Tote kehren zurück
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Tote kehren zurück

Empirische Studien zur Strafjustiz in China

  1. 199 Seiten
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Tote kehren zurück

Empirische Studien zur Strafjustiz in China

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Inhaltsverzeichnis
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Über dieses Buch

Vermeintlich Ermordete tauchen Jahre nach dem Strafprozess lebendig wieder auf – augenfälliger kann sich ein Schuldspruch wegen Mordes nicht als Fehlurteil herausstellen. Der Autor untersucht den Zustand der Strafjustiz in China sowohl anhand konkreter Einzelfälle als auch eigener empirischer Untersuchungen. Zehn Fehlerbereiche der Strafjustiz in China werden herausgearbeitet und schließlich der Blick auf aktuelle Reformbemühungen gerichtet.

Prof. Dr. Jiahong He, Professor für Beweisrecht an der Renmin Law School, Peking, "der bekannteste chinesische Strafrechtsprofessor für den Bereich des Beweisrechts" (Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Ulrich Sieber, MPI für Strafrecht, Freiburg)

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Information

Jahr
2016
ISBN
9783110514834
Auflage
1
Thema
Jura

Kapitel 1

Schlampig verhängte Todesstrafe – der Justizskandal Teng Xingshan

I Die mysteriöse junge Wanderarbeiterin

In der Region Huaihua im Westen der Provinz Hunan, zwischen dem Xuefeng- und Wuling-Gebirge im Nordosten der Yunnan-Guizhou-Hochebene, liegt der Kreis Mayang. Diese Region ist von Bergketten gesäumt, dicht bewaldet, von Flüssen durchzogen und reich an Wasser. So heißt es seit eh und je über sie: „Die Kiefern ragen in den Himmel und finden kein Ende, die Berge sind hoch, die Wasser klar und fließen ewig.“ In Mayang gibt es über 200 Flüsse und Bäche, die alle von den Bergen harab im Jinjiang-Fluss zusammenströmen, den die Einheimischen „Mayang-Fluss“ nennen. Mayang ist nach Norden, Süden und Westen von Bergketten umgeben, sein zentraler Teil ist eine Ebene, die topografisch nach Osten hin abflacht. Der Hauptarm des Jinjiang erreicht Mayang von Südwesten, durchquert die Ebene von Süd nach Nord, dreht am Nordende der Ebene wieder nach Süden und verlässt den Kreis in einer Kurve gen Osten. In der Flusskurve ist der Wasserlauf breit, und es sind einige Sandbänke entstanden, eine davon ist die Malan-Sandbank. Zur Regenzeit sind sie zu allen Seiten von Wasser umgeben und werden zu Inseln, aber zur Trockenzeit gibt es unbefestigte Wege, die die Verbindung zum Flussufer herstellen. Auf den Sandbänken wachsen viele Pflanzenarten und siedeln verschiedenste Vögel – wie viele Geheimnisse birgt diese Wildnis!
Mayang ist ein kleiner, in den Bergen gelegener Kreis mit nurmehr 100.000 Einwohnern, von denen Angehörige der Miao-Nationalität mit ca. 70% die Mehrheit ausmachen. Im Zuge der wirtschaftichen und kulturellen Verflechtung verschmelzen die Miao allerdings allmählich mit der Han-Nationalität. Überall wird Han-Chinesisch gesprochen, Sitten und Gebräuche sind weitgehend identisch, so dass man von den „reifen Miao“ spricht. „Wohnen am Berghang, mehrere Haushalte ergeben ein Dorf“ ist Tradition der Miao, ihre Dörfer liegen deshalb verstreut in abgelegenen, schwer zugänglichen Bergregionen. In den dortigen Miao-Dörfern ist ein Volksreim überliefert: „Schwierig sind der Berge Pfade, nirgends lauert mehr Gefahr, Schwesterchen zerreißt’ s den Rock, Brüderchen hat Loch im Schuh.