1.1.1.1Wertegemeinschaft und Sanktionen
Welche Werte bilden die Basis für die EU?
Kann die Einhaltung dieser Werte durchgesetzt werden?
Die EU ist von einer Vielfalt an Kulturen, Lebensstilen und Präferenzen geprägt. Dennoch hat sie sich auf ein gemeinsames Fundament von Werten verpflichtet, die unabhängig von nationalen Unterschieden für alle Mitglieder bindend sein sollen. Damit beansprucht die EU mehr zu sein als eine wirtschaftliche Zweckgemeinschaft.
Einheit in der Vielfalt
Mit der Verpflichtung zur Koordination auf europäischer Ebene oder gar bei der Übertragung von Rechten wird in der Öffentlichkeit immer wieder die Befürchtung von „Gleichmacherei“ verbunden. Regionale, nationale, linguistische oder kulturelle Eigenheiten könnten durch die Integration in einem „europäischen Einheitsbrei“ untergehen. Entgegen dieser Angst hat sich die EU auf das Motto „In Vielfalt geeint“ verpflichtet, das sich auch in den Verträgen wiederfindet:
–Die Union „… wahrt den Reichtum ihrer kulturellen und sprachlichen Vielfalt und sorgt für den Schutz und die Entwicklung des kulturellen Erbes Europas.“ (Art. 3(3) EU-V)
–Die Union beachtet die Vielfalt ihrer Kulturen und Sprachen. (Art 165, 167 AEU-V)
–„Die Union achtet die Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen.“ (Art. 22, Charta der Grundrechte der EU)
Dieses Bekenntnis zur Vielfalt kann jedoch nicht verdecken, dass es zwischen den Mitgliedsstaaten gewachsene Unterschiede gibt, die zu Konflikten führen können: Nicht jede Vielfalt kann bestehen bleiben. Ein Beispiel dafür sind die Auffassungen über die Rolle des Staates in Wirtschaft und Gesellschaft. Wo ein Land eher zu einer liberalen Sicht neigt und dem Markt als Regelungsmechanismus vertraut, wollen andere eher einen fürsorglichen und intervenierenden Staat, da sie den Marktkräften misstrauen. Bei der Vereinbarung gemeinsamer Standards in der Sozialpolitik oder bei der Privatisierung von bisher staatlich erbrachten Dienstleistungen (Kapitel 2.3.5) wurden diese Konflikte deutlich. Auch die Rolle von Religion und Kirche wird unterschiedlich gesehen. Während in einem Land die Schulen noch von der katholischen Kirche beeinflusst werden und andere die christliche Religion in einer europäischen Verfassung festgeschrieben sehen wollten (Spanien, Polen), ist in anderen Ländern eine lange Tradition des Säkularismus, d. h. der strikten Trennung von Kirche und Staat, anzutreffen (Frankreich).
Grundlegende Werte
Die EU versteht sich als Wertegemeinschaft, die sich auf zwei Pfeiler eines gemeinsamen europäischen Erbes (Artikel 2 EU-V, Präambel) stützt:
1.Unverletzliche und unveräußerliche Rechte des Menschen
In der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (2007) ist ein umfangreicher Katalog von Rechten festgehalten: „Sie stellt die Person in den Mittelpunkt ihres Handelns, indem sie die Unionsbürgerschaft und einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts begründet.“ (Charta der Grundrechte, Präambel). Weiterhin werden die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, die Sozialchartas sowie die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in das europäische Vertragswerk aufgenommen.
2.Universelle Werte
„Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedsstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“ (Artikel 2 EU-V)
Seit dem Gipfel von Kopenhagen im Jahr 1993 ist die Einhaltung dieser Normen eine der Voraussetzungen dafür, dass ein Land in die EU aufgenommen werden kann (Kopenhagen-Kriterien, Kapitel 4.2.2).
Werte sind kaum durchsetzbar
Was aber kann die EU tun, wenn ein Mitgliedsstaat gegen diese grundlegenden Normen verstößt? Für einen solchen Fall waren keine Eingriffs- und Sanktionsmöglichkeiten vorgesehen, bis im Vertrag von Lissabon (2009) dazu ein Verfahren definiert wurde. Im Artikel 7 EU-V wird festgelegt, dass ein stufenweiser Prozess gestartet werden kann, der bis zu einer Bestrafung des entsprechenden Landes führen kann (Poptcheva, E.-M., 2013, 2015, 2016):
1.Präventiv
Ein Drittel der Mitgliedsstaaten oder das Europäische Parlament oder die Europäische Kommission stellen die Gefahr einer Verletzung der Werte nach Artikel 2 fest. Der Rat hört den beschuldigten Staat und stellt – sofern 80% seiner Mitglieder zustimmen – fest, dass eine Verletzung der Normen droht. Daran können sich Empfehlungen zur Behebung des Problems anschließen.
