Klassiker der politischen Ideengeschichte
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Klassiker der politischen Ideengeschichte

Von Platon bis Marx

  1. 280 Seiten
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Klassiker der politischen Ideengeschichte

Von Platon bis Marx

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Über dieses Buch

Dieser Band stellt diejenigen Klassiker der politischen Ideengeschichte vor, die jeder kennen muss. Jeder der behandelten Autoren steht für ein Denkmodell und eine Epoche. Die Autoren werden mit ihren Hauptwerken vorgestellt, wobei die Neuerungen und Beiträge zur Weiterentwicklung der Theorien sowie deren Bedeutung für die Gegenwart im Vordergrund stehen. Ausgespart werden die politischen Theorien des alten Roms und des Mittelalters. Die klare und konsistente Überblicksdarstellung kann zum konzentrierten Lernen herangezogen werden. Zugleich soll sie zum aktiven Weiterlesen der lohnendsten Klassikertexte anregen. Neben notwendigen Aktualisierungen wurde die vorliegende Auflage um Kurzzusammenfassungen der einzelnen Kapitel, um Fragen zum Textverständnis sowie um eine umfassende Leseliste von bedeutsamen klassischen Texten erweitert.

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1Einleitung

Die politische Ideengeschichte gehört zu den begehrtesten und von Studierenden meistbesuchten Teilgebieten der Politikwissenschaft. Der Grund hierfür liegt darin, dass eine inzwischen 2500-jährige dichte und durchreflektierte Theorieentwicklung vorliegt, die sich durch eine Fülle von Rück- und Querbezügen immer weiter verwoben hat. Es ist zunächst einmal nicht unbedingt besonders interessant, was irgendeine Autorin vor einigen hundert oder tausend Jahren gesagt haben mag. Wenn aber ein durchdachter Kanon der Rückbezüglichkeit entstanden ist, dann kann gerade ein Beitrag von ganz weit weg und von ganz ferne her ein neues und überraschendes Licht auf Gegenwartsfragen lenken. Beispielsweise hat sich in der aktuellen Demokratisierungsforschung die Frage entsponnen, ob es nicht – nach dem Vorbild des klassischen Athen – sehr viel demokratischer wäre, Losverfahren statt Wahlen für politische Ämter durchzuführen, weil sich sonst vor allem Kandidaten mit besonders hervorstechenden Merkmalen oder mit sehr viel Geld im Hintergrund durchsetzen würden. Ein anderes Beispiel: Wenn ein neuer Gedanke erstmals ausführlich ausformuliert wird, wie das bei Thomas Hobbes und John Locke der Fall war, dann erscheint dieser Gedanke in einer interessanten Rohform, die die Idee auch in der heutigen Zeit – im Dickicht unendlich vieler begrifflicher Verfeinerungen und Differenzierungen – zunächst einmal glasklar durchschaubar macht.
Ebenso lassen sich die großen Trennlinien zwischen einem politisch-utopischen Denken nach den Modellen von Platon bis zu den frühneuzeitlichen Utopien von Morus, Campanella und Bacon auf der einen Seite und dem politischen Realismus eines Aristoteles oder Machiavelli auf der anderen Seite sehr viel präziser herausarbeiten als in den viel ausdifferenzierteren und vermittelnderen Positionen der Gegenwart. Die eisige Klarheit der Klassiker ist zugleich eine außerordentliche kulturelle und bildungsmäßige Bereicherung für unsere Gegenwart. Allerdings darf man nicht dabei stehenbleiben. Nach dem Durchgang durch die Klassiker kann und muss die Beschäftigung mit den politischen Theorien der Gegenwart stehen.1 Der Wissenschaftstheoretiker Robert K. Merton hat dafür die schöne Phrasierung gefunden, dass wir auf den Schultern von Riesen stehend heute weiter blicken können. Die darin eingravierte Bescheidenheitsfloskel mag etwas zu dick aufgetragen sein, denn heutige politische Theorien von Max Weber über Niklas Luhmann und Hannah Arendt bis hin zu Jürgen Habermas, Friedrich August von Hayek, Jean-François Lyotard und Michel Foucault sind eben auch forschungsnäher, forschungspraktischer und damit nicht nur normativ interessant, sondern auch für eine empirische Überprüfbarkeit operationalisierbarer. Dennoch gilt: All diese einander auch gegenseitig oftmals Rätsel aufgebenden aktuellen Theorieentwürfe sind leichter verständlich, sind klarer erfassbar, wenn man sich einen Überblick über die Grundpositionen der Klassiker verschafft hat.