“ Doch die Jinjiang Ebene des Kreises Mayang ist ein Verkehrsknotenpunkt der Hochebene von Guizhou nach Südchina mit relativ entwickeltem Handel. So wird sie seit eh und je „Tor nach und aus West-Hunan“ genannt. Die Großgemeinde Gaocun, die in der Kurve des Jinjiang-Flusses liegt, ist ein alter Handelsort. In der Zeit der Song-Dynastie [Anm. d. Ü.: 10.–13. Jh. n. Chr.] trug sie den Namen „Stadt Fuzhou“, heute ist sie Sitz der Kreisregierung von Mayang. Der Fluss durchquert den Ort, die Bewohner zu beiden Ufern verkehren im Allgemeinen per Fähre miteinander. Am Oberlauf der Malan Sandinsel liegt der betriebsame Manshui-Fährübergang. Der scheint sehr davon zu profitieren, dass im Dorf Manshui der Drachenkönig-Tempel steht – auch Panhu-Tempel genannt, der die Panhu-Kultur der Miao repräsentiert [Anm. d. Ü.: mythischer Hundeahn, -stammvater], und in dem die Räucherstäbchen ewig brennen. Die Straßen von Gaocun sind schachbrettartig angelegt und gesäumt von Läden. Sie hat das Flair einer umtriebigen Grenzstadt, und so kommen auch manche Leute aus Guizhou hierher, um Handel zu treiben oder sich als Arbeiter zu verdingen.
Am frühen Morgen des 27. April 1987 entdeckte ein in der Kreisstadt Mayang wohnender alter Mann beim Frühsport einen nahe der Malan-Sandinsel im Fluss treibenden Gewebesack aus Kunststoff. Er zog ihn ans Ufer und öffnete ihn – drinnen war ein menschliches Bein! Umgehend verständigte er die Polizei. Zuerst trafen Polizisten des Reviers ein, dann Tatortbeamte der Kriminalpolizei der Kreisstadt. Bei der Tatortarbeit und weiterer Suche stießen sie auf sechs Leichenteile – Schädel, Rumpf, Arme, Beine. Der Gerichtsmediziner urteilte, dass es sich bei der toten Person um eine junge Frau handele.
Die Nachricht über diesen sensationellen Mordfall mit einer zerstückelten Leiche in dem kleinen Mayang schreckte nicht nur die einheimische Bevölkerung auf, sondern auch die lokale Führung. Er ereignete sich just in einer speziellen Phase der Entwicklung der Strafjustiz in Festland-China. Die wirtschaftliche Entwicklung im Zuge der Reform- und Öffnungspolitik der Zentralregierung brachte so manche soziale Probleme mit sich, in vielen Regionen stieg die Kriminalitätsrate rapide an. Am 25. August 1983 erließ das Politbüro des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas den „Beschluss zur entschlossenen Bekämpfung von Straftaten“ und forderte von den Behörden für Politik und Recht im ganzen Land, „hart, schnell und entschlossen kriminalistische Aktivitäten zu bekämpfen“. Am 2. September verabschiedete der Ständige Ausschuss des Nationalen Volkskongresses den „Beschluss zur harten Bestrafung von Kriminellen, die die soziale Ordnung schwerwiegend gefährden“ und den „Beschluss zum Prozedere eines schnellen Gerichtsverfahrens für Kriminelle, die die soziale Ordnung schwerwiegend gefährden“. Ersterer bestimmte, dass bei Straftaten, die die soziale Ordnung schwerwiegend gefährdeten, höhere Strafen als die im „Strafgesetz“ festgelegten Höchststrafen bis hin zur Todesstrafe verhängt werden konnten1. Der andere Beschluss legte fest, dass bei schweren Straftaten