1 Atome in Bewegung
1.1 Einleitung
Dieser Zweijahreskurs über Physik wird unter der Annahme angeboten, dass der Leser Physiker werden will. Das ist natürlich nicht notwendigerweise der Fall, aber es ist eine Annahme, von der jeder Professor in seinem Fachgebiet ausgeht. Wenn Sie Physiker werden wollen, dann haben Sie viel zu lernen: über zweihundert Jahre lang erworbenes Wissen in dem sich am schnellsten entwickelnden Wissensgebiet, das es gibt. Es ist derart viel Wissen, dass Sie denken, nicht alles in vier Jahren lernen zu können; und Sie können es gewiss nicht. Sie werden auch fortgeschrittene Studien durchführen müssen.
Erstaunlicherweise ist es trotz der so umfangreichen Erkenntnisse, die in der Physik errungen wurden, möglich, die außerordentlich große Anzahl von Resultaten stark zu kondensieren, d. h. Gesetze zu finden, die all unser Wissen zusammenfassen. Trotzdem sind die Gesetze so schwer zu verstehen, dass es unfair wäre, Sie auf den Weg zur Erkundung dieses gewaltigen Gebietes zu senden ohne einen Plan oder einen Umriss der Beziehung dieses Wissenschaftsgebietes zu den anderen. Im Anschluss an diese einleitenden Bemerkungen werden daher in den ersten drei Kapiteln die Beziehung der Physik zu den anderen Wissenschaften, die Beziehungen der Wissenschaften untereinander und die Bedeutung der Wissenschaft umrissen. Das wird uns helfen, ein „Gefühl“ für unser Gebiet zu entwickeln.
Sie mögen fragen, warum wir nicht Physik unterrichten können, indem wir auf Seite eins die Grundgesetze aufschreiben und danach zeigen, wie sie unter allen möglichen Umständen angewendet werden, wie wir es ja im Falle der euklidischen Geometrie tun, wo wir alle Axiome am Anfang bringen und dann alle möglichen Schlüsse ziehen. (Sie sind also nicht damit zufrieden, Physik in vier Jahren zu lernen; Sie wollen dieses Gebiet in vier Minuten erlernen?) Wir können aber aus zwei Gründen nicht so vorgehen. Erstens kennen wir noch gar nicht alle Grundgesetze: Die Grenze unserer Unkenntnis verschiebt sich ununterbrochen. Zweitens erfordert die exakte Formulierung der Gesetze der Physik einige sehr ungewöhnliche Konzepte, für deren Beschreibung höhere Mathematik erforderlich ist. Darum ist ein beachtliches vorbereitendes Training nötig, um wenigstens zu verstehen, was die verwendeten Wörter bedeuten. Also ist es nicht möglich, jenen deduktiven Weg zu beschreiten. Wir müssen Schritt für Schritt in die Physik eindringen.
Jedes Stück oder jeder Teil der gesamten Natur ist immer nur eine Approximation an die gesamte Wahrheit oder doch zumindest an die gesamte Wahrheit, wie wir sie kennen. Tatsächlich ist alles, was wir wissen, eine Approximation, weil wir wissen, dass uns noch nicht alle Gesetze bekannt sind. Darum müssen auch viele Dinge gelernt werden, die später wieder „umgelernt“ oder korrigiert werden müssen.
Das Prinzip der Wissenschaft, fast ihre Definition, lautet wie folgt: Das Experiment ist der Prüfstein allen Wissens. Das Experiment ist der einzige Richter über wissenschaftliche „Wahrheit“. Aber was ist die Quelle unseres Wissens? Woher stammen diese Gesetze, die geprüft werden sollen? Das Experiment selber hilft uns, die Gesetze aufzustellen, in dem Sinn, dass es uns Hinweise gibt. Jedoch benötigen wir auch Phantasie, um aus den Hinweisen die großen Verallgemeinerungen zu finden: Phantasie, um die wunderbaren, einfachen und sonderbaren Gesetzmäßigkeiten hinter den Dingen zu erraten und danach durch das Experiment zu prüfen, ob wir richtig geraten haben. Dieser Prozess der Phantasie ist so kompliziert, dass eine Arbeitsteilung in der Physik notwendig wurde: Da gibt es die theoretischen Physiker, die Vorstellungen entwickeln, Schlüsse ziehen und – ohne zu experimentieren – neue Gesetze erraten; weiterhin gibt es die Experimental physiker, die experimentieren, Vorstellungen entwickeln, schlussfolgern und raten.
