen, ist an chronologisch erster Stelle ferner ein Aufsatz aus der Feder von Alexander Haggerty Krappe aus dem Jahr 1943 zu nennen, in dem dieser die nordischen Glæsisvellir insbesondere mit antiken Notizen zu nordwesteuropäischen Bernsteininseln und mit einer Reihe von arthurischen Zeugnissen verband.10 Im Jahr 1950 war die Idee einer keltischen Herkunft nordischer Vorstellungen von einer seligen Anderwelt auf einer Insel bereits so gut etabliert, dass Howard Rollin Patch sie in seinem großen Überblickswerk zu mittelalterlichen Anderweltsvorstellungen als den zeitgenössischen Forschungsstand referieren konnte – ohne sich freilich argumentativ damit auseinanderzusetzen.11 Etwas später, in der Mitte der 50er Jahre, kam die Keltologin und Nordistin Nora Kershaw Chadwick in zwei Beiträgen auf irische Parallelen zum nordischen Ódáinsakr zu sprechen. Während der eine dieser beiden Aufsätze das Thema jedoch nur ganz am Rande anschneidet, ohne es im Detail zu diskutieren,12 widmet der zweite Aufsatz den von Chadwick ausgemachten irisch-nordischen Parallelen immerhin einige wenige Seiten. Chadwick drückt am Ende ihrer Diskussion dieses Materials eine gewisse Skepsis darüber aus, ob sich die irisch-nordischen Ähnlichkeiten eindeutig entweder als Entlehnungen oder als unabhängige Entwicklungen bewerten lassen, macht zugleich jedoch auch deutlich, dass sie die Hypothese eines keltischen Einflusses auf die nordische Überlieferung alternativen Erklärungsansätzen vorzieht.13
Etwa gleichzeitig kam auch Jan de Vries in der zweiten Auflage seiner Altgermanischen Religionsgeschichte (1956/57) auf die nordischen Vorstellungen von den Glæsisvellir zu sprechen. De Vries verbindet die Glæsisvellir mit Vorstellungen von Inseln der Seligen, für die er wiederum von einem direkten keltischen Kultureinfluss ausgeht; im Rahmen seines breit angelegten Überblickswerks kann er diese Auffas-sung freilich nicht mehr als skizzenhaft umreißen.14 Gänzlich auf eine rein impressionistische Materialzusammenstellung beschränkte sich Karlis Straubergs (1957), der die Glæsisvellir und den Ódáinsakr ohne jede Diskussion mit arthurischen Zeugnissen, den griechischen Inseln der Seligen und antiken Notizen über nordwesteuropäische Bernsteininseln zusammenbrachte.15 Ein Jahrzehnt später (1966) befasste sich Jacqueline Simpson in einem Aufsatz mit dem Þorsteins þáttr bæjarmagns, einer der ausführlicheren Glæsisvellir-Sagas. Dabei weist sie – zumeist en passant – wiederholt auf keltische Parallelen zu Elementen der Glæsisvellir-Texte hin; obgleich sie auf eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem keltischen Vergleichsmaterial und auf eine systematische Diskussion der von ihr vorgeschlagenen Übereinstimmungen fast durchgehend verzichtet, macht sie doch deutlich, dass sie in diesen Übereinstimmungen im Allgemeinen das Ergebnis keltischer Einflüsse sieht.16
In der Mitte der 80er Jahre befasste sich Rosemary Power in einer Serie von wichtigen Aufsätzen mit möglichen keltischen Einflüssen in der nordischen Mythologie und Literatur.17 Im gegenwärtigen Kontext besonders hervorzuheben sind dabei vor allem ein grundlegender Aufsatz, in dem Power die direkte Rezeption des altfranzösischen arthurischen Gedichts Lai de Lanval im Helga þáttr Þórissonar nachwies,18 sowie ein Aufsatz zum Motiv der Anderweltsreise in den Vorzeitsagas; letzterer Beitrag konzentrierte sich zwar nicht direkt auf den Ódáinsakr oder die Glæsisvellir als solche, widmete sich jedoch einigen der Glæsisvellir-Texte und schlug für das (u. a. auch) dort zentrale Motiv der Anderweltsreise eine teilweise Herkunft aus Irland vor.19 Etwa zur selben Zeit (1985) betonte Séamus Mac Mathúna in der Einleitung seiner Edition der irischen Erzählung Immram Brain die Nähe der irischen Erzählungen über maritime Anderweltsreisen zur skandinavischen Glæsisvellir-Überlieferung.20 Wenige Jahre darauf wurden verschiedene Theorien eines keltischen Einflusses auf die Literatur zum Ódáinsakr und den Glæsisvellir in Gísli Sigurðssons Überblickswerk Gaelic Influence in Iceland (1988) aufgenommen und knapp zusammengefasst.21
Zu einem anderen Ergebnis als die Vertreter eines keltischen Einflusses auf die Glæsisvellir-Literatur gelangte der Indogermanist und Religionshistoriker Bruce Lincoln (1980): Lincoln befasste sich mit einigen der Paradiesvorstellungen, die in verschiedenen indogermanischen Literaturen anzutreffen sind, und folgerte u. a. unter Rückgriff auf irische, arthurische und nordische Texte, dass die Beschreibung des Ódáinsakr in der nordischen Sagaliteratur unmittelbar urindogermanische Traditionen fortsetzt.22
Mehrfach, wenn auch jeweils in ausgesprochener Kürze, setzte sich ferner Rudolf Simek mit dem Themenbereich des Ódáinsakr und der Glæsisvellir auseinander (1987; 1993; 1995).23 Sein Zugang unterschied sich radikal von den keltisch oder indogermanisch ausgerichteten komparatistischen Ansätzen der vorangegangenen Jahrzehnte: Simek wandte sich von der Frage nach dem heidnischen Element im Ódáinsakr/Glæsisvellir-Komplex weitgehend ab und betrachtete diesen Vorstellungskomplex primär als eine Schöpfung des christlichen Hoch- und Spätmittelalters, dessen eventuelle heidnische Anteile bestenfalls eine Zutat unter vielen in einem heidnisch-christlichen synkretistischen Ganzen darstellten. Freilic...