die Gerichtsverhandlungen rasch und umgehend zu erfolgen hatten, und die Berufungsfrist wurde von den im „Strafprozessgesetz“ festgelegten 10 Tagen auf 3 Tage verkürzt. Diese Beschlüsse bildeten den Auftakt für die kampagnenartige Rechtsdurchsetzung „hart zuschlagen“. Vor diesem politischen Hintergrund widmete die Leitung der übergeordneten Behörde für Öffentliche Sicherheit dem widrigen und schweren Fall in Mayang größte Aufmerksamkeit und ordnete an, dass das Amt für Öffentliche Sicherheit des Kreises Mayang ihn innerhalb eines Monats aufzuklären habe. Dieses setzte daraufhin die Sonderermittlungsgruppe „27. April – Mord mit zerstückelter Leiche“ ein. Kommandoführer war der Leiter des Amts, die Kriminalpolizei, assistiert von der Polizeistation, war für die Durchführung zuständig, und mit großem Aufwand begann die Fahndung nach dem Mörder.
Durch Analyse und Diskussion gelangte die Sonderermittlungsgruppe zu der Ansicht, dass die Wahrscheinlichkeit eines „Liebesmordes“ relativ groß, die eines „Rachemordes“ oder „Mordes aus Geldgründen“ eher gering war. Und so setzten die Ermittlungen hauptsächlich an zwei Punkten an: zum einen führten die Ermittler der Polizeistation Untersuchungen und Besuche in der Kreisstadt und Umgebung durch, um Hinweise auf Verdächtige, die möglicherweise mit dem Mord in Zusammenhang standen, insbesondere Personen, die „illegale sexuelle Beziehungen“ unterhielten, zu finden. Zum anderen holten sie unter Einschaltung aller Reviere sowie der Dorf- und Gemeinderegierungen Informationen über Vermisste ein, um die Identität der Toten festzustellen.
Weil das Amt für Öffentliche Sicherheit des gesamten Kreises Mayang damals nur über zwei Jeeps verfügte, konnten die Ermittlungsbeamten Untersuchungen und Besuche nur mit dem Fahrrad oder öffentlichen Verkehrsmitteln durchführen. Nach einer Woche waren die Ermittlungen nur schleppend voran gekommen, doch es gab erste Resultate. Von Wang Mingzheng und anderen Fährleuten am Manshui-Fährübergang erfuhren die Ermittler, dass sie auf dem Wasser treibende Leichenteile gesehen hatten. Ihre Suche am Flusslauf weiter oberhalb konnte die Herkunft dieser Leichenteile jedoch nicht klären. Ein Bewohner des Dorfs Malan auf der Südseite des Jinjiang berichtete, er habe eines Nachts eine Frau auf der Malan-Sandbank furchtbar schreien und um Hilfe rufen hören. Die Ermittler führten Untersuchungen vor Ort durch, aber da es kurz zuvor stark geregnet hatte, konnten keine verdächtigen Spuren gefunden werden. Anzeigen aus der Bevölkerung folgend machten die Ermittlungsbeamten Personen ausfindig, denen ein „promiskuitives Sexualleben“ nachgesagt wurde, aber die Frauen waren unversehrt und hatten mit dem Fall offensichtlich nichts zu tun. Dafür entdeckten sie unter all den eingegangenen Vermisstenmeldungen zwei interessante Objekte: eines war eine Jugendliche aus der Gegend, Zhan Jinlian, das andere eine zugezogene junge Frau, „Sechste Schwester Yang“.