Wir haben gesagt, dass die Naturgesetze nur angenähert korrekt sind: dass wir zuerst die „falschen“ und dann erst die „richtigen“ finden. Wie kann aber ein Experiment „falsch“ sein? Zunächst einmal auf ganz triviale Weise: durch unbemerkte Fehler in den Messapparaturen. Aber diese Dinge können leicht behoben und durch wiederholte Kontrollen eliminiert werden. Wenn wir von solchen primitiven Fehlern absehen, wie können dann noch immer die Resultate eines Experimentes falsch sein? Nur indem diese ungenau sind. Zum Beispiel scheint sich die Masse eines Objektes nie zu ändern: Ein rotierender Kreisel hat das gleiche Gewicht wie ein ruhender Kreisel. Also wurde ein „Gesetz“ erfunden: Die Masse ist konstant, unabhängig von der Geschwindigkeit. Von diesem „Gesetz“ wissen wir jetzt, dass es nicht zutrifft. Die Masse nimmt mit zunehmender Geschwindigkeit zu, jedoch entstehen merkliche Massenzunahmen erst bei Geschwindigkeiten nahe der Lichtgeschwindigkeit. Das richtige Gesetz lautet also: Wenn ein Objekt mit einer Geschwindigkeit geringer als einhundertsechzig Kilometer pro Sekunde bewegt wird, ist seine Masse bis auf ein Millionstel konstant. In einer solchen approximierten Form ist dies ein gültiges Gesetz. Also wird mancher in der Praxis denken, dass die neue Form des Gesetzes keine wesentliche Änderung darstellt. Darauf kann man sowohl mit ja als auch mit nein antworten. Bei den alltäglichen Geschwindigkeiten können wir das geänderte Gesetz vergessen und das einfache Gesetz von der konstanten Masse als eine gute Approximation verwenden. Aber bei großen Geschwindigkeiten ist es falsch, und je größer die Geschwindigkeit, desto ungenauer wird es.
Schließlich, und das ist sehr interessant, liegen wir philosophisch vollkommen falsch mit der angenäherten Form dieses Gesetzes. Unser gesamtes Weltbild muss geändert werden, selbst wenn sich die Masse nur geringfügig ändert! Es ist eine eigenartige Sache mit der Philosophie und den Konzepten hinter den Gesetzen. Selbst ein äußerst geringfügiger Effekt verlangt mitunter grundsätzliche Änderungen in unseren Vorstellungen.
Was sollen wir nun zuerst lehren? Sollen wir das korrekte, aber fremdartige Gesetz mit seinen seltsamen und schwierig zu begreifenden Konzepten lehren (wie wir es z. B. in der Relativitätstheorie, im vierdimensionalen Raum-Zeit-System usw. vorliegen haben)? Oder sollen wir zuerst das einfache Gesetz von der „konstanten Masse“ besprechen, das nur leicht verständliche Vorstellungen beinhaltet und eine Näherung darstellt? Der erste Weg ist sicher aufregender und wunderbarer und macht mehr Spaß. Jedoch ist der zweite Weg leichter zu beschreiten, und er ist ein erster Schritt zu einem echten Verständnis der umfassenderen Vorstellung. Dieser Konflikt taucht beim Unterrichten der Physik immer wieder auf. Zu verschiedenen Zeiten werden wir unterschiedlich vorgehen, aber es ist in jedem Abschnitt wert zu lernen, was heute bekannt ist, wie exakt es ist, wie es sich in alles andere einfügt und wie es geändert werden muss, wenn wir mehr wissen.
Fahren wir nun fort mit unserem Umriss oder allgemeinen Plan unseres heutigen Verständnisses der Wissenschaft (insbesondere der Physik, aber auch anderer Wissenschaften). Das wird uns bei der späteren Behandlung spezieller Probleme Vorstellungen über den Hintergrund vermitteln und zeigen, warum diese interessant sind und wie sie in das Gesamtbild passen. Was also ist unser Gesamtbild von der Welt?