Wie wird man zum Klassiker des politischen Denkens? Ganz offensichtlich durch einen nicht willkürlichen, sondern nach Mechanismen und impliziten Regeln ablaufenden Kanonisierungsprozess, in dem sich jene Texte herauskristallisieren, die jede Studentin und jeder Student der Politikwissenschaft und politischen Philosophie kennen sollte. Das strahlt dann auch aus auf die Philosophie und die geschichtswissenschaftlich betriebene Ideengeschichte, unsere freundlich gesonnenen Nachbarfächer.
Kanonisierungsprozesse sind nicht unproblematisch. Schon das Wort nimmt die Heiligsprechung verbindlicher Texte vor – es gibt aber nichts Unheiligeres und Religionsferneres als die kühle politische Theorie. Deshalb ist eine ständige Hinterfragung geboten, weil jeder Kanonisierungsprozess immer auch zur Erstarrung und Dogmatisierung führen kann, also zum leicht Lernbaren. Wenn es aber zu leicht gemacht wird, tritt an die Stelle des eigenständigen Denkens und Daraufkommens das dumpfe Nachbeten und Auswendiglernen. Ein Kanon ist dann gut, wenn man ihn jederzeit befragen und verändern kann, wenn er jederzeit bestritten werden kann, weil er dann unter argumentativen Rechtfertigungszwang gesetzt wird und dadurch intellektuell lebendig bleibt. Sobald der Streit um die Ränder und Grenzen des Kanons aufhört, droht schon Erstarrung. Dieser Frage sind Samuel Salzborn und ich in einer Konferenz und einem daraus entwickelten Band nachgegangen, der systematisch die Ränder des Kanons geprüft hat: Zu wenig Theoretikerinnen? Zu wenig Autorinnen aus anderen Kulturkreisen?2 Man könnte noch weitere Fragen stellen: Halten die heiliggesprochenen Autoren des christlichen Mittelalters wie Augustinus und Thomas von Aquin jenseits ihres Status als Heilige dem Vergleich mit Platon, Aristoteles, Hobbes, Kant oder Marx stand, wenn man allein auf die Qualität der Argumente und des Argumentationsniveaus schaut?
Die Entscheidung, welche Autoren in diesen Band aufzunehmen waren, ist allein aufgrund des intellektuellen Niveaus ihrer Theorien gefallen. Allerdings haben Samuel Salzborn und ich nachträglich eine empirische Überprüfung durchgeführt, ob die hier getroffenen redaktionellen Entscheidungen willkürlich und idiosynkratisch oder allgemein nachvollziehbar waren, indem wir nachgezählt haben, wie viel Raum diesen Autoren in anderen Darstellungen der politischen Theoriegeschichte eingeräumt wurde. Es zeigt sich, dass es sich bei der in diesem Band behandelten Liste von Theoretikern um all jene handelt, die wirklich die meistzitierten und meistbehandelten und damit eben auch die im Diskurs präsentesten sind, also die, die zu kennen es sich lohnt, wenn man sich selbst an den Diskussionen beteiligen oder die Texte mit besserem Verständnis und mehr Andockpunkten lesen will.3
Die politische Ideengeschichte ist jene Teildisziplin der Politikwissenschaft, welche die großen Fragen nach dem Sinn und den Grundlagen ständig präsent hält. Sie wird durchzogen vom Streit zwischen Normativismus und politischem Realismus, der auf seine Art auch wieder das, was er für real hält, zur Norm erhebt. Der Normativität ist also auf keinen Fall zu entkommen, so wenig wie der Theorie, denn jede empirische Forschung ergibt ja, wenn man der Wissenschaftstheorie und Forschungslogik von Karl Popper folgt, nur dann Sinn, wenn sie theoriegeleitet und theoriegetrieben durchgeführt wird.
