§ 1Gestalt des Lebens zu verstehen ist. Was ist mit
Eine für die Deutung des Bildes wegweisende Rolle kommt der Frage zu, was unter der genannten „Gestalt des Lebens“ zu verstehen ist. Was ist mit dem gemeint, wovon Hegel sagt, dass „eine Gestalt des Lebens alt geworden ist“, die sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen lässt? So viel über das Bild geschrieben worden ist, so selten ist erörtert worden, was es mit dieser Gestalt des Lebens auf sich hat. Kommentare der Grundlinien der Philosophie des Rechts kommen mitunter ohne eine Erklärung des Bildes der Eule der Minerva aus, geschweige denn dessen, was die dort vorausgesetzte Gestalt des Lebens ist.30 Wenn der Schein nicht trügt, misst vor allem die englischsprachige Literatur dem Bild besondere Bedeutung bei,31 während es hierzulande vorzugsweise im übertragenden Sinne und in anderem Zusammenhang verdeutlichend zitiert wird.32 Dabei ist gerade die möglichst genaue Aufschlüsselung des Bildes und seines Sinnzusammenhanges von Bedeutung. Der poetische Glanz entbindet nicht von der Aufgabe der Auslegung der einzelnen Teile des Bildes im Hinblick auf das Ganze, wie auch Shlomo Avineri verdeutlicht hat, wenn er ein besonders vorsichtiges und sorgsames Lesen dieses Bildes für erforderlich hält: „one of the most poetic, and now justly famous, passages ever to have been written by a philosopher. It requires very careful reading“.33
Dieser Verantwortung kann man auch nur ansatzweise gerecht werden, wenn man sich vergegenwärtigt, was es überhaupt mit der darin angesprochenen Gestalt des Lebens auf sich haben könnte. In seiner Vielschichtigkeit nicht vollständig zu erörtern ist bereits der bei Hegel an entscheidenden Stellen begegnende Begriff der Gestalt,34 worauf hier nur kursorisch verwiesen werden kann.35 Beispielhaft für die Komplexität des Gestaltbegriffs ist etwa jener Paragraph der Encyclopädie, welcher der „Gestalt der Schönheit“ gewidmet ist.36 Dort begegnet der Begriff der Gestalt mehrfach und mit nicht immer zweifelsfreiem Bezugspunkt, der Michael Theunissen zu der auch für den vorliegenden Zusammenhang weiterführenden These veranlasst hat, dass die Totalität einen gemeinsamen Zug der Gestalt darstellt und so „letztlich alle im Text aufgeführten Gestalten nur Spiegelbilder der ungenannten Gestalt des absoluten Geistes sind.“37 In diesem Sinne könnte auch die Gestalt des Lebens Abbild der Gestalt des absoluten Geistes sein.38 Bevor dieser Hypothese nachgegangen wird,39 soll aber zunächst der zweite Teil des Bildes klärend herangezogen werden.
IDie Farbe der Philosophie
Da die Gestalt des Lebens mit dem vorangehenden Bild des „Grau in Grau“ im Sinne einer scheinbaren „Wenn-dann-Implikation“ verbunden ist („Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann …“), die freilich nicht konditionaler, sondern temporaler Natur ist, empfiehlt es sich zunächst, die angesprochene Farbe der Philosophie in den Blick zu nehmen. Denn es ist nicht zuletzt die poetische Umstellung, welche die Deutung erschwert. Immerhin erscheint es zunächst sinnvoll, das Bild aufzuschlüsseln, um das Nacheinander zu betonen, das in der von Hegel gewählten Anordnung eher konditional klingt: ,Wenn eine Gestalt des Lebens alt geworden ist, dann malt die Philosophie ihr Grau in Grau.‘ Hegels Verschränkung hebt dieses klare Nacheinander zwar auf, entwickelt dadurch aber zugleich einen neuen Bedeutungszusammenhang, der die Gestalt des Lebens bewusst in den Mittelpunkt rückt.