Zhan Jinlian stammte aus Gaocun, ihre Familie wohnte auf der Südseite des Flusses, nicht weit entfernt von der Malan-Sandinsel. Ihre Mutter Tang Fengying hatte der Polizei gemeldet, dass ihre Tochter eine Beziehung mit einem Mann begonnen hatte und dann verschwunden war, bereits vor über einem Monat. Die ganze Zeit hatte sie Angst, dass ihre Tochter umgebracht worden sein könnte. Nachdem sie eines Tages einen Typen von der Fähre sagen gehört hatte, dass im Fluss eine Frauenleiche mit zerteiltem Kopf getrieben habe – ein entsetzlicher Anblick! – , war sie zum Amt für Öffentliche Sicherheit gelaufen, um sich weiter zu erkundigen, denn sie war sicher, dass es die Leiche ihrer Tochter war. Recherchen bestätigten, dass Zhan Jinlian vermisst wurde, äußere Merkmale von ihr hatten zudem Ähnlichkeit mit denen des Leichnams, und so wurde ein Gerichtsmediziner beauftragt, ein Blutgruppengutachten durchzuführen. Die Tote hatte A, Zhan Jinlian jedoch 0, und so konnte ausgeschlossen werden, dass es sich bei der Toten um Zhan Jinlian handelte.
Sechste Schwester Yang gehörte zum Servicepersonal des „Gasthaus am Platz“ in der Kreisstadt. Zwei Ermittlungsbeamte suchten den Manager des Gasthauses, Liu Kuoyuan, auf, der bei der Polizei Meldung gemacht hatte. Dieser Manager Liu war über 30, gewandt in Rede und Auftreten. Die Ermittler erfuhren von ihm, dass Sechste Schwester Yang aus dem südwestlich von Mayang gelegenen Kreis Songtao in der Provinz Guizhou stammte. In ihrer Familie waren sie zu sieben Schwestern, „Liu Mei“ – Sechste Schwester – war die Sechstgeborene. Bereits früh hatte sie die Heimat verlassen, um Arbeit zu suchen, weil die Familie Schwierigkeiten hatte, für den Lebensunterhalt aufzukommen. Auch ihre ältere Schwester, die Fünftgeborene, hatte im „Gasthaus am Platz“ im Service gearbeitet, im Oktober des vergangenen Jahres aber gekündigt und war nach Hause zurückgekehrt. Im Dezember des Vorjahres war Sechste Schwester Yang auf Vermittlung dieser Schwester alleine nach Mayang gekommen, hatte sich jedoch nur wenige Tage aufgehalten und war wieder nach Hause gefahren. Nach dem Frühlingsfest dieses Jahres war sie nach Mayang zurückgekehrt und hatte angefangen, im Gasthaus im Servicebereich zu arbeiten. Manager Liu sagte, er habe keine Ahnung, wie die Frau wirklich heiße. Damals wurden für die Landbevölkerung noch keine Personalausweise ausgestellt2; wenn Leute von außerhalb zum Arbeiten kamen, reichte die Angabe eines Namens aus. Die Fünfte Schwester hatte sich Yang Xiaoyan genannt, als sie im Gasthaus arbeitete; alle hatten sie mit „Kleine Yang“ angeredet. Nachdem die Sechste Schwester Yang gekommen war, nannten alle auch sie „Kleine Yang“ oder „Sechste Schwester“. Diese „Kleine Yang“ sah gut aus und war intelligent. Schon nach kurzer Zeit in Mayang kannte sie viele Leute und ging ab und zu abends mit Leuten aus. Vor ungefähr einem Monat war sie ohne Entschuldigung nicht zur Arbeit gekommen. Manager Liu hatte dem jedoch keine Beachtung geschenkt, denn es kommt oft vor, dass diese Arbeiterinnen aus der Provinz sagen, dass sie gehen wollen und wirklich sofort weg sind, daran ist nichts Überraschendes. Als er dann erfuhr, dass am Flussufer die Leiche einer jungen Frau entdeckt worden war, fand er, er dürfe die Sache mit der „Kleinen Yang“ nicht verheimlichen, und erstattete Meldung beim Amt für Öffentliche Sicherheit.