Schon die Verschränkung dieser noch relativ einfachen Reflexion mit dem normativen Kerngehalt auch des scheinbaren Realismus und Empirismus zeigt, dass ohne ein geschultes Verhältnis zu theoretischen Grundelementen keine wirklich interessante Forschung durchgeführt werden kann. Theorie hat eine essenziell forschungsleitende und forschungspraktische Funktion. Vor allen Dingen aber hat die politische Theorie eine kerndemokratische Funktion, denn Demokratien beruhen darauf, dass jede Entscheidung zu begründen ist. Die Begründungspflicht der liberalen und rechtsstaatlichen Demokratien erzeugt einen hohen und dauerhaften Theoriebedarf.
Die politische Ideengeschichtsschreibung hat also die doppelte Aufgabe der historischen Gelehrsamkeit und der aktuellen Bezugnahme. Ihre archivalischen und konservierenden Funktionen sind allerdings eher diejenigen einer Hilfswissenschaft. Diese hat für die Bereitstellung verlässlicher Textausgaben zu sorgen, für solide Übersetzungen und für die Absicherung und den Vergleich der verschiedenen Begriffsbedeutungen, wie sie von Autor zu Autor, aber auch innerhalb des Werkes eines Autors wechseln können. Das alles ist zum Verständnis unerlässlich und erfordert hohen wissenschaftlichen Aufwand. Aber all das ist kein Selbstzweck. Viel wichtiger ist immer der Gegenwartsbezug, der Gegenwartsstandpunkt, wie die moderne Hermeneutik als Lehre der Auslegung von Texten das formuliert. Und hier zeigt sich, dass jede Gegenwart immer neue Zugriffe auf die Vergangenheitstexte entwickelt. Durch den Fortgang des Bewusstseins ergeben sich ständig neue Perspektivierungen auf die überlieferten Textkonvolute, teils werden auch bestimmte Texte eines Autors wichtiger als andere. Immanuel Kants lange als bloße utopische Fantasie unterschätzter Text Zum ewigen Frieden ist heute zu einem zentralen Text der empirisch forschenden demokratischen Friedenstheorie geworden, um hierfür nur ein Beispiel zu nennen.
Ein sehr nützliches Buch trägt den Titel Guide to the places in the world you must have seen before you die. Ganz in diesem Sinne versteht sich mein Buch als Reiseführer zu den Texten der politischen Ideengeschichte, die man gelesen haben muss, bevor man stirbt. Möglichst auch schon, bevor durch politische Fehlentscheidungen andere sterben. Es sind jene Texte, auf die sich alle oder zumindest die meisten beziehen, also die wirklichen Klassiker. Insgesamt handelt es sich um etwa zwanzig bis fünfundzwanzig Texte.4 Die Auswahl der in diesem Band vorgestellten Theorien und Theoretiker ist nicht schwer zu erklären. Es werden solche Theoretiker behandelt, die jeweils einen neuen Aspekt und einen neuen Gedanken in die politische Ideengeschichte eingebracht haben. Bei Platon finden wir schon die entscheidenden Motive: Der Theoretiker versucht, als Politikberater zu wirken, und scheitert dabei. Er verwirft von seinem ihm selbst als überlegen erscheinenden Standpunkt jedwede Machtpolitik als moralisch untragbar, was ihn weiterleitet zum Gesamtentwurf eines vollkommen neuen Staatsmodells, das von einer Philosophenherrschaft gelenkt und vom Gemeineigentum der herrschenden Klasse bestimmt wird. Am Anfang der politischen Philosophie schon steht der Bruch zwischen Macht und Denken, ein Thema, das bei den Intellektuellen der Aufklärung wiederkehrt und schließlich bei Marx in eine explosive Mischung von Machtdenken und philosophischer Verwirklichungskonzeption mündet, mit der nach der Meinung Hannah Arendts und anderer die Geschichte der politischen Philosophie an ihr Ende gekommen ist.
