1 Die „Wochenendkrise“ vom Mai 1938 – „Fußnote der Geschichte“ oder Vorentscheidung für den Krieg?
In seiner Todeszelle erinnerte sich Carl Friedrich Goerdeler im Herbst 1944 an eine Szene, die sich im Mai 1938 in der Reichskanzlei abgespielt hatte. Goerdeler, der frühere Oberbürgermeister von Leipzig und Reichskommissar für Preisüberwachung, hatte bis ins Frühjahr 1938 hinein für Hitler Reiseberichte und Denkschriften verfasst. Als er Ende Mai 1938 mit einem neuen Bericht auf der Reichskanzlei erschien, erlebte er eine Überraschung:
Sein [Hitlers] Adjutant, Hauptmann Wiedemann, sagte mir, er würde meinen Bericht nicht übergeben, das würde ihn und mir den Kopf kosten. Auf meine Frage nach dem Grunde, erwiderte er, ,weil die Kriege eine beschlossene Sache sind.‘ Ich fragte, ,welche Kriege‘, Antwort: ,Die, die zur Herstellung eines Großdeutschen Weltreiches erforderlich sind.‘ Auf meine Frage, wie dies aussehen solle, war die Antwort ,Großdeutschland, Polen, Baltikum, Holland, Elsass-Lothringen, Luxemburg, flämischen Teil von Belgien, Skandinavische Staaten.‘ Auf meine erregte Entgegnung ,das ist Weltkrieg‘, war die Antwort, ,jawohl, das ist Weltkrieg‘, auf meinen Ruf, ,das ist Katastrophe‘, die Antwort, ,jawohl, das ist Katastrophe, aber daran ist nichts mehr zu ändern, Ribbentrop hat gesiegt, es ist ihm gelungen, dem Führer die Meinung beizubringen, England sei dekadent, würde keinen Krieg mehr erklären, jedenfalls in keinem mehr kämpfen, es sei am Ende seines politischen Wollens.‘ Wiedemann und ich waren uns über das Verhängnis dieses Irrtums klar und trennten uns bewegt. (…) Ich unterrichtete Beck. Er nahm im Herbst seinen Abschied.
Für den Generalstabschef des Heeres, General Ludwig Beck, waren diese brisanten Mitteilungen Goerdelers im Frühjahr 1938 keine Neuigkeit. Wie Fritz Wiedemann, Hitlers Vorgesetzter aus dem Weltkrieg, war Beck am 28. Mai 1938 Augenzeuge einer denkwürdigen Sitzung gewesen. Im Wintergarten der Alten Reichskanzlei hatte Hitler an jenem Samstagnachmittag die Spitzenfunktionäre des Reiches einbestellt, um ihnen auf dem Hintergrund der gerade abgeklungenen „Wochenendkrise“ vom 21./22. Mai seine jüngsten Entschlüsse zu präsentieren. In einer zweistündigen Ansprache erklärte Hitler nicht nur seinen „unerschütterliche[n] Wille[n], dass die Tschechoslowakei von der Landkarte verschwindet“, sondern umriss auch seine Absicht, in den kommenden Jahren einen Krieg im Westen zu führen:
Deutschland braucht Raum: a) in Europa, b) in Kolonien. Unsere Generation muss Aufgabe lösen. Gegner Deutschlands: 1) Frankreich (…). 2) England (…). 3) Tschechei (…). Tschechei stets unser gefährlichster Feind in einem Westfall. Sie steht einem sicheren Erfolg im Westen entgegen. Heute ist Ziel eines Westkrieges (Frankreich und England) Erweiterung unserer Küstenbasis (Belgien, Holland). Gefahr einer belgischen und tschechischen Neutralität. Daher Tschechei beseitigen.
Im Anschluss an seinen Monolog sprach Hitler an die Adresse der Militärs gerichtet:
Wenn erst die tschechische Frage gelöst ist, gebe ich Ihnen vier Jahre Zeit zur Vorbereitung auf die Abrechnung mit den Westmächten.
Hitlers Ankündigungen vom 28. Mai 1938 blieben keine leeren Worte. Fieberhaft wurden in den folgenden Wochen und Monaten die Vorbereitungen für einen blitzartigen Überfall auf die Tschechoslowakei getroffen, die nach Hitlers Zeitplan, den er im Nachgang der „Wochenendkrise“ aufgestellt hatte, noch im Herbst 1938 überrannt werden sollte. Hierfür ordnete der Diktator Ende Mai neben der Ausarbeitung des Angriffsplans und einer Forcierung der Rüstungsanstrengungen vor allem den unverzüglichen Ausbau der deutschen Landesbefestigungen an der französischen Grenze zum „Westwall“ an.