1.2 Materie ist aus Atomen aufgebaut
Wenn in einer Sintflut alle wissenschaftlichen Kenntnisse vernichtet würden und nur ein Satz an die nächste Generation von Lebewesen weitergereicht werden könnte, welche Aussage würde die meisten Informationen in den wenigsten Wörtern enthalten? Ich bin davon überzeugt, dass dies die Atomhypothese (oder welchen Namen sie auch immer hat) wäre, die besagt, dass alle Objekte aus Atomen aufgebaut sind – aus kleinen Teilchen, die in permanenter Bewegung sind, einander anziehen, wenn sie etwas voneinander entfernt sind, sich aber gegenseitig abstoßen, wenn sie aneinandergepresst werden. In diesem einen Satz werden Sie mit ein wenig Phantasie und Nachdenken eine enorme Menge an Informationen über die Welt entdecken.
Zur Illustration der Macht der Atomidee betrachten wir einen Wassertropfen von sechs Millimeter Durchmesser. Wenn wir diesen Tropfen aus der Nähe betrachten, sehen wir nichts als Wasser – glattes, kontinuierliches Wasser. Selbst mit der etwa zweitausendfachen Vergrößerung, die wir mit dem besten Lichtmikroskop erzielen können, wird der Tropfen von nun ungefähr zwölf Metern Durchmesser aus der Nähe betrachtet noch immer relativ glattes Wasser sein, jedoch schwimmen hier und da Dinge herum, die in etwa die Gestalt eines Rugbyballs haben. Sehr interessant. Es sind Pantoffeltierchen. Vielleicht ist man an diesem Punkt so fasziniert von ihnen mit ihren schwingenden Zilien und ihren sich verdrehenden Körpern, dass man mit noch stärkerer Vergrößerung in diese Körper hineinschauen möchte. Aber das ist natürlich ein Thema der Biologie und interessiert hier zunächst nicht. Zur genaueren Betrachtung wollen wir das Wasser noch einmal zweitausendfach vergrößern. Nun hat der Wassertropfen eine Ausdehnung von etwa vierundzwanzig Kilometern, und wenn wir sehr genau hinschauen, sehen wir ein wimmelndes Etwas, das keine kontinuierliche Erscheinung mehr besitzt. Es sieht aus wie eine Zuschauermenge bei einem Fußballspiel, die aus einiger Entfernung betrachtet wird. Um dieses wimmelnde Etwas besser untersuchen zu können, vergrößern wir noch einmal zweihundertfünfzigfach und sehen danach etwa die in Abbildung 1.1 abgebildete Struktur. Dies ist ein Bild von Wasser, eine Milliarde Mal vergrößert, jedoch in verschiedener Hinsicht idealisiert.
Abb. 1.1: Wasser, 109-mal vergrößert.
Zunächst einmal sind alle Teilchen vereinfacht mit scharfen Konturen gezeichnet, und das ist schon ungenau. Dann ist aus Gründen der einfacheren Darstellung eine zweidimensionale Anordnung gezeichnet worden; die Teilchen bewegen sich jedoch in drei Dimensionen. Die zwei verschiedenen Flecke oder Kreise stellen die Atome des Sauerstoffs (schwarz) und des Wasserstoffs (weiß) dar. Jedes Sauerstoffatom ist an zwei Wasserstoffatome gebunden. (Jede kleine Gruppe, bestehend aus einem Sauerstoff- und zwei Wasserstoffatomen, wird ein Molekül genannt.) Weiterhin ist das Bild insofern idealisiert, als die echten Teilchen kontinuierlich umeinander hopsen und springen, sich drehen und verdrillen. Man muss sich das Ganze eher als ein dynamisches denn als ein statisches Bild vorstellen. Etwas anderes, das in einer Zeichnung nicht dargestellt werden kann, ist, dass die Teilchen aneinanderhängen, sie ziehen einander an: das eine wird von dem anderen angezogen. Die gesamte Gruppe ist sozusagen „zusammengeklebt“. Andererseits können die Teilchen nicht ineinander gedrückt werden. Wenn man sie zu stark gegeneinander presst, dann stoßen sie einander ab.