Doch schon ein Schüler Platons, Aristoteles, hatte die utopischen Elemente von dessen Denken kritisiert und den unvermeidlichen Pluralismus jeder politischen Theoriekonzeption vertreten. Er entwarf die empirische Politikwissenschaft, die auf der Sammlung und dem systematischen Vergleich unterschiedlicher Verfassungsformen beruhte. Er entwickelte eine Typologie der Herrschaftsformen, die im Kern bis heute Bestand hat. Die Rezeption seines Denkens bestimmte die politische Philosophie im Mittelalter, nicht nur in der westlichen, sondern auch in der islamischen Welt. Die bei näherer Betrachtung durchaus faszinierende Geschichte des mittelalterlichen Rationalismus wird hier übersprungen, weil in jener Phase die Produktivität eigener Gedanken hinter die Rezeptivität zurücktrat und keiner der mittelalterlichen Theoretiker die Ranghöhe eines Aristoteles, Hobbes, Rousseau, Kant oder Marx erreicht hat.
Der nächste Schritt ist die radikale Abkehr von jeglichem Moralismus in der Politik und zurück zum Machtdenken der Sophisten und Vorplatoniker, den Machiavelli vor allem in seinem Fürst (Il Principe) in bis heute paradigmatischer Form vollzogen hat. Böses und schlechtes Verhalten, um dessen Nutzen die Herrschenden selbstverständlich immer gewusst haben, wird hier in glänzender Rhetorik als politisch überlebensnotwendig, ja im Grunde als politisch gut, weil unvermeidlich, dargestellt. Mit Machiavelli ist die politische Philosophie erstmals nicht mehr einfach eine Theorie des Guten, sondern eine Theorie vom Nutzen des Bösen.
Das neoplatonische Gegenbild wird entworfen von den großen Utopien der Renaissance. Thomas Morus hat mit seiner Utopia die Gattung der politischen Utopie ins Leben gerufen und ein klassisches Muster geschaffen, an dem alle späteren Utopien sich orientiert haben: Zeitdiagnose, Zeitkritik, Analyse der gesellschaftlichen und ökonomischen Lebensumstände und der große Gegenentwurf, entweder an einem unbekannten Ort oder weit in der Zukunft angesiedelt, sind die typischen Merkmale der ebenso reichhaltigen wie vielfältigen utopischen Literatur. In diesem Abschnitt wird erstmals nicht ein Autor mit seinem Werk behandelt, sondern es werden im Wege eines ideengeschichtlichen Längsschnitts Anfang und Gegenwart der politischen Utopien miteinander verknüpft, denn die erschreckenden Negativ-Utopien des 20. Jahrhunderts, allen voran George Orwells 1984, vollenden nur die kollektivistische Tradition einer zugunsten der sozialen Stabilität gelenkten und gebremsten Ökonomie, wie sie für fast alle Utopien charakteristisch ist.
Mit Thomas Hobbes wird das politische Gemeinwesens erstmals auf die vertraglich geäußerte Zustimmung jedes Einzelnen gegründet. Alle Menschen (übrigens auch die Frauen) sind bei der Vertragschließung gleich und übertragen aus Angst und dem Bedürfnis nach Sicherheit alle Macht dem Leviathan, jener zentralen Gewalt, die entweder eine Person oder eine Körperschaft darstellt. Gegen Hobbes haben John Locke und Jean-Jacques Rousseau eingewendet, dass es nicht schlüssig sei, aus Angst vor Füchsen und Mardern nun einem Löwen die Macht zu übertragen, der einen jederzeit selbst auffressen kann. Locke führte deshalb die Idee der Gewaltenteilung in die politische Theorie ein und reaktivierte die mittelalterliche Konzeption des Widerstandsrechts unter modernen kontraktualistischen Vorzeichen. Der Gewaltenteilungsgedanke wurde dann von Montesquieu anhand seiner Interpretation der damaligen englischen Verfassungsstruktur in eine bis heute wirkmächtige und vielfältig rezipierte Form gebracht.