Auch wenn Hitlers kriegerische Absichten 1938 beinahe in letzter Minute noch einmal vertagt wurden, und er sich Ende September im „Münchener Abkommen“ mit der international sanktionierten Abtretung des Sudetenlandes zufrieden geben musste, so bedeutete dies keineswegs, dass damit die Voraussetzungen seines Kriegsplans von Ende Mai entfallen waren. Ganz im Gegenteil wurden schon wenige Tage nach „München“ die vorrangig gegen Großbritannien gerichteten Ausbaupläne für Kriegsmarine und Luftwaffe, die ihren Ursprung in der „Maikrise“ hatten, vorangetrieben und nochmals erweitert. Denn, auch für den von Hitler am 28. Mai anvisierten Krieg gegen die Westmächte Anfang der 1940er Jahre waren unmittelbar nach der „Wochenendkrise“ in Marine und Luftwaffe konkrete Maßnahmen eingeleitet worden.
Während diese Weichenstellungen Hitlers von Ende Mai 1938 in der zeitgeschichtlichen Forschung thematisiert wurden – vor allem angesichts der im Vergleich zu Hitlers „programmatischen“ Äußerungen der 1920er Jahre „verkehrten“ Frontstellung gegen England –, ergibt sich ein differenzierteres Bild, was die Erforschung der „Maikrise“ an sich betrifft: Zwar wurde die „Wochenendkrise“ bisher in fast allen Arbeiten zur Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges mehr oder minder erwähnt, nahm aber meist den Stellenwert einer „Fußnote der Geschichte“ ein. Allerdings sind viele Zusammenhänge des Krisenwochenendes nach wie vor unklar, so etwa die Frage nach den auslösenden Momenten, dem genauen Ablauf der sich überstürzenden Ereignisse sowie den Motivlagen der beteiligten Mächte. Vor allem die mysteriösen Hintergründe und Ursachen trugen dazu bei, dass die „Wochenendkrise“ eines der letzten großen Rätsel der Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges blieb.
1.1 Die „Wochenendkrise“ bzw. „Maikrise“ – ein bislang ungelöstes Rätsel
Am Freitag, 20. Mai 1938, verfertigte General Wilhelm Keitel, Chef des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW), in Berlin den von Hitler angeforderten „Entwurf für die neue Weisung ,Grün‘. (Übergang)“, der die deutsche Angriffsplanung gegen die Tschechoslowakei zum Inhalt hatte. Der erste Satz lautete dort gemäß Hitlers geheimen Vorgaben vom 20./21. April 1938:
Es liegt nicht in meiner Absicht, die Tschechoslowakei ohne Herausforderung schon in nächster Zeit durch eine militärische Aktion zu zerschlagen, es sei denn, dass eine unabwendbare Entwicklung der politischen Verhältnisse innerhalb der Tschechoslowakei dazu zwingt, oder die politischen Ereignisse in Europa eine besonders günstige und vielleicht nie wiederkehrende Gelegenheit dazu schaffen.
Als dieser Entwurf am Samstag, 21. Mai 1938, dem Tag vor den in der Tschechoslowakei angesetzten Gemeindewahlen, per Kurier auf dem Obersalzberg zugestellt wurde, hatten sich die politischen Ereignisse bereits überschlagen. Die Tschechoslowakei hatte am Abend des 20. Mai wegen angeblicher deutscher Truppenkonzentrationen eine Teilmobilmachung ihrer Streitkräfte verfügt und noch in der Nacht die Grenzstellungen besetzt. In den Hauptstädten Europas hatten Politiker, Diplomaten und Journalisten den Eindruck, als stünde der Kontinent an diesem dritten Maiwochenende des Jahres 1938 so nah am Abgrund eines großen Krieges wie seit dem Juli 1914 nicht mehr. Hektische diplomatische Aktivitäten hielten die europäischen Kabinette in Atem. Allein der britische Botschafter in Berlin, Sir Nevile Henderson, wurde während des Krisenwochenendes insgesamt fünf Mal im Auswärtigen Amt vorstellig, um den anscheinend unmittelbar bevorstehenden Krieg in letzter Minute zu verhindern. Die befürchtete deutsche Aktion blieb aus. Die Lage entspannte sich so plötzlich, wie die Krise begonnen hatte.