Trist und lebensfremd erscheint die Farbe, in der die Philosophie malt: grau in grau, und damit einerseits der Dämmerung entsprechend, andererseits nach Goethes Mephisto,40 den Hegel in seiner Vorrede in anderem Zusammenhang ausdrücklich zitiert,41 der Inbegriff der Theorie im Gegensatz zum Leben.42 Wenn man das Mephisto-Wort zu Ende denkt („und grün des Lebens goldner Baum“), entsteht ein eigentümliches Spannungsverhältnis, das die Gestalt des Lebens noch rätselhafter erscheinen lässt. Auch die so genannte „Lebensphilosophie“ äußert sich zur „Gestalt des Lebens“, freilich ohne ausdrücklichen Bezug auf die HegelStelle, eher undeutlich43 und bestätigt Adornos Skepsis gegenüber „jenem lebensphilosophischen Fließen, zu welchem etwa die Diltheysche Methode ihn (sc. Hegel) aufweicht.“44 Der Bezug zum Bild der Eule der Minerva scheint immerhin dort auf, wo in Anlehnung an den vorgeblich konservativen oder gar reaktionären Grundzug der Vorrede der Grundlinien die regressive Tendenz reiner Theorie beschworen wird.45
1Die Eule der Minerva als Bild des „Nach-denkens“
Hegel selbst hat an anderer Stelle diese Farblosigkeit aufgegriffen: „Die Philosophie fängt an mit dem Untergange einer reellen Welt; wenn sie auftritt (…), Grau in Grau malend, so ist die Frische der Jugend, der Lebendigkeit schon fort; und es ist ihre Versöhnung eine Versöhnung nicht in der Wirklichkeit, sondern in der ideellen Welt.“i46 Vittorio Hösle versteht „das Grau in Grau der Theorien“ als „ein Höheres als die bunte Fülle der Natur, die nicht um sich selbst weiß.“47 Eine andere Deutung meint, dass „sie die Gestalten des Lebens in denselben farblosen Farben des Grau in Grau malt, die die Welt im Prozess ihrer Alterung angenommen hat.“48
Entsprechend der weithin anerkannten Deutung des Bildes kann die Geschichte erst im Nachhinein,49 ausschließlich retrospektiv,50 also im Wortsinne am Ende des Tages, gleichsam in der Abenddämmerung, begriffen werden.51 Eine modifizierende Sicht, welche die Selbstbeschränkung des Bildes betont und „den Anteil des Philosophen an der politischen Welt zu einem Post-festum“ macht, geht nach Ernst Blochs Oxymoron einher „mit einer Art ruhmrediger Bescheidenheit“.52 Ein Teil der rechtsphilosophischen Forschung53 gibt unter Hinweis auf eine spätere Stelle der Grundlinien54 zu bedenken, dass „die Philosophie der realen Entwicklung auch einmal vorangehen und eine verjüngte Gestalt der Welt verkünden kann.“55
Es ist interessant, dass ein nicht deutschsprachiger Autor in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam gemacht hat, wie die zeitlich nachgeordnete und rückschauende Bestimmung der Philosophie im Deutschen sprachlich zum Ausdruck kommt: „This ist the meaning of philosophy as Nach-denken, afterthought.“56 Wenn man dieses Nach-denken mit dem Grau in Grau zusammen bringt, so gelangt man zu einer reflektierenden Abschattierung dessen, was gewesen ist. Das entspricht der an Heidegger erinnernden Interpretation Ernst Blochs, wonach „Wesen Gewesenheit“ ist:57 „Dieser Bann reicht noch bis Hegel, ja kulminiert in ihm, wenigstens in seiner abenddämmerigen Minerva, in der Zuordnung des Wissens einzig zur Gewordenheit des Inhalts.“ Entsprechend dem Titel seiner Abhandlung erblickt er darin die „Ablehnung des noch offenen Noch-Nicht.“58
2Poetische Kraft des Bildes
Immer wieder ist im Zusammenhang mit dem Bild der Eule der Minerva bemerkt worden, dass es „fast poetisch“ sei,59 ja dass es – wiederum, wenngleich in anderem Zusammenhang, mit den Worten Ernst Blochs – „eines der ganz großen der Literatur ist, eines, das Shakespeare würdig wäre.“60 Man deutete es als „Erklärung für den Vorrang der historischen, der aufarbeitenden Literatur.“61 Im Schrifttum ist es Hölderlins Gedichten an die Seite gestellt worden.62 In der Tat verwundert es, dass Hegel die Eule als Symbol der Wahrheit und Minerva als Göttin der Weisheit in dieser Weise verbindet und die Philosophie damit metaphorisch umschreibt. In seinen Vorlesungen zur Naturphilosophie verweist Hegel auf den mythischen Ursprung, woran vor allem der Bezug zum Lebendigen aufschlussreich ist, der bereits in der Critik des Fichteschen Naturrechts aufleuchtet („Aber die Gerechtigkeit muss selbst ein Lebendiges sein und die Person achten“)63und auch in der Gestalt des Lebens Anklang findet:64 „Wenn man auch geschichtlich sagen will, es ist ein Zustand der Erde gewesen, wo noch kein Lebendiges vorhanden war, so ist doch das Lebendige, wie es hervortritt, unmittelbar ein Bestimmtes; wie die Minerva fertig aus Jupiters Haupt gesprungen ist, so springt das Lebendige in das Dasein als ein Ganzes, Vollständiges, eben weil es Subjekt ist.“65 Interessanterweise wählt Hegel statt des griechischen Namens Athene den lateinischen Minerva, ebenso wie Hölderlin im Hyperion: „Die Dichtung, sagt‘ ich, meiner Sache gewiss, ist der Anfang und das Ende dieser Wissenschaft (sc. der Philosophie). Wie Minerva aus Jupiters Haupt, entspringt sie aus der Dichtung eines unendlichen göttlichen Seyns.“66
a)Flug der Eule und „Eulenflucht“
Einiges spricht dafür, dass Hegels Bild seinerseits auch die Dichtung beeinflusst hat.67 In Paul Celans Gedicht „Engführung“ heißt es:68 „In der Eulenflucht, beim versteinerten Aussatz“. Das eigentümliche Wort „Eulenflucht“ wird in der CelanForschung mit Hegels Wort von der Eule der Minerva in Verbindung gebracht, die ihren Flug in der Dämmerung beginnt. „Eulenflucht“ zieht demnach „Eule“ und „Flug“ poetisch verfremdend zusammen.69 Sogar das folgende „Ho, ho-/sianna“ wird als Anspielung auf den Laut der Eule verstanden und für diese Deutung fruchtbar gemacht.70 Im Sinne dieser Interpretation lässt sich noch ein weiteres wichtiges Wort des Gedichts ins Feld führen, in dem es sogar in auffallendem Zusammenhang mit der eben behandelten Wortschöpfung Celans heißt:71 „In der Eulenflucht, hier die Gespräche, taggrau, der Grundwasserspuren.“72 In einem a...