Adam Smith hat 1776 mit seiner Theorie des rationalen Eigeninteresses eine Revolution des ökonomischen Denkens ausgelöst. Da er systemisch dachte und das Funktionieren der Arbeitsteilung ohne zentrale Leitung zu erklären suchte, war das Böse für ihn nicht nur wie bei Machiavelli eine realistische Gegenwelt zur Predigt aller Moralisten, sondern er band es in einen Strukturzusammenhang ein, in dem ein so schlechter Zug wie die Geldgier die Motivation lieferte, für das Wohl der Kunden hart und unermüdlich zu arbeiten. In einer Ideengeschichte, die bis ins 19. Jahrhundert reicht, kann nicht die ganze Tragweite von Smiths Innovationen entwickelt werden, denn vieles davon hat sich erst in der Institutionenökonomik und der rationalen Entscheidungstheorie des 20. Jahrhunderts entfaltet. Aber bis hin zu Marx werde ich die Wirkungen seiner Theorie verfolgen, denn dort zeigt sich auch die Ambivalenz, zeigen sich die Gefahren und die Grenzen dieses Denkansatzes.
Die politische Theorie der Aufklärung wird von mir wieder in einem größeren Zusammenhang dargestellt, um deutlich zu machen, dass sich hier ein Modell theoretischer Gruppenbildung mit weitreichenden Folgen beobachten lässt. Bewusst habe ich die Darstellung der Gedanken von Jean-Jacques Rousseau in dieses Kapitel integriert, um klarzumachen, dass er keineswegs als Gegner, sondern als Protagonist der Aufklärung rezipiert wurde und dass die Differenzen zwischen Verstand und Gefühl, aber auch der Gegensatz zwischen Rousseaus Fortschrittskritik und dem Fortschrittsdenken Turgots und Condorcets in den inneren Kern der Aufklärung selbst gehören. Es geht mir in diesem Kapitel auch um eine Ehrenrettung der Aufklärung gegen eine oftmals flache und oberflächliche Kritik, die eine ihrer Hauptursachen darin hat, dass sich erstmals in dieser Zeit eine radikale Religionskritik unter den Intellektuellen ausbreitete, welche nicht nur die damaligen klerikalen Herrschaftsansprüche infrage stellte, sondern sogar noch heute Gefühle verletzen kann. Die Aufklärung gehört zu den am meisten kritisierten Epochen der politischen Ideengeschichte. Rousseaus Idee einer Zivilreligion, die für den politischen und sozialen Zusammenhalt einer Gesellschaft erforderlich sei, passt genau in diese aufregende und von Gegensätzen und Widersprüchen zerrissene Denkwelt.
Immanuel Kant verdient als Vollender der politischen Aufklärung einen eigenen Abschnitt. Seine viel belächelte Theorie des ewigen Friedens hatte im Abbé de Saint Pierre und in Rousseau ihre Vorläufer. Kant allerdings hat die präzisesten und folgenreichsten Formulierungen gefunden, aus denen sich die Gründung des Völkerbundes und der UNO ergab. Die neuere Politikwissenschaft hat sich empirisch wie theoretisch mit seiner Hypothese auseinandergesetzt, dass republikanische Verfassungen Länder daran hindern, Kriege zu beginnen, und dass der Handelsgeist als friedensstiftender Faktor wirkt. Beides schien durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs auf der ganzen Linie widerlegt. Heute aber zeigt sich, dass zwischen liberalen Demokratien tatsächlich ein Separatfriede existiert, und es ist auch klar geworden, dass Kant eher an einen Bund der freien Staaten, keineswegs an eine Organisation aller Länder unter Einschluss der Diktaturen und Tyranneien gedacht hatte.