Die Atome haben einen Radius von 1 oder 2×10−8 cm. Nun wird 10−8 cm ein Ångström genannt (dies ist lediglich ein anderer Name dafür), somit sagen wir, dass die Atome einen Radius von 1 bis 2 Ångström (Å) haben. Eine Methode, sich ihre Größe zu veranschaulichen, ist folgende: Wenn ein Apfel auf den Durchmesser der Erde vergrößert wird, dann haben die Atome des Apfels etwa die natürliche Größe eines Apfels.
Stellen wir uns also diesen großen Wassertropfen vor mit all den aneinandergeketteten, zitternden Teilchen, die sich miteinander bewegen. Das Wasser behält sein Volumen bei; es fällt wegen der Anziehung zwischen den Molekülen nicht auseinander. Wenn sich der Tropfen auf einer schiefen Ebene befindet, wo er sich von einem Ort zum anderen bewegen kann, wird das Wasser zwar fließen, aber es wird nicht einfach verschwinden – Dinge fliegen nicht einfach auseinander – wegen der molekularen Anziehung. Nun ist die zitternde Bewegung das, was wir als Wärme bezeichnen: Wenn wir die Temperatur erhöhen, verstärken wir die Bewegung. Wird das Wasser erhitzt, so wird das Zittern verstärkt und das Volumen zwischen den Atomen vergrößert. Bei weiterer Erwärmung wird ein Punkt erreicht, an dem die Anziehung zwischen den Molekülen nicht mehr zum Zusammenhalt ausreicht, dann fliegen sie auseinander und werden voneinander getrennt. Das ist natürlich der Prozess der Wasserdampfbildung; bei Temperaturerhöhung fliegen die Teilchen aufgrund der heftigeren Bewegung auseinander.
Abbildung 1.2 zeigt eine schematische Darstellung von Wasserdampf. Dieses Bild ist in einer Beziehung ungenau: Bei normalem atmosphärischem Druck befinden sich vielleicht nur ganz wenige Moleküle in einem großen Raum, und ganz gewiss werden keine drei Moleküle in einem Raum der Bildgröße vorhanden sein. Die meisten Raumgebiete dieser Größe werden gar keine enthalten – aber wir haben zufällig zweieinhalb oder drei in unserem Bild (nur damit es nicht vollkommen leer ist). Im Dampf erkennen wir die charakteristischen Moleküle viel besser als im Wasser. Zur Vereinfachung haben wir die Moleküle so gezeichnet, dass die Wasserstoffatome einen 120◦-Winkel bilden. Tatsächlich beträgt dieser Winkel 105◦3′, und der Abstand zwischen den Zentren des Wasserstoff- und des Sauerstoffatoms beträgt 0,957 Å. Wir kennen dieses Molekül also recht genau.
Wir wollen nun einige Eigenschaften von Wasserdampf und anderen Gasen kennen lernen. Die voneinander getrennten Moleküle stoßen gegen die Wände. Stellen Sie sich ein Zimmer vor, in dem etwa hundert Tennisbälle in ständiger Bewegung herumspringen. Wenn sie die Wand bombardieren, wird dadurch die Wand etwas weggeschoben. (Natürlich würden wir die Wand wieder zurückschieben müssen.) Das bedeutet, dass das Gas eine schwankende, ungleichmäßige Kraft ausübt, die jedoch durch unsere groben Sinne (wir selbst sind ja nicht milliardenfach vergrößert) nur als ein mittlerer Druck empfunden wird. Um ein Gas in einem Behälter einzuschließen, müssen wir einen Druck ausüben. Abbildung 1.3 zeigt ein in allen Lehrbüchern dargestelltes Gefäß für die Gasaufbewahrung: einen Zylinder mit einem Kolben darin. Die spezielle Form der Wassermoleküle spielt nun keine Rolle mehr, und somit zeichnen wir sie einfach als Tennisbälle oder als kleine Punkte. Diese Objekte sind in permanenter Bewegung in...