Der Beschreibung Manager Lius nach fanden die Ermittler, dass die äußeren Merkmale der „Kleinen Yang“ denen der Toten ähnelten. Das konnte jedoch nicht eindeutig bestätigt werden, weil der Leichnam nicht unversehrt, das Jochbein gebrochen war, das Gesicht schwere Verletzungen aufwies und auf den Leichenteilen keine besonderen Narben oder Leberflecken zu finden waren. Darüber hinaus waren die Leichenteile nicht bekleidet, es gab nur den in der Gegend gebräuchlichen Gewebesack aus Kunststoff, der nicht als Beweismittel zur Klärung der Identität der Toten herhalten konnte. Die Ermittler hatten bereits erfahren, dass die Tote die Blutgruppe A hatte, doch weil sie keine Blutproben oder Haare der „Kleinen Yang“ gefunden hatten, war ein Vergleich unmöglich.
In den Diskussionen über den Fall nahm der überwiegende Teil der Sondergruppe an, dass es sich bei der Toten um die „Kleine Yang“ handelte. Um bei der Identitätsfeststellung voran zu kommen, riefen Ermittler beim Amt für Öffentliche Sicherheit des Kreises Songtao in der Provinz Guizhou an und baten um Mithilfe bei der Suche nach einer „Yang Xiaoyan“ und einer „Sechsten Schwester Yang“. Zwei Tage später teilte die Polizei von Songtao mit: „Personen unbekannt“. Nachdem bereits Licht am Ende des Tunnels gesehen worden war, hätte keiner gedacht, dass diese mysteriöse „Kleine Yang“ wieder eine undeutliche Spur werden würde. Ermittler äußerten Zweifel: könnte dieser Manager Liu gelogen haben?
Im „Gasthaus am Platz“ und in der Umgebung befragten die Ermittlungsbeamten Mitarbeiter des Gasthauses und Anwohner. Sie fanden heraus, dass die „Kleine Yang“ mit vielen Leuten aus unterschiedlichen Kreisen verkehrt hatte – mit Männern und Frauen, Arbeitern und Geschäftsleuten. Manchmal sei sie abends noch mit Männern ausgegangen, vielleicht um „das zu tun“. Auch hatte die „Kleine Yang“ anderen Bediensteten gesagt, sie wolle nicht mehr im Gastbetrieb arbeiten, sie habe vor, zusammen mit anderen einen Arzneimittelhandel aufzuziehen. Die Ermittler erfuhren auch, dass Manager Liu die „Kleine Yang“ schon von früher kannte. Er war es gewesen, der die Fünfte Schwester Yang im vergangenen Jahr nach Hause begleitet hatte.
Auf der Polizeistation von Gaocun zogen die Ermittler Erkundigungen über Manager Liu ein. Sie erfuhren, dass er vor einem Jahr das „Gasthaus am Platz“ gepachtet hatte, ab und zu nebenher aber auch Arzneimittelhandel betrieb. Und einen weiteren Umstand erfuhren sie: die „Kleine Yang“ war bei der Polizei aktenkundig. Wegen einer von ihr angezettelten Schlägerei war sogar mal ein Mann aufs Revier gekommen, das dann extra einen Polizisten zu ihr geschickt hatte, um ihr nahezulegen, Mayang zu verlassen. Diese „Kleine Yang“ schien wirklich „einiges zu erzählen“ zu haben!
Die von oben angeordnete „Frist zur Aufklärung des Falls“ war verstrichen, doch noch immer zeichneten sich keine festen Konturen für eine Lösung ab. Weil die Leitung des Amts für Öffentliche Sicherheit von Mayang unter großem Druck stand, beschloss sie, die Kontakte dieser mysteriösen „Kleinen Yang“ in Mayang als Spur zu verfolgen und an der Ermittlungsrichtlinie „Kombination von Professionalität und Massenlinie“ festzuhalten: zum einen Mobilisierung der Bevölkerung, die Spuren von verdächtigen Personen oder Sachen liefern sollte, zum anderen Mobilisierung der Polizeikräfte, um erst der Sache auf den Grund zu gehen und dann Tatverdächtige ausfindig zu machen. Eine Zeit lang war ungefähr die Hälfte der dortigen Polizeikräfte in die Ermittlungen zu diesem Fall involviert.