Alexis de Tocqueville ist der analytische Beobachter der amerikanischen Demokratie, dessen durch Experteninterviews wohlinformierte Überlegungen in den USA bis heute vielfach als zutreffende Beschreibungen ihres politischen Systems und damit der ersten dauerhaft funktionierenden Massendemokratie der Welt überhaupt aufgefasst werden. Tocqueville als Vernunftrepublikaner warnte, ganz wie Kant, vor der Tyrannei von Mehrheiten in Systemen, die sich über die individuelle Freiheit und die Gewaltenteilung hinwegsetzen. Seine Analyse der Ursachen und der Vorgeschichte der französischen Revolution aus den Quellen und Akten führte die Geschichtsschreibung zu neuen Hypothesen: Nicht Repression, Armut und Unterdrückung hatten zur Revolution geführt, sondern vielmehr die Lockerung der Repression und der Aufstieg vieler unterer Volksschichten. Bis in das 20. Jahrhundert sind Tocquevilles Analysen Anlass für Historikerkontroversen gewesen. Noch François Furet griff auf sie zurück, als er die gängige heroisierende französische Revolutionsgeschichtsschreibung aus den Angeln zu heben versuchte.
Mit Marx schließlich ist die klassische politische Ideengeschichte an ihr Ende gelangt. Bei ihm liegt der radikale Anspruch vor, die politische Philosophie nicht mehr weiterzuspinnen, sondern direkt in die Praxis umzusetzen. Vielfach werden erst seine Nachfolger wie Lenin und Stalin für die fürchterlichen Folgen dieses Projekts verantwortlich gemacht. Ich werde jedoch zu zeigen versuchen, wo die Probleme der Marx’schen Lehre selbst liegen und weshalb ihr Anspruch, der Smith’schen Anarchie des Marktes geordnete Planung und Lenkung entgegenzusetzen, viele der gewalttätigen und terroristischen Konsequenzen impliziert, ob er dies nun gewollt hat oder nicht. Marx steht in der Denktradition Platons und der Renaissance-Utopien. Sein antiutopisches Bilderverbot, sich die sozialistische Zukunft auszumalen, hat verhindert, dass die repressiven und totalitären Elemente der Utopietradition als rechtzeitige Warnung hätten verstanden werden können. Da Marx auch nach dem ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. 1 Einleitung
  6. 2 Platon: Zwischen Machtkritik und Politikberatung
  7. 3 Aristoteles: Die Entstehung der politischen Wissenschaft
  8. 4 Niccolò Machiavelli: Machtpolitischer Realismus
  9. 5 Politische Utopien und Anti-Utopien der Neuzeit
  10. 6 Thomas Hobbes: Erfinder des Leviathan
  11. 7 John Locke: Eigentum, Vertrag und Widerstandsrecht
  12. 8 Montesquieu: Gewaltenteilung und politische Kultur
  13. 9 Adam Smith: Die Erfindung der politischen Ökonomie
  14. 10 Jean-Jacques Rousseau: Das politische Denken der Aufklärung
  15. 11 Immanuel Kant: Friedenstheorie und Vertragskonzeption
  16. 12 Alexis de Tocqueville: Das Zeitalter der Gleichheit
  17. 13 Marx und Engels: Aufhebung der Politik durch Ökonomie
  18. 14 Die Furcht vor der Anarchie des Marktes
  19. 15 Hermeneutik als ideengeschichtliche Methode
  20. Weiterführende Leseliste zur politischen Ideengeschichte
  21. Literaturverzeichnis
  22. Zeittafel
  23. Ausgewähltes Personen- und Sachverzeichnis
  24. Fußnoten