Im Jahr 2014 hat die Kommission ein zusätzliches Verfahren definiert (COM/2014/0158 final), in dem sie in einen „Dialog“ mit dem beschuldigten Staat tritt, den Sachverstand anderer Institutionen zur Konkretisierung der Anschuldigungen heranzieht, diese veröffentlicht und so den öffentlichen Druck auf den Staat schrittweise erhöht. Da die Kommission aber keine Verurteilung oder gar Sanktionen aussprechen kann, ist die Wirksamkeit des Verfahrens begrenzt.
2.Sanktion
Ein Drittel der Mitgliedsstaaten oder das Europäische Parlament oder die Europäische Kommission fordern den Rat auf, eine tatsächliche, schwerwiegende Verletzung der Werte nach Artikel 2 festzustellen. Nach einer Anhörung des beschuldigten Staates kann der Rat Empfehlungen an den Staat richten oder sofort das Vorliegen einer solchen Verletzung feststellen. Der Rat muss hier einstimmig entscheiden, d. h. jedes Mitgliedsland hat eine Veto-Position. Der beschuldigte Mitgliedsstaat nimmt an der Abstimmung nicht teil.
Sofern einstimmig eine Verletzung der Werte festgestellt wurde, kann der Rat mit qualifizierter Mehrheit beschließen, bestimmte Rechte des Mitgliedsstaates auszusetzen, einschließlich der Stimmrechte des Vertreters der Regierung dieses Mitgliedstaats im Rat. Die Vertreter des beschuldigten Landes sind nicht stimmberechtigt. Für eine qualifizierte Mehrheit im Rat sind hier 55% der Mitgliedsstaaten erforderlich, in denen mindestens 65% der EU-Bevölkerung leben müssen (Artikel 354 AEU-V).
Da eine Bestrafung nach Artikel 7 nur einstimmig erfolgen kann, ist es eher unwahrscheinlich, dass sie je ausgesprochen wird. Als gegen Polen um die Jahreswende 2015/16 ein Verfahren der Kommission eröffnet wurde, hat der ebenfalls unter Beobachtung stehende Regierungschef von Ungarn in der Presse mitgeteilt, dass er Polen durch die Verweigerung seiner Stimme schützen wird.
Da die Einhaltung dieser grundlegenden Werte nur bei Kandidaten vor der Mitgliedschaft geprüft werden kann, aber bei Mitgliedern der EU kaum noch sanktioniert werden kann, erwägt das Europäische Parlament zumindest einen Überwachungsprozess einzuführen, um Verletzungen dieser Werte zu dokumentieren (Bárd, P., Carrera, S. et al., 2016).
Nicht justiziabel ist z.B. die Verletzung der versprochenen Solidarität, wie sie im Rahmen der Flüchtlingskrise beklagt wird. Was konkret unter Solidarität in diesem Fall zu verstehen ist, unterliegt einer politischen Definition. Dieses Problem betrifft das Verhältnis vieler Mitgliedsstaaten untereinander und es handelt sich nicht um das Verhalten eines einzelnen Staates, das an einer gemeinsamen Norm gemessen werden könnte. Lösungen können also nur politisch ausgehandelt werden.
1.1.1.2Ziele und Instrumente
Sind die Ziele der EU klar und ohne Zielkonflikte erreichbar?
Welche möglichen Ziele hat die EU ausgeblendet?
Hat die EU die Kompetenzen und Ressourcen zur Erreichung der Ziele?
Ihre Mitglieder haben sich im Verlauf der Integration Europas schrittweise auf gemeinsame Ziele (Artikel 3 EU-V) geeinigt, die unter Beachtung des Subsidiaritätsprinzips und der Zuständigkeiten der EU erreicht werden sollen. Durch die Formulierung von Zielen werden bei den Bürgern der Mitgliedsstaaten Erwartungen an die EU geweckt, die möglicherweise enttäuscht werden. Es stellt sich damit auch die Frage nach dem Grad der Zielerreichung, den die EU jeweils vorweisen kann. Im Folgenden werden die Ziele mit wirtschaftlichem Bezug hervorgehoben.
Als oberstes wirtschaftliches Ziel will die EU „das Wohlergehen ihrer Völker“ (Artikel 3,1 EU-V) fördern. Laut Vertrag errichtet sie dazu einen Binnenmarkt, in dem zahlreiche Unterziele gleichzeitig verwirklicht werden sollen: Ausgewogenes Wirtschaftswachstum, Preisniveaustabilität, soziale Marktwirtschaft, Vollbeschäftigung, Umweltschutz, regionaler Ausgleich, Solidarität zwischen den Mitgliedsstaaten und sozialer und technischer Fortschritt. Eine gemeinsame Währung soll ebenfalls eingeführt werden.
Mit diesen Zielsetzungen wird implizit angenommen, dass die Verschärfung des Wettbewerbs durch die Einführung eines Binnenmarktes und des Euro geeignete Mittel seien, Wachstum und Beschäftigung zu fördern. Darin findet das wirtschaftsliberale Element der europäischen Grundphilosophie seinen Ausdruck. Darüber hinaus wird davon ausgegangen, dass e...