II Der verdächtige Schweineschlachter

Einige Monate waren verstrichen, die Ermittlungen hatten gewisse Ergebnisse gebracht, doch ein substanzieller Durchbruch war nicht erzielt worden. Die Ermittler befragten erneut Manager Liu, der zugab, tatsächlich im vergangenen Jahr bei der „Kleinen Yang“ zu Hause gewesen zu sein. Damals hatte er in Songtao was zu erledigen gehabt und die Fünfte Schwester nach Hause begleitet, weil es auf dem Weg lag. Dort lernte er die Sechste Schwester kennen, die ihm sagte, auch sie wolle in Mayang arbeiten. Das lässt sich machen, war seine Antwort. Die Ermittler fanden Manager Liu seriös und freundlich im Umgang, er habe ein harmonisches Familienleben, kein Motiv für die Tat und auch nicht alleine mit der „Kleinen Yang“ verkehrt. Und so räumten die Ermittlungsbeamten den Verdacht ihm gegenüber aus.
Im Oktober 1987 machten die Ermittlungsbeamten unter der von Manager Liu angegebenen Adresse die Familie der „Kleinen Yang“ ausfindig. Tatsächlich stammte sie aus dem Kreis Songtao in der Provinz Guizhou, die Familie wohnte im Dorf Luping der Gemeinde Waxi. Sie wurde 1968 geboren, ihr richtiger Name lautete Yang Xiaorong. Für die Überprüfung ihrer Identität sicherten die Ermittler bei ihr zu Hause Proben von Kleidungsstücken und Haaren der „Kleinen Yang“, ebenso von Haaren ihrer Schwestern. Das gerichtsmedizinische Gutachten ergab, dass Yang Xiaorong die Blutgruppe A hatte, die gleiche wie die Tote. Das überzeugte die Sonderermittlungsgruppe noch stärker, dass die Tote Yang Xiaorong – die „Kleine Yang“ – sei. Bemühungen, anhand von Yang Xiaorongs Kontakten Verdächtige ausfindig zu machen, brachten jedoch keine Fortschritte. Manche Leute, mit denen sie verkehrt hatte, waren bereits vom Verdacht ausgeschlossen worden. Die Ermittlungen gerieten ins Stocken.
Das Niveau der Kriminalermittlungen in Festland-China war damals sehr niedrig, sowohl was Personal als auch Techniken betraf. In den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts waren Theorien zu Kriminalermittlungen und diesbezügliche Erfahrungen von der ehemaligen Sowjetunion übernommen worden. Doch während der rechtlosen Zeit der Kulturrevolution hatten unter der revolutionären Parole „Polizei, Staatsaanwaltschaft und Gerichte zerschlagen“ bei Kriminalermittlungen weder Rechtssystem noch Wissenschaft Geltung. Über allem stand die „Massenlinie“; nicht nur die „Diktatur der Massen“ war gefordert, sondern auch „Aufklärung von Straffällen durch die Massen“. So konnte bei Kriminalermittlungen weder Betonung auf Spezialisierung noch auf Wissenschaft und Technik gelegt werden. Manche lokale Sicherheitsbehörden kritisierten sogar öffentlich das „dreiköpfige Kommando“ – das „Kameraobjektiv-Kommando“, „Finger-Kommando“ und „hundsköpfige Kommando“. Polizeihunde waren nicht mehr gefragt, Fingerabdrücke interessierten nicht, und Fotografieren am Tatort wurde aufgegeben. War eine Tat passiert, mobilisierten die Ermittler die Massen; in den Städten stützten sie sich auf die Anwohnerkomitees, auf dem Land auf die Produktionsbrigaden. Weil die Kriminalitätsrate damals niedrig war und das einfache Volk sich sehr aktiv an der Aufklärung von Strafsachen beteiligte, wurden mit dieser Ermittlungsmethode tatsächlich viele Kriminalfälle gelöst.
Diese Verhältnisse hielten nach dem Ende der „Großen Kulturrevolution“ noch eine Weile an. In den „Detailbestimmungen zu Kriminalermittlungen“ des Ministeriums für Öffentliche Sicherheit aus dem Jahr 1978 war klar festgelegt, dass für Kriminalermittlungen die Richtlinie „sich auf die Massen stützen, die Chance zum Kampf ergreifen, aktiv Ermittlungen anstellen, den Fall umgehend aufklären“ gelte. Auch im 1979 verabschiedeten „Strafprozessgesetz“ hieß es noch klar, dass die Ermittlungsbehörden und Gerichte sich „bei der Durchführung von Strafverfahren auf die Massen stützen“ müssten. Seit der Reform- und Öffnungspolitik ab den 80er Jahren durchlief die Gesellschaft Festland-Chinas jedoch große Veränderungen. Zum einen sanken das moralische Niveau der Bürger und die öffentliche Glaubwürdigkeit der Regierung gleichermaßen ab. Die Bevölkerung war nicht willens, die „Regierung“ bei der Aufklärung von Kriminalfällen zu unterstützen, Mitwisser waren nicht bereit, den „Offiziellen“ Spuren zu liefern. Zum anderen wurde im Zuge der gesellschaftlichen Entwicklung und des technischen Fortschritts auch bei der Ausübung von Straftaten stetig „Neues aus Altem entwickelt“, ihre Methoden wurden immer ausgefeilter. Angesichts dieser Veränderungen waren die herkömmlichen Ermittlungsmethoden der Sicherheitsbehörden nicht mehr auf der Höhe der Zeit. Die Parole von der „Massenlinie“ wurde aufgegeben, Slogans wie „Kombination von Professionalität und Massenlinie“, „Behandlung von Fällen auf der Grundlage des Rechts“, „wissenschaftliche Beh...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Vorwort
  5. Inhalt
  6. Einleitung
  7. Kapitel 1 : Schlampig verhängte Todesstrafe – der Justizskandal Teng Xingshan
  8. Kapitel 2 : Zweifelhafte Nachweise – der Justizskandal She Xianglin
  9. Kapitel 3 : Empirische Studien über Fehlurteile in Strafsachen
  10. Kapitel 4 : Empirische Studien über Pro Formas in Strafverhandlungen
  11. Kapitel 5 : Zehn große Fehlerbereiche in der Strafjustiz
  12. Kapitel 6 : Beweisstandards für die Feststellung von Fehlurteilen