Allerdings hatte die „Maikrise“ ein Nachspiel: Sie wurde in der internationalen Presse als diplomatischer Sieg Großbritanniens und als politische „Schlappe“ Hitlers bejubelt; ein deutscher Überfall auf die Tschechoslowakei sei im letzten Moment durch die Interventionsfront der Westmächte – insbesondere durch die überraschend klare Positionierung Londons – und die Prager Mobilmachung verhindert worden. Bereits am Mittwoch, 25. Mai 1938, schätzte man in Hintergrundgesprächen im Umfeld der Reichspressekonferenz das politische Ergebnis der eben erst abgeklungenen Krise als für die Reichsregierung überaus negativ ein:
Zur tschechischen Lage. Es kann nicht bestritten werden, dass nicht nur in England und Frankreich, sondern auch in zahlreichen politischen Kreisen Deutschlands selbst, die Auffassung besteht, Deutschland habe in den letzten Tagen seine erste große politische Niederlage seit der nationalsozialistischen Revolution erlebt.
Die NS-Propaganda glaubte in einem Aufschrei der Entrüstung eine groß angelegte Verschwörung gegen das Dritte Reich erkannt zu haben und sprach von der „politischen Großlüge vom 21. Mai“. Als Drahtzieher verdächtigt wurde neben Staatspräsident Edvard Beneš das „internationale Judentum, das nach dem 21. Mai 1938 sein Spiel bereits gewonnen glaubte“, nachdem „eine bestellte jüdische Pressehetze in der ganzen Welt gegen Deutschland entfesselt“ worden sei; vermutet wurde hinter dieser „Geschichte einer weltpolitischen Intrige“ auch eine „Giftmischerei des englischen Geheimdienstes“. Selbst ein Berufsdiplomat wie der neue deutsche Botschafter in London, Herbert von Dirksen, mühte sich im Jargon der Zeit, die vermeintlichen Urheber der „Maikrise“ zu lokalisieren:
Die drei Kräftezentren, die den Krieg einer Weltkoalition gegen Deutschland entfesseln wollen, um es zu zerstören, bevor es seine Weltstellung fertig ausgebaut hat – Judentum, Kommunistische Internationale, nationalistische Gruppen in den einzelnen Ländern – sind seit langem nicht so folgerichtig und fieberhaft tätig gewesen, wie in den letzten Monaten. Nach vergeblichen Versuchen (…) wurde durch die Inszenierung der tschechischen Wochenendkrise von denselben Kräften erneut der Versuch unternommen, eine Weltkoalition gegen Deutschland loszulassen.
Hitler selbst reagierte auf die Ereignisse der „Wochenendkrise“ in ganz charakteristischer Weise. Nach seiner Rückkehr nach Berlin erließ er am 30. Mai 1938, zwei Tage nach seiner Ansprache vor der Reichsführung, die neue Weisung „Grün“, die nun auch an die Oberbefehlshaber der Wehrmachtteile ausgegeben werden sollte und mit den berüchtigten Worten begann:
Es ist mein unabänderlicher Entschluss, die Tschechoslowakei in absehbarer Zeit durch eine militärische Aktion zu zerschlagen. Den politisch und militärisch geeigneten Zeitpunkt abzuwarten oder herbeizuführen ist Sache der politischen Führung.
Im von Keitel unterzeichneten Mantelschreiben hieß es nach Hitlers Vorgabe lakonisch: Die „Ausführung muss spätestens ab 1. 10. 38 sichergestellt sein.“
Diese Eskalation hinter den Kulissen der Reichskanzlei blieb den in Berlin angesiedelten ausländischen Beobachtern im Frühsommer 1938 noch einige Zeit lang verborgen. Bei aller Spekulation über die Hintergründe der „Maikrise“, die sich zumeist in der Frage nach Ursprung und Substanz der Gerüchte über deutsche Truppenkonzentrationen erschöpfte, war man im diplomatischen Korps in der Reichshauptstadt unmittelbar nach der Krise ganz überwiegend der Meinung, dass es sich diesmal um einen Fehlalarm gehandelt hatte. Allen voran war Botschafter Henderson als einer der Protagonisten jenes Krisenwochenendes überzeugt, dass die Hauptverantwortung für die „Wochenendkrise“ auf tschechischer Seite zu suchen sei. Noch Ende Oktober 1938 war sich der britische Militärattaché in Deutschland, Colonel Frank Mason-MacFarlane, unter ausdrücklicher Zustimmung des britischen Geschäftsträgers, Sir George Ogilvie-Forbes, in seinem abschließenden Bericht über die militärischen Maßnahmen des Reiches während der Sudetenkrise sicher, dass im Mai keine konkreten Angriffsabsichten bestanden hatten:
It is uncertain whether Herr Hitler decided before the end of May to risk going to war for the sake of acquiring Sudetenland from the Czechs. It is more than possible that up to